Aber wie kann ich bey so herrlichen Vorrechten und Hofnungen, deren ich durch das Kreuz Jesu theilhaf- tig werde, dennoch so gleichgültig, und so fühllos blei- ben, als ich zu seyn pflege, wenn ich den gekreuzigten Je- sum betrachte? Ach, meine Liebe ist noch viel zu kalt, und der Eifer in der Gottseligkeit viel zu schwach, wenn ich da- gegen die brünstige Liebe meines Jesu betrachte. Liebte ich den gekreuzigten Jesum von ganzer Seele: so würde ich mich dadurch gewinnen lassen, den Dienst der Sünde und der Welt aufzugeben, und meinem Heiland eine ewige Treue zu schwören. Wäre mir das Kreuz Jesu über al- les theuer: so würde ich nicht in vergänglichen Dingen mei- ne Glückseligkeit und Freude suchen. Würde ich durch die Betrachtung des gekreuzigten Jesu lebendig gerühret: so würde ich den lebendigsten Abscheu gegen alle Sünden in meinem Herzen fühlen und mich hüten, meine Seele mit neuen Missethaten zu beflecken. Wäre es mir einzig um die Rettung meines unsterblichen Geistes zu thun: so könnte ich nicht fortfahren, die Vergnügung des Fleisches als mein höchstes Gut anzusehen. Hätte das Kreuz Jesu mehr Gewalt über mein Herz: so würde ich in Ansehung Gottes und seines Dienstes, in Ansehung Christi und sei- ner Nachfolge, in Ansehung meines Nächsten und mei- ner selbst, ganz anders gesinnet seyn, als ich bisher ge- wesen bin.
Dies alles erkennet meine Seele. Und jetzt, da ich in meiner Einsamkeit deinem Kreuzestode nachdenke, wird meine Fühllosigkeit und meine Verschuldung an deinem Kreuze mir recht lebendig. Wenn ich mich aber recht kenne, so fühle ich in meiner Seele das heftigste Verlan- gen und den feurigsten Trieb, dir, mein gekreuzigter Mitt- ler, mich ganz aufzuopfern. Ich wünschte in Ansehung deines Kreuzes so gesinnet zu seyn, wie Paulus war, und
durch
Ein und dreyßigſte Betrachtung.
Aber wie kann ich bey ſo herrlichen Vorrechten und Hofnungen, deren ich durch das Kreuz Jeſu theilhaf- tig werde, dennoch ſo gleichgültig, und ſo fühllos blei- ben, als ich zu ſeyn pflege, wenn ich den gekreuzigten Je- ſum betrachte? Ach, meine Liebe iſt noch viel zu kalt, und der Eifer in der Gottſeligkeit viel zu ſchwach, wenn ich da- gegen die brünſtige Liebe meines Jeſu betrachte. Liebte ich den gekreuzigten Jeſum von ganzer Seele: ſo würde ich mich dadurch gewinnen laſſen, den Dienſt der Sünde und der Welt aufzugeben, und meinem Heiland eine ewige Treue zu ſchwören. Wäre mir das Kreuz Jeſu über al- les theuer: ſo würde ich nicht in vergänglichen Dingen mei- ne Glückſeligkeit und Freude ſuchen. Würde ich durch die Betrachtung des gekreuzigten Jeſu lebendig gerühret: ſo würde ich den lebendigſten Abſcheu gegen alle Sünden in meinem Herzen fühlen und mich hüten, meine Seele mit neuen Miſſethaten zu beflecken. Wäre es mir einzig um die Rettung meines unſterblichen Geiſtes zu thun: ſo könnte ich nicht fortfahren, die Vergnügung des Fleiſches als mein höchſtes Gut anzuſehen. Hätte das Kreuz Jeſu mehr Gewalt über mein Herz: ſo würde ich in Anſehung Gottes und ſeines Dienſtes, in Anſehung Chriſti und ſei- ner Nachfolge, in Anſehung meines Nächſten und mei- ner ſelbſt, ganz anders geſinnet ſeyn, als ich bisher ge- weſen bin.
Dies alles erkennet meine Seele. Und jetzt, da ich in meiner Einſamkeit deinem Kreuzestode nachdenke, wird meine Fühlloſigkeit und meine Verſchuldung an deinem Kreuze mir recht lebendig. Wenn ich mich aber recht kenne, ſo fühle ich in meiner Seele das heftigſte Verlan- gen und den feurigſten Trieb, dir, mein gekreuzigter Mitt- ler, mich ganz aufzuopfern. Ich wünſchte in Anſehung deines Kreuzes ſo geſinnet zu ſeyn, wie Paulus war, und
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Ein und dreyßigſte Betrachtung.
Aber wie kann ich bey ſo herrlichen Vorrechten
und Hofnungen, deren ich durch das Kreuz Jeſu theilhaf-
tig werde, dennoch ſo gleichgültig, und ſo fühllos blei-
ben, als ich zu ſeyn pflege, wenn ich den gekreuzigten Je-
ſum betrachte? Ach, meine Liebe iſt noch viel zu kalt, und
der Eifer in der Gottſeligkeit viel zu ſchwach, wenn ich da-
gegen die brünſtige Liebe meines Jeſu betrachte. Liebte ich
den gekreuzigten Jeſum von ganzer Seele: ſo würde ich
mich dadurch gewinnen laſſen, den Dienſt der Sünde und
der Welt aufzugeben, und meinem Heiland eine ewige
Treue zu ſchwören. Wäre mir das Kreuz Jeſu über al-
les theuer: ſo würde ich nicht in vergänglichen Dingen mei-
ne Glückſeligkeit und Freude ſuchen. Würde ich durch
die Betrachtung des gekreuzigten Jeſu lebendig gerühret:
ſo würde ich den lebendigſten Abſcheu gegen alle Sünden
in meinem Herzen fühlen und mich hüten, meine Seele
mit neuen Miſſethaten zu beflecken. Wäre es mir einzig
um die Rettung meines unſterblichen Geiſtes zu thun: ſo
könnte ich nicht fortfahren, die Vergnügung des Fleiſches
als mein höchſtes Gut anzuſehen. Hätte das Kreuz Jeſu
mehr Gewalt über mein Herz: ſo würde ich in Anſehung
Gottes und ſeines Dienſtes, in Anſehung Chriſti und ſei-
ner Nachfolge, in Anſehung meines Nächſten und mei-
ner ſelbſt, ganz anders geſinnet ſeyn, als ich bisher ge-
weſen bin.
Dies alles erkennet meine Seele. Und jetzt, da ich
in meiner Einſamkeit deinem Kreuzestode nachdenke, wird
meine Fühlloſigkeit und meine Verſchuldung an deinem
Kreuze mir recht lebendig. Wenn ich mich aber recht
kenne, ſo fühle ich in meiner Seele das heftigſte Verlan-
gen und den feurigſten Trieb, dir, mein gekreuzigter Mitt-
ler, mich ganz aufzuopfern. Ich wünſchte in Anſehung
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/164>, abgerufen am 18.06.2024.
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