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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zwey und dreyßigste Betrachtung.
Schicksal empfinden. Wenn ich dem Tode nahe seyn
werde, so wird meine Seele mit manchen Zweifeln käm-
pfen müssen. Vielleicht werde ich auch alsdann zu klagen
Ursache haben: der Herr hat mich verlassen! Der Herr
hat mein vergessen! Dann, o mein Heiland, will ich
hofnungsvoll auf dich blicken, und daraus Trost für mein
zerschlagenes Herz hernehmen, daß ich weis, daß du an
meiner statt, von Gott verlassen worden bist. Wie leicht
wird mein Herz werden, wenn ich dich, du Beystand der
Verlassenen, in meiner Noth suche. Ja, in aller Ab-
sicht wird es mir leicht werden. Denn sollten auch um
mein Sterbebette her die Geliebten meines Herzens ste-
hen; sollte mich bey ihrem Anblicke der Gedanke beun-
ruhigen, daß ich sie fühllos zurücklasse: so kann ich sie dei-
ner Fürsorge und Aufsicht getrost überlassen. Du wirst
ihnen einen Johannes zusenden, der sich ihrer annehmen
wird.

Wie liebenswürdig, mein Heiland, bist du mir, wenn
ich dich als das Beyspiel und als meine Zuflucht im Tode be-
trachte. Du rufst! mich dürstet. Ach wie lechzend hiengst
du da, und niemand war, der dein mattes Herz erfrischte.
Mich wird auch einmahl ein Durst quälen, wenn alle mei-
ne Kräfte, als ein Scherben, vertrocknet seyn werden.
Dann will ich an dich denken und mich deines Durstes trö-
sten, und bey jedem Trunk Wasser, den man mir reicht,
dir danken, daß du mir auf meinem Siechbette mehr Lab-
sal schenkst, als dir am Kreuze gewähret wurde. -- Du
rufst: Es ist vollbracht! Möchte ich doch mit eben
dem Triumphe, mit welchem du im Tode das aussprachst, es
dir einmal nachsprechen können! O wie freudig kann ich
aus der Welt gehen, wenn ich überzeugt bin, daß ich alles
vollendet habe, was mir zu thun oder zu leiden bestimmt
war. Dann werde ich auch in Absicht aller meiner Leiden

sa-

Zwey und dreyßigſte Betrachtung.
Schickſal empfinden. Wenn ich dem Tode nahe ſeyn
werde, ſo wird meine Seele mit manchen Zweifeln käm-
pfen müſſen. Vielleicht werde ich auch alsdann zu klagen
Urſache haben: der Herr hat mich verlaſſen! Der Herr
hat mein vergeſſen! Dann, o mein Heiland, will ich
hofnungsvoll auf dich blicken, und daraus Troſt für mein
zerſchlagenes Herz hernehmen, daß ich weis, daß du an
meiner ſtatt, von Gott verlaſſen worden biſt. Wie leicht
wird mein Herz werden, wenn ich dich, du Beyſtand der
Verlaſſenen, in meiner Noth ſuche. Ja, in aller Ab-
ſicht wird es mir leicht werden. Denn ſollten auch um
mein Sterbebette her die Geliebten meines Herzens ſte-
hen; ſollte mich bey ihrem Anblicke der Gedanke beun-
ruhigen, daß ich ſie fühllos zurücklaſſe: ſo kann ich ſie dei-
ner Fürſorge und Aufſicht getroſt überlaſſen. Du wirſt
ihnen einen Johannes zuſenden, der ſich ihrer annehmen
wird.

Wie liebenswürdig, mein Heiland, biſt du mir, wenn
ich dich als das Beyſpiel und als meine Zuflucht im Tode be-
trachte. Du rufſt! mich dürſtet. Ach wie lechzend hiengſt
du da, und niemand war, der dein mattes Herz erfriſchte.
Mich wird auch einmahl ein Durſt quälen, wenn alle mei-
ne Kräfte, als ein Scherben, vertrocknet ſeyn werden.
Dann will ich an dich denken und mich deines Durſtes trö-
ſten, und bey jedem Trunk Waſſer, den man mir reicht,
dir danken, daß du mir auf meinem Siechbette mehr Lab-
ſal ſchenkſt, als dir am Kreuze gewähret wurde. — Du
rufſt: Es iſt vollbracht! Möchte ich doch mit eben
dem Triumphe, mit welchem du im Tode das ausſprachſt, es
dir einmal nachſprechen können! O wie freudig kann ich
aus der Welt gehen, wenn ich überzeugt bin, daß ich alles
vollendet habe, was mir zu thun oder zu leiden beſtimmt
war. Dann werde ich auch in Abſicht aller meiner Leiden

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[146/0168] Zwey und dreyßigſte Betrachtung. Schickſal empfinden. Wenn ich dem Tode nahe ſeyn werde, ſo wird meine Seele mit manchen Zweifeln käm- pfen müſſen. Vielleicht werde ich auch alsdann zu klagen Urſache haben: der Herr hat mich verlaſſen! Der Herr hat mein vergeſſen! Dann, o mein Heiland, will ich hofnungsvoll auf dich blicken, und daraus Troſt für mein zerſchlagenes Herz hernehmen, daß ich weis, daß du an meiner ſtatt, von Gott verlaſſen worden biſt. Wie leicht wird mein Herz werden, wenn ich dich, du Beyſtand der Verlaſſenen, in meiner Noth ſuche. Ja, in aller Ab- ſicht wird es mir leicht werden. Denn ſollten auch um mein Sterbebette her die Geliebten meines Herzens ſte- hen; ſollte mich bey ihrem Anblicke der Gedanke beun- ruhigen, daß ich ſie fühllos zurücklaſſe: ſo kann ich ſie dei- ner Fürſorge und Aufſicht getroſt überlaſſen. Du wirſt ihnen einen Johannes zuſenden, der ſich ihrer annehmen wird. Wie liebenswürdig, mein Heiland, biſt du mir, wenn ich dich als das Beyſpiel und als meine Zuflucht im Tode be- trachte. Du rufſt! mich dürſtet. Ach wie lechzend hiengſt du da, und niemand war, der dein mattes Herz erfriſchte. Mich wird auch einmahl ein Durſt quälen, wenn alle mei- ne Kräfte, als ein Scherben, vertrocknet ſeyn werden. Dann will ich an dich denken und mich deines Durſtes trö- ſten, und bey jedem Trunk Waſſer, den man mir reicht, dir danken, daß du mir auf meinem Siechbette mehr Lab- ſal ſchenkſt, als dir am Kreuze gewähret wurde. — Du rufſt: Es iſt vollbracht! Möchte ich doch mit eben dem Triumphe, mit welchem du im Tode das ausſprachſt, es dir einmal nachſprechen können! O wie freudig kann ich aus der Welt gehen, wenn ich überzeugt bin, daß ich alles vollendet habe, was mir zu thun oder zu leiden beſtimmt war. Dann werde ich auch in Abſicht aller meiner Leiden ſa-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/168>, abgerufen am 18.06.2024.