Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Fürbitte Jesu für seine Feinde.
zorn strafte, und von dem er gänzlich verlassen zu seyn
schien, nennet er noch seinen Vater. Dieses konnte sei-
nen Feinden zum sichersten Beweise dienen, daß er bey der
gehorsamen Unterwerfung unter die Hand seines Vaters,
seiner Liebe völlig gewiß seyn könne. Hier konnten sie nun
erkennen, daß, so schrecklich die Tiefe des Elendes war, in
welche Jesus herabgesunken, er dennoch das Recht habe,
sich als den Sohn des hochgelobten Gottes zu betrachten,
und sich alles Beystandes versichert zu halten. -- Ich Glück-
seliger! Wie leicht kann ich mich nun unter allen Leiden,
die mich treffen mögen, beruhigen! Wenn mich nun die
Welt von sich stößt und mit der peinlichsten Verachtung
überhäuft, so weiß ich eine Zuflucht, die mir kein Feind
rauben kann. Ich weis, daß der Herr des Himmels
und der Erde mein Vater ist, zu welchem ich mich mit Zu-
versicht und Freudigkeit nahen kann. Dis weis ich, dis
kannn ich, dis muß ich wissen. Aber warum bin ich den-
noch so ungläubig, und auch bey der geringsten Noth ver-
zagt? Konnte Jesus unter den allerempfindlichsten Lei-
den der Liebe seines Vaters gewiß seyn, warum wollte ich
an derselben verzagen, wenn etwa nichtsbedeutende Zufälle
mich beunruhigen? Denn wahrlich, wenn alle Gattun-
gen der Widerwärtigkeiten mich treffen könnten; welche
Kleinigkeit würden sie gegen die Leiden meines Jesu seyn!
Sein Beyspiel müsse mich beschämen, wenn mein Fleisch
mich zur Ungeduld oder zum Unglauben verleiten will!
Sein verdienstlicher Gehorsam müsse mir Kraft verleihen,
auch dann meinem himmlischen Vater treu zu bleiben, wenn
mich seine Hand auf das empfindlichste züchtiget.

Je länger ich meinen gekreuzigten Erlöser betrachte,
desto sichtbarer sehe ich meine Mängel ein. Ich sehe, wie
er seine ersten Gedanken am Kreuze auf seine Feinde rich-
tet, und wie er so zärtlich für ihr Heil besorgt ist. Es wäre

nicht
K 3

Fürbitte Jeſu für ſeine Feinde.
zorn ſtrafte, und von dem er gänzlich verlaſſen zu ſeyn
ſchien, nennet er noch ſeinen Vater. Dieſes konnte ſei-
nen Feinden zum ſicherſten Beweiſe dienen, daß er bey der
gehorſamen Unterwerfung unter die Hand ſeines Vaters,
ſeiner Liebe völlig gewiß ſeyn könne. Hier konnten ſie nun
erkennen, daß, ſo ſchrecklich die Tiefe des Elendes war, in
welche Jeſus herabgeſunken, er dennoch das Recht habe,
ſich als den Sohn des hochgelobten Gottes zu betrachten,
und ſich alles Beyſtandes verſichert zu halten. — Ich Glück-
ſeliger! Wie leicht kann ich mich nun unter allen Leiden,
die mich treffen mögen, beruhigen! Wenn mich nun die
Welt von ſich ſtößt und mit der peinlichſten Verachtung
überhäuft, ſo weiß ich eine Zuflucht, die mir kein Feind
rauben kann. Ich weis, daß der Herr des Himmels
und der Erde mein Vater iſt, zu welchem ich mich mit Zu-
verſicht und Freudigkeit nahen kann. Dis weis ich, dis
kannn ich, dis muß ich wiſſen. Aber warum bin ich den-
noch ſo ungläubig, und auch bey der geringſten Noth ver-
zagt? Konnte Jeſus unter den allerempfindlichſten Lei-
den der Liebe ſeines Vaters gewiß ſeyn, warum wollte ich
an derſelben verzagen, wenn etwa nichtsbedeutende Zufälle
mich beunruhigen? Denn wahrlich, wenn alle Gattun-
gen der Widerwärtigkeiten mich treffen könnten; welche
Kleinigkeit würden ſie gegen die Leiden meines Jeſu ſeyn!
Sein Beyſpiel müſſe mich beſchämen, wenn mein Fleiſch
mich zur Ungeduld oder zum Unglauben verleiten will!
Sein verdienſtlicher Gehorſam müſſe mir Kraft verleihen,
auch dann meinem himmliſchen Vater treu zu bleiben, wenn
mich ſeine Hand auf das empfindlichſte züchtiget.

Je länger ich meinen gekreuzigten Erlöſer betrachte,
deſto ſichtbarer ſehe ich meine Mängel ein. Ich ſehe, wie
er ſeine erſten Gedanken am Kreuze auf ſeine Feinde rich-
tet, und wie er ſo zärtlich für ihr Heil beſorgt iſt. Es wäre

nicht
K 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="149"/><fw place="top" type="header">Fürbitte Je&#x017F;u für &#x017F;eine Feinde.</fw><lb/>
zorn &#x017F;trafte, und von dem er gänzlich verla&#x017F;&#x017F;en zu &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;chien, nennet er noch <hi rendition="#fr">&#x017F;einen Vater.</hi> Die&#x017F;es konnte &#x017F;ei-<lb/>
nen Feinden zum &#x017F;icher&#x017F;ten Bewei&#x017F;e dienen, daß er bey der<lb/>
gehor&#x017F;amen Unterwerfung unter die Hand &#x017F;eines Vaters,<lb/>
&#x017F;einer Liebe völlig gewiß &#x017F;eyn könne. Hier konnten &#x017F;ie nun<lb/>
erkennen, daß, &#x017F;o &#x017F;chrecklich die Tiefe des Elendes war, in<lb/>
welche Je&#x017F;us herabge&#x017F;unken, er dennoch das Recht habe,<lb/>
&#x017F;ich als den Sohn des hochgelobten Gottes zu betrachten,<lb/>
und &#x017F;ich alles Bey&#x017F;tandes ver&#x017F;ichert zu halten. &#x2014; Ich Glück-<lb/>
&#x017F;eliger! Wie leicht kann ich mich nun unter allen Leiden,<lb/>
die mich treffen mögen, beruhigen! Wenn mich nun die<lb/>
Welt von &#x017F;ich &#x017F;tößt und mit der peinlich&#x017F;ten Verachtung<lb/>
überhäuft, &#x017F;o weiß ich eine Zuflucht, die mir kein Feind<lb/>
rauben kann. Ich weis, daß der Herr des Himmels<lb/>
und der Erde mein Vater i&#x017F;t, zu welchem ich mich mit Zu-<lb/>
ver&#x017F;icht und Freudigkeit nahen kann. Dis weis ich, dis<lb/>
kannn ich, dis muß ich wi&#x017F;&#x017F;en. Aber warum bin ich den-<lb/>
noch &#x017F;o ungläubig, und auch bey der gering&#x017F;ten Noth ver-<lb/>
zagt? Konnte Je&#x017F;us unter den allerempfindlich&#x017F;ten Lei-<lb/>
den der Liebe &#x017F;eines Vaters gewiß &#x017F;eyn, warum wollte ich<lb/>
an der&#x017F;elben verzagen, wenn etwa nichtsbedeutende Zufälle<lb/>
mich beunruhigen? Denn wahrlich, wenn alle Gattun-<lb/>
gen der Widerwärtigkeiten mich treffen könnten; welche<lb/>
Kleinigkeit würden &#x017F;ie gegen die Leiden meines Je&#x017F;u &#x017F;eyn!<lb/>
Sein Bey&#x017F;piel mü&#x017F;&#x017F;e mich be&#x017F;chämen, wenn mein Flei&#x017F;ch<lb/>
mich zur Ungeduld oder zum Unglauben verleiten will!<lb/>
Sein verdien&#x017F;tlicher Gehor&#x017F;am mü&#x017F;&#x017F;e mir Kraft verleihen,<lb/>
auch dann meinem himmli&#x017F;chen Vater treu zu bleiben, wenn<lb/>
mich &#x017F;eine Hand auf das empfindlich&#x017F;te züchtiget.</p><lb/>
          <p>Je länger ich meinen gekreuzigten Erlö&#x017F;er betrachte,<lb/>
de&#x017F;to &#x017F;ichtbarer &#x017F;ehe ich meine Mängel ein. Ich &#x017F;ehe, wie<lb/>
er &#x017F;eine er&#x017F;ten Gedanken am Kreuze auf &#x017F;eine Feinde rich-<lb/>
tet, und wie er &#x017F;o zärtlich für ihr Heil be&#x017F;orgt i&#x017F;t. Es wäre<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 3</fw><fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0171] Fürbitte Jeſu für ſeine Feinde. zorn ſtrafte, und von dem er gänzlich verlaſſen zu ſeyn ſchien, nennet er noch ſeinen Vater. Dieſes konnte ſei- nen Feinden zum ſicherſten Beweiſe dienen, daß er bey der gehorſamen Unterwerfung unter die Hand ſeines Vaters, ſeiner Liebe völlig gewiß ſeyn könne. Hier konnten ſie nun erkennen, daß, ſo ſchrecklich die Tiefe des Elendes war, in welche Jeſus herabgeſunken, er dennoch das Recht habe, ſich als den Sohn des hochgelobten Gottes zu betrachten, und ſich alles Beyſtandes verſichert zu halten. — Ich Glück- ſeliger! Wie leicht kann ich mich nun unter allen Leiden, die mich treffen mögen, beruhigen! Wenn mich nun die Welt von ſich ſtößt und mit der peinlichſten Verachtung überhäuft, ſo weiß ich eine Zuflucht, die mir kein Feind rauben kann. Ich weis, daß der Herr des Himmels und der Erde mein Vater iſt, zu welchem ich mich mit Zu- verſicht und Freudigkeit nahen kann. Dis weis ich, dis kannn ich, dis muß ich wiſſen. Aber warum bin ich den- noch ſo ungläubig, und auch bey der geringſten Noth ver- zagt? Konnte Jeſus unter den allerempfindlichſten Lei- den der Liebe ſeines Vaters gewiß ſeyn, warum wollte ich an derſelben verzagen, wenn etwa nichtsbedeutende Zufälle mich beunruhigen? Denn wahrlich, wenn alle Gattun- gen der Widerwärtigkeiten mich treffen könnten; welche Kleinigkeit würden ſie gegen die Leiden meines Jeſu ſeyn! Sein Beyſpiel müſſe mich beſchämen, wenn mein Fleiſch mich zur Ungeduld oder zum Unglauben verleiten will! Sein verdienſtlicher Gehorſam müſſe mir Kraft verleihen, auch dann meinem himmliſchen Vater treu zu bleiben, wenn mich ſeine Hand auf das empfindlichſte züchtiget. Je länger ich meinen gekreuzigten Erlöſer betrachte, deſto ſichtbarer ſehe ich meine Mängel ein. Ich ſehe, wie er ſeine erſten Gedanken am Kreuze auf ſeine Feinde rich- tet, und wie er ſo zärtlich für ihr Heil beſorgt iſt. Es wäre nicht K 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/171
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/171>, abgerufen am 18.12.2024.