Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Drey und dreyßigste Betrachtung. nicht zu verwundern gewesen, wenn er bey der Heftigkeitseiner eignen Leiden, alles ausser ihm vergessen, und am al- lerwenigsten an die Werkzeuge seiner Martern gedacht hät- te. Und hätte er an sie gedacht, so wäre es kein Wun- der gewesen, wenn er sich ihrer im Zorn erinnert hätte. Allein, welche großmüthige, uneigennützige Liebe beweißt er gegen seine Feinde! Er vergißt sein eigenes Elend, und denkt an das Elend seiner Feinde. Nicht sein eignes Unglück dünkt ihm unerträglich zu seyn, sondern jene Pein ist ihm unerträglich, welche er seinen Mördern bevorstehen steht. Nicht die Verwundungen seines Kör- pers, nicht seine tiefe Schmach rührte ihn so stark, als die Verschuldung, welche sich seine Feinde durch seine Hinrich- tung zuzogen. Und darum bittet er seinen Vater so fle- hentlich! Vater, vergib ihnen! -- Was würde ich unter solchen Umständen gethan haben? Oder vielmehr, da ich nicht leicht dasjenige, was mein Jesus erfahren hat, empfinden kann, was würde ich thun, wenn ich an mei- nem Körper oder an meiner Seele gewisse Mißhandlungen erdulden müste, an welchen meine Feinde Ursache wä- ren? Würde ich da meinem Erlöser nachfolgen, und mit so unpartheyischer Liebe meiner Feinde eingedenk seyn kön- nen? Würde ich mich für berechtiget halten, mich blos mit meinen Leiden zu beschäftigen? Würde ich nicht glau- ben, Nachsicht zu verdienen, wann ich in der Hitze mei- ner Schmerzen denjenigen den Untergang wünschte, die ich als die Urheber meiner Martern anzusehen hätte? Je- doch was habe ich nöthig, diesen äusersten Fall anzunehmen? Ach, ich fühle es, wie mein Blut wallt, wie alle meine Af- fekten sich empören, wie mein Herz durch die innern Fol- tern des Zorns und der Rachsucht zerrissen wird, wenn ich nur kleine und nichtsbedeutende Beleidigungen von meinen Feinden erdulden muß. Ich empfinde es täglich, wie schwer
Drey und dreyßigſte Betrachtung. nicht zu verwundern geweſen, wenn er bey der Heftigkeitſeiner eignen Leiden, alles auſſer ihm vergeſſen, und am al- lerwenigſten an die Werkzeuge ſeiner Martern gedacht hät- te. Und hätte er an ſie gedacht, ſo wäre es kein Wun- der geweſen, wenn er ſich ihrer im Zorn erinnert hätte. Allein, welche großmüthige, uneigennützige Liebe beweißt er gegen ſeine Feinde! Er vergißt ſein eigenes Elend, und denkt an das Elend ſeiner Feinde. Nicht ſein eignes Unglück dünkt ihm unerträglich zu ſeyn, ſondern jene Pein iſt ihm unerträglich, welche er ſeinen Mördern bevorſtehen ſteht. Nicht die Verwundungen ſeines Kör- pers, nicht ſeine tiefe Schmach rührte ihn ſo ſtark, als die Verſchuldung, welche ſich ſeine Feinde durch ſeine Hinrich- tung zuzogen. Und darum bittet er ſeinen Vater ſo fle- hentlich! Vater, vergib ihnen! — Was würde ich unter ſolchen Umſtänden gethan haben? Oder vielmehr, da ich nicht leicht dasjenige, was mein Jeſus erfahren hat, empfinden kann, was würde ich thun, wenn ich an mei- nem Körper oder an meiner Seele gewiſſe Mißhandlungen erdulden müſte, an welchen meine Feinde Urſache wä- ren? Würde ich da meinem Erlöſer nachfolgen, und mit ſo unpartheyiſcher Liebe meiner Feinde eingedenk ſeyn kön- nen? Würde ich mich für berechtiget halten, mich blos mit meinen Leiden zu beſchäftigen? Würde ich nicht glau- ben, Nachſicht zu verdienen, wann ich in der Hitze mei- ner Schmerzen denjenigen den Untergang wünſchte, die ich als die Urheber meiner Martern anzuſehen hätte? Je- doch was habe ich nöthig, dieſen äuſerſten Fall anzunehmen? Ach, ich fühle es, wie mein Blut wallt, wie alle meine Af- fekten ſich empören, wie mein Herz durch die innern Fol- tern des Zorns und der Rachſucht zerriſſen wird, wenn ich nur kleine und nichtsbedeutende Beleidigungen von meinen Feinden erdulden muß. Ich empfinde es täglich, wie ſchwer
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Drey und dreyßigſte Betrachtung.
nicht zu verwundern geweſen, wenn er bey der Heftigkeit
ſeiner eignen Leiden, alles auſſer ihm vergeſſen, und am al-
lerwenigſten an die Werkzeuge ſeiner Martern gedacht hät-
te. Und hätte er an ſie gedacht, ſo wäre es kein Wun-
der geweſen, wenn er ſich ihrer im Zorn erinnert hätte.
Allein, welche großmüthige, uneigennützige Liebe beweißt
er gegen ſeine Feinde! Er vergißt ſein eigenes Elend, und
denkt an das Elend ſeiner Feinde. Nicht ſein eignes
Unglück dünkt ihm unerträglich zu ſeyn, ſondern jene
Pein iſt ihm unerträglich, welche er ſeinen Mördern
bevorſtehen ſteht. Nicht die Verwundungen ſeines Kör-
pers, nicht ſeine tiefe Schmach rührte ihn ſo ſtark, als die
Verſchuldung, welche ſich ſeine Feinde durch ſeine Hinrich-
tung zuzogen. Und darum bittet er ſeinen Vater ſo fle-
hentlich! Vater, vergib ihnen! — Was würde ich
unter ſolchen Umſtänden gethan haben? Oder vielmehr,
da ich nicht leicht dasjenige, was mein Jeſus erfahren hat,
empfinden kann, was würde ich thun, wenn ich an mei-
nem Körper oder an meiner Seele gewiſſe Mißhandlungen
erdulden müſte, an welchen meine Feinde Urſache wä-
ren? Würde ich da meinem Erlöſer nachfolgen, und mit
ſo unpartheyiſcher Liebe meiner Feinde eingedenk ſeyn kön-
nen? Würde ich mich für berechtiget halten, mich blos
mit meinen Leiden zu beſchäftigen? Würde ich nicht glau-
ben, Nachſicht zu verdienen, wann ich in der Hitze mei-
ner Schmerzen denjenigen den Untergang wünſchte, die
ich als die Urheber meiner Martern anzuſehen hätte? Je-
doch was habe ich nöthig, dieſen äuſerſten Fall anzunehmen?
Ach, ich fühle es, wie mein Blut wallt, wie alle meine Af-
fekten ſich empören, wie mein Herz durch die innern Fol-
tern des Zorns und der Rachſucht zerriſſen wird, wenn ich
nur kleine und nichtsbedeutende Beleidigungen von meinen
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