Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Liebe Jesu gegen seine Mutter.
sind, an sich zu gedenken, geschweige, daß sie sich um andre,
und selbst um ihre nächsten Freunde bekümmern sollten;
wenn Sterbende, welche ihr ganzes Leben in Zerstreuung
zugebracht haben, keine Zeit finden, sich mit etwas anders
als mit der Zubereitung zum Tode zu beschäftigen: so kann
ein Christ, der seine gesunden Tage zur Zubereitung auf den
Tod angewendet hat, der seines Gnadenstandes und der Hof-
nung der Seligkeit gewiß ist, auch selbst einen Theil seiner
letzten Lebensstunden seinen Kindern, seiner Familie und sei-
nen Freunden schenken. Er kann seine irdischen Angelegen-
heiten besorgen, er kann seinen bestürzten Freunden gute
Lehren ertheilen: er kann immer standhaft, immer Herr
über sich selbst bleiben. Er kann, ehe er stirbt, seine Ver-
lassenschaft in Ordnung bringen, seine Familie versorgen,
die Erziehung seiner Kinder einrichten, seinen letzten Wil-
len bekannt machen, und alsdann ihnen das letzte Lebewohl
sagen und in die Wohnungen der Gerechten mit ruhiger
Freudigkeit übergehen. Ja dis kann der Christ in derjeni-
gen Stunde thun, in welcher auch die Stärksten schwach
zu werden pflegen, wenn sie sich von den Geliebten ihres
Herzens loßreissen, und wegen ihres zukünftigen Schicksals
unbesorgt seyn sollen. Wie ruhig kann der Fromme seyn,
wenn er auch Personen zurückliesse, die mit ihm ihren Va-
ter, Versorger und Beschützer verlören! Ich kann es
mir zwar vorstellen, daß es kein geringer Schmerz für
Sterbende seyn mag, wenn sie um ihr Sterbelager die-
jenigen versammlet sehen, deren Thränen allein schon die
Grösse ihres Verlustes ausdrücken. Allein ich glaube auch,
daß ein zuversichtliches Vertrauen auf den Herrn, der Him-
mel und Erde gemacht hat und der aller Verlassenen
Helfer ist, gar leicht das bekümmerte Herz zufrieden stel-
len kann.

Die-

Liebe Jeſu gegen ſeine Mutter.
ſind, an ſich zu gedenken, geſchweige, daß ſie ſich um andre,
und ſelbſt um ihre nächſten Freunde bekümmern ſollten;
wenn Sterbende, welche ihr ganzes Leben in Zerſtreuung
zugebracht haben, keine Zeit finden, ſich mit etwas anders
als mit der Zubereitung zum Tode zu beſchäftigen: ſo kann
ein Chriſt, der ſeine geſunden Tage zur Zubereitung auf den
Tod angewendet hat, der ſeines Gnadenſtandes und der Hof-
nung der Seligkeit gewiß iſt, auch ſelbſt einen Theil ſeiner
letzten Lebensſtunden ſeinen Kindern, ſeiner Familie und ſei-
nen Freunden ſchenken. Er kann ſeine irdiſchen Angelegen-
heiten beſorgen, er kann ſeinen beſtürzten Freunden gute
Lehren ertheilen: er kann immer ſtandhaft, immer Herr
über ſich ſelbſt bleiben. Er kann, ehe er ſtirbt, ſeine Ver-
laſſenſchaft in Ordnung bringen, ſeine Familie verſorgen,
die Erziehung ſeiner Kinder einrichten, ſeinen letzten Wil-
len bekannt machen, und alsdann ihnen das letzte Lebewohl
ſagen und in die Wohnungen der Gerechten mit ruhiger
Freudigkeit übergehen. Ja dis kann der Chriſt in derjeni-
gen Stunde thun, in welcher auch die Stärkſten ſchwach
zu werden pflegen, wenn ſie ſich von den Geliebten ihres
Herzens loßreiſſen, und wegen ihres zukünftigen Schickſals
unbeſorgt ſeyn ſollen. Wie ruhig kann der Fromme ſeyn,
wenn er auch Perſonen zurücklieſſe, die mit ihm ihren Va-
ter, Verſorger und Beſchützer verlören! Ich kann es
mir zwar vorſtellen, daß es kein geringer Schmerz für
Sterbende ſeyn mag, wenn ſie um ihr Sterbelager die-
jenigen verſammlet ſehen, deren Thränen allein ſchon die
Gröſſe ihres Verluſtes ausdrücken. Allein ich glaube auch,
daß ein zuverſichtliches Vertrauen auf den Herrn, der Him-
mel und Erde gemacht hat und der aller Verlaſſenen
Helfer iſt, gar leicht das bekümmerte Herz zufrieden ſtel-
len kann.

Die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0177" n="155"/><fw place="top" type="header">Liebe Je&#x017F;u gegen &#x017F;eine Mutter.</fw><lb/>
&#x017F;ind, an &#x017F;ich zu gedenken, ge&#x017F;chweige, daß &#x017F;ie &#x017F;ich um andre,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t um ihre näch&#x017F;ten Freunde bekümmern &#x017F;ollten;<lb/>
wenn Sterbende, welche ihr ganzes Leben in Zer&#x017F;treuung<lb/>
zugebracht haben, keine Zeit finden, &#x017F;ich mit etwas anders<lb/>
als mit der Zubereitung zum Tode zu be&#x017F;chäftigen: &#x017F;o kann<lb/>
ein Chri&#x017F;t, der &#x017F;eine ge&#x017F;unden Tage zur Zubereitung auf den<lb/>
Tod angewendet hat, der &#x017F;eines Gnaden&#x017F;tandes und der Hof-<lb/>
nung der Seligkeit gewiß i&#x017F;t, auch &#x017F;elb&#x017F;t einen Theil &#x017F;einer<lb/>
letzten Lebens&#x017F;tunden &#x017F;einen Kindern, &#x017F;einer Familie und &#x017F;ei-<lb/>
nen Freunden &#x017F;chenken. Er kann &#x017F;eine irdi&#x017F;chen Angelegen-<lb/>
heiten be&#x017F;orgen, er kann &#x017F;einen be&#x017F;türzten Freunden gute<lb/>
Lehren ertheilen: er kann immer &#x017F;tandhaft, immer Herr<lb/>
über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t bleiben. Er kann, ehe er &#x017F;tirbt, &#x017F;eine Ver-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in Ordnung bringen, &#x017F;eine Familie ver&#x017F;orgen,<lb/>
die Erziehung &#x017F;einer Kinder einrichten, &#x017F;einen letzten Wil-<lb/>
len bekannt machen, und alsdann ihnen das letzte Lebewohl<lb/>
&#x017F;agen und in die Wohnungen der Gerechten mit ruhiger<lb/>
Freudigkeit übergehen. Ja dis kann der Chri&#x017F;t in derjeni-<lb/>
gen Stunde thun, in welcher auch die Stärk&#x017F;ten &#x017F;chwach<lb/>
zu werden pflegen, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich von den Geliebten ihres<lb/>
Herzens loßrei&#x017F;&#x017F;en, und wegen ihres zukünftigen Schick&#x017F;als<lb/>
unbe&#x017F;orgt &#x017F;eyn &#x017F;ollen. Wie ruhig kann der Fromme &#x017F;eyn,<lb/>
wenn er auch Per&#x017F;onen zurücklie&#x017F;&#x017F;e, die mit ihm ihren Va-<lb/>
ter, Ver&#x017F;orger und Be&#x017F;chützer verlören! Ich kann es<lb/>
mir zwar vor&#x017F;tellen, daß es kein geringer Schmerz für<lb/>
Sterbende &#x017F;eyn mag, wenn &#x017F;ie um ihr Sterbelager die-<lb/>
jenigen ver&#x017F;ammlet &#x017F;ehen, deren Thränen allein &#x017F;chon die<lb/>
Grö&#x017F;&#x017F;e ihres Verlu&#x017F;tes ausdrücken. Allein ich glaube auch,<lb/>
daß ein zuver&#x017F;ichtliches Vertrauen auf den Herrn, der Him-<lb/>
mel und Erde gemacht hat und der aller Verla&#x017F;&#x017F;enen<lb/>
Helfer i&#x017F;t, gar leicht das bekümmerte Herz zufrieden &#x017F;tel-<lb/>
len kann.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Die-</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0177] Liebe Jeſu gegen ſeine Mutter. ſind, an ſich zu gedenken, geſchweige, daß ſie ſich um andre, und ſelbſt um ihre nächſten Freunde bekümmern ſollten; wenn Sterbende, welche ihr ganzes Leben in Zerſtreuung zugebracht haben, keine Zeit finden, ſich mit etwas anders als mit der Zubereitung zum Tode zu beſchäftigen: ſo kann ein Chriſt, der ſeine geſunden Tage zur Zubereitung auf den Tod angewendet hat, der ſeines Gnadenſtandes und der Hof- nung der Seligkeit gewiß iſt, auch ſelbſt einen Theil ſeiner letzten Lebensſtunden ſeinen Kindern, ſeiner Familie und ſei- nen Freunden ſchenken. Er kann ſeine irdiſchen Angelegen- heiten beſorgen, er kann ſeinen beſtürzten Freunden gute Lehren ertheilen: er kann immer ſtandhaft, immer Herr über ſich ſelbſt bleiben. Er kann, ehe er ſtirbt, ſeine Ver- laſſenſchaft in Ordnung bringen, ſeine Familie verſorgen, die Erziehung ſeiner Kinder einrichten, ſeinen letzten Wil- len bekannt machen, und alsdann ihnen das letzte Lebewohl ſagen und in die Wohnungen der Gerechten mit ruhiger Freudigkeit übergehen. Ja dis kann der Chriſt in derjeni- gen Stunde thun, in welcher auch die Stärkſten ſchwach zu werden pflegen, wenn ſie ſich von den Geliebten ihres Herzens loßreiſſen, und wegen ihres zukünftigen Schickſals unbeſorgt ſeyn ſollen. Wie ruhig kann der Fromme ſeyn, wenn er auch Perſonen zurücklieſſe, die mit ihm ihren Va- ter, Verſorger und Beſchützer verlören! Ich kann es mir zwar vorſtellen, daß es kein geringer Schmerz für Sterbende ſeyn mag, wenn ſie um ihr Sterbelager die- jenigen verſammlet ſehen, deren Thränen allein ſchon die Gröſſe ihres Verluſtes ausdrücken. Allein ich glaube auch, daß ein zuverſichtliches Vertrauen auf den Herrn, der Him- mel und Erde gemacht hat und der aller Verlaſſenen Helfer iſt, gar leicht das bekümmerte Herz zufrieden ſtel- len kann. Die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/177
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/177>, abgerufen am 18.06.2024.