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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Sieben und dreyßigste Betrachtung.
machen. Und was thut er nicht diesen Augenblick an mir!
Die Gelegenheit, welche er mir verschafft, sein Leiden zu be-
trachten, das Exempel eines begnadigten Sünders, wel-
ches mir vorgestellt wird, ist dis nicht eine gewaltige An-
mahnung an mein Herz, mich von der Sünde zu ihm zu
wenden? Ja, ich will, o Sünderfreund, deine Bemü-
hungen nicht fruchtlos an mir seyn lassen. Ich sehe,
wie du deine Hand nach mir ausstreckst und ich eile dir zu;
ich will mich von dir ergreifen lassen. Ohne Verweilen
will ich um die Rettung meiner Seele bekümmert seyn.
Ein so glücklicher Augenblick, als der jetzige ist, wird viel-
leicht nicht wiederkommen: so leicht, als mir jetzt die Bekeh-
rung ist, wird sie mir in der Folge der Zeit nicht werden.
Ich werde mit jedem Tage verkehrter, der Sünde gewohn-
ter, und also auch verhärteter. Es können sich Umstände
ereignen, wo es mir beynahe unmöglich seyn wird, mit
Ernst meine Seligkeit zu schaffen. Ich will daher diesen
gegenwärtigen Augenblick nützen und ihn dazu anwenden,
über wichtige Geschäfte nachzudenken und solche Anstalten
zu treffen, von welchen ich mir ein seliges Ende verspre-
chen kann.

Je früher ich das Werk meiner Seligkeit betreibe,
desto froher kann ich dem Tod entgegen gehen, desto ge-
wisser kann ich des Antheils an der Seligkeit seyn. Dann
kann ich mit fester Zuversicht den Himmel erwarten, und
mit der tröstlichen Ueberzeugung sterben, daß ich an mei-
nem Todestage im Paradiese seyn werde. Der letzte Au-
genblick, der meine Seele vom Leibe trennt, wird der erste
in der Herrlichkeit seyn. Kein Zweifel soll alsdann meine
Seele beunruhigen. Mag der irdische Theil meines We-
sens in Vermoderung gehen, der bessere wird über Moder
und Grab erhaben seyn. Mag die Kenntniß von dem Zu-
stande meiner Seele nach dem Tode des Körpers, und von

der

Sieben und dreyßigſte Betrachtung.
machen. Und was thut er nicht dieſen Augenblick an mir!
Die Gelegenheit, welche er mir verſchafft, ſein Leiden zu be-
trachten, das Exempel eines begnadigten Sünders, wel-
ches mir vorgeſtellt wird, iſt dis nicht eine gewaltige An-
mahnung an mein Herz, mich von der Sünde zu ihm zu
wenden? Ja, ich will, o Sünderfreund, deine Bemü-
hungen nicht fruchtlos an mir ſeyn laſſen. Ich ſehe,
wie du deine Hand nach mir ausſtreckſt und ich eile dir zu;
ich will mich von dir ergreifen laſſen. Ohne Verweilen
will ich um die Rettung meiner Seele bekümmert ſeyn.
Ein ſo glücklicher Augenblick, als der jetzige iſt, wird viel-
leicht nicht wiederkommen: ſo leicht, als mir jetzt die Bekeh-
rung iſt, wird ſie mir in der Folge der Zeit nicht werden.
Ich werde mit jedem Tage verkehrter, der Sünde gewohn-
ter, und alſo auch verhärteter. Es können ſich Umſtände
ereignen, wo es mir beynahe unmöglich ſeyn wird, mit
Ernſt meine Seligkeit zu ſchaffen. Ich will daher dieſen
gegenwärtigen Augenblick nützen und ihn dazu anwenden,
über wichtige Geſchäfte nachzudenken und ſolche Anſtalten
zu treffen, von welchen ich mir ein ſeliges Ende verſpre-
chen kann.

Je früher ich das Werk meiner Seligkeit betreibe,
deſto froher kann ich dem Tod entgegen gehen, deſto ge-
wiſſer kann ich des Antheils an der Seligkeit ſeyn. Dann
kann ich mit feſter Zuverſicht den Himmel erwarten, und
mit der tröſtlichen Ueberzeugung ſterben, daß ich an mei-
nem Todestage im Paradieſe ſeyn werde. Der letzte Au-
genblick, der meine Seele vom Leibe trennt, wird der erſte
in der Herrlichkeit ſeyn. Kein Zweifel ſoll alsdann meine
Seele beunruhigen. Mag der irdiſche Theil meines We-
ſens in Vermoderung gehen, der beſſere wird über Moder
und Grab erhaben ſeyn. Mag die Kenntniß von dem Zu-
ſtande meiner Seele nach dem Tode des Körpers, und von

der
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[170/0192] Sieben und dreyßigſte Betrachtung. machen. Und was thut er nicht dieſen Augenblick an mir! Die Gelegenheit, welche er mir verſchafft, ſein Leiden zu be- trachten, das Exempel eines begnadigten Sünders, wel- ches mir vorgeſtellt wird, iſt dis nicht eine gewaltige An- mahnung an mein Herz, mich von der Sünde zu ihm zu wenden? Ja, ich will, o Sünderfreund, deine Bemü- hungen nicht fruchtlos an mir ſeyn laſſen. Ich ſehe, wie du deine Hand nach mir ausſtreckſt und ich eile dir zu; ich will mich von dir ergreifen laſſen. Ohne Verweilen will ich um die Rettung meiner Seele bekümmert ſeyn. Ein ſo glücklicher Augenblick, als der jetzige iſt, wird viel- leicht nicht wiederkommen: ſo leicht, als mir jetzt die Bekeh- rung iſt, wird ſie mir in der Folge der Zeit nicht werden. Ich werde mit jedem Tage verkehrter, der Sünde gewohn- ter, und alſo auch verhärteter. Es können ſich Umſtände ereignen, wo es mir beynahe unmöglich ſeyn wird, mit Ernſt meine Seligkeit zu ſchaffen. Ich will daher dieſen gegenwärtigen Augenblick nützen und ihn dazu anwenden, über wichtige Geſchäfte nachzudenken und ſolche Anſtalten zu treffen, von welchen ich mir ein ſeliges Ende verſpre- chen kann. Je früher ich das Werk meiner Seligkeit betreibe, deſto froher kann ich dem Tod entgegen gehen, deſto ge- wiſſer kann ich des Antheils an der Seligkeit ſeyn. Dann kann ich mit feſter Zuverſicht den Himmel erwarten, und mit der tröſtlichen Ueberzeugung ſterben, daß ich an mei- nem Todestage im Paradieſe ſeyn werde. Der letzte Au- genblick, der meine Seele vom Leibe trennt, wird der erſte in der Herrlichkeit ſeyn. Kein Zweifel ſoll alsdann meine Seele beunruhigen. Mag der irdiſche Theil meines We- ſens in Vermoderung gehen, der beſſere wird über Moder und Grab erhaben ſeyn. Mag die Kenntniß von dem Zu- ſtande meiner Seele nach dem Tode des Körpers, und von der

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/192>, abgerufen am 18.06.2024.