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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Vierzigste Betrachtung.
ein Tagewerk bestimmt, zu dessen Ausrichtung ich meine
Kräfte und meine ganze Lebenszeit verwenden sollte. Als
du mich in die Welt einführtest, so war deine Absicht, daß
ich sowohl meinem himmlischen als irdischen Beruffe gemäß
handeln sollte. Allein ich sehe mit Schaam und Reue
auf meine verfloßnen Tage zurück. Wie weniges habe ich
von demjenigen gethan, was ich ausrichten sollte! Ich
sehe, wie vieles noch von mir nachzuholen ist, wenn ich im
Tode meiner Vollendung so froh seyn soll, wie mein Je-
sus war. Und vielleicht bin ich dem Tode so nahe, wie er
war, als er ausrief: es ist vollbracht? Ich will eilen
und jeden Augenblick, der mir noch geschenkt wird, zur
Vollendung meines Geschäftes anwenden. Bisher opfer-
te ich meine Glieder den Lüsten auf: nun will ich sie dem
Herrn, der sie erlöset hat, heiligen. Bisher war ich unbe-
sorgt für meine Seele: nun soll es meine wichtigste, meine
einzige Sorge bleiden, sie dem Verderben zu entreissen.
Bisher ärgerte ich die Welt durch meinen Wandel: nun
will ich sie durch mein Leben erbauen. Bisher war ich
lieblos und unbarmherzig: nun will ich im Wohlthun mei-
nen Ruhm suchen. Bisher verachtete ich Jesum, nun
soll er mir über alles theuer seyn. -- Herr, du siehest mei-
ne guten Vorsätze. Aber verleihe mir Kraft, sie zu voll-
führen. Ich wünschte so gerne, wie du, im Tode so freu-
dig und getrost zu seyn. O! darum hilf mir mein Ge-
schäfte vollenden, hilf mir die wichtigen Angelegenheiten
meiner Seligkeit besorgen! Es wird dennoch am Ende
an Vorwürfen nicht fehlen, die mir mein Gewissen macht,
wenn ich auch noch so treu gewesen bin, so werde ich doch
bekennen müssen, daß noch viele Mängel und Unvoll-
kommenheiten zurück sind, wegen welcher ich Nachsicht
von Gott erwarten muß. Aber in diesen Umständen kann
ich mich darauf verlassen, daß Jesus an meiner Stelle al-

les

Vierzigſte Betrachtung.
ein Tagewerk beſtimmt, zu deſſen Ausrichtung ich meine
Kräfte und meine ganze Lebenszeit verwenden ſollte. Als
du mich in die Welt einführteſt, ſo war deine Abſicht, daß
ich ſowohl meinem himmliſchen als irdiſchen Beruffe gemäß
handeln ſollte. Allein ich ſehe mit Schaam und Reue
auf meine verfloßnen Tage zurück. Wie weniges habe ich
von demjenigen gethan, was ich ausrichten ſollte! Ich
ſehe, wie vieles noch von mir nachzuholen iſt, wenn ich im
Tode meiner Vollendung ſo froh ſeyn ſoll, wie mein Je-
ſus war. Und vielleicht bin ich dem Tode ſo nahe, wie er
war, als er ausrief: es iſt vollbracht? Ich will eilen
und jeden Augenblick, der mir noch geſchenkt wird, zur
Vollendung meines Geſchäftes anwenden. Bisher opfer-
te ich meine Glieder den Lüſten auf: nun will ich ſie dem
Herrn, der ſie erlöſet hat, heiligen. Bisher war ich unbe-
ſorgt für meine Seele: nun ſoll es meine wichtigſte, meine
einzige Sorge bleiden, ſie dem Verderben zu entreiſſen.
Bisher ärgerte ich die Welt durch meinen Wandel: nun
will ich ſie durch mein Leben erbauen. Bisher war ich
lieblos und unbarmherzig: nun will ich im Wohlthun mei-
nen Ruhm ſuchen. Bisher verachtete ich Jeſum, nun
ſoll er mir über alles theuer ſeyn. — Herr, du ſieheſt mei-
ne guten Vorſätze. Aber verleihe mir Kraft, ſie zu voll-
führen. Ich wünſchte ſo gerne, wie du, im Tode ſo freu-
dig und getroſt zu ſeyn. O! darum hilf mir mein Ge-
ſchäfte vollenden, hilf mir die wichtigen Angelegenheiten
meiner Seligkeit beſorgen! Es wird dennoch am Ende
an Vorwürfen nicht fehlen, die mir mein Gewiſſen macht,
wenn ich auch noch ſo treu geweſen bin, ſo werde ich doch
bekennen müſſen, daß noch viele Mängel und Unvoll-
kommenheiten zurück ſind, wegen welcher ich Nachſicht
von Gott erwarten muß. Aber in dieſen Umſtänden kann
ich mich darauf verlaſſen, daß Jeſus an meiner Stelle al-

les
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[182/0204] Vierzigſte Betrachtung. ein Tagewerk beſtimmt, zu deſſen Ausrichtung ich meine Kräfte und meine ganze Lebenszeit verwenden ſollte. Als du mich in die Welt einführteſt, ſo war deine Abſicht, daß ich ſowohl meinem himmliſchen als irdiſchen Beruffe gemäß handeln ſollte. Allein ich ſehe mit Schaam und Reue auf meine verfloßnen Tage zurück. Wie weniges habe ich von demjenigen gethan, was ich ausrichten ſollte! Ich ſehe, wie vieles noch von mir nachzuholen iſt, wenn ich im Tode meiner Vollendung ſo froh ſeyn ſoll, wie mein Je- ſus war. Und vielleicht bin ich dem Tode ſo nahe, wie er war, als er ausrief: es iſt vollbracht? Ich will eilen und jeden Augenblick, der mir noch geſchenkt wird, zur Vollendung meines Geſchäftes anwenden. Bisher opfer- te ich meine Glieder den Lüſten auf: nun will ich ſie dem Herrn, der ſie erlöſet hat, heiligen. Bisher war ich unbe- ſorgt für meine Seele: nun ſoll es meine wichtigſte, meine einzige Sorge bleiden, ſie dem Verderben zu entreiſſen. Bisher ärgerte ich die Welt durch meinen Wandel: nun will ich ſie durch mein Leben erbauen. Bisher war ich lieblos und unbarmherzig: nun will ich im Wohlthun mei- nen Ruhm ſuchen. Bisher verachtete ich Jeſum, nun ſoll er mir über alles theuer ſeyn. — Herr, du ſieheſt mei- ne guten Vorſätze. Aber verleihe mir Kraft, ſie zu voll- führen. Ich wünſchte ſo gerne, wie du, im Tode ſo freu- dig und getroſt zu ſeyn. O! darum hilf mir mein Ge- ſchäfte vollenden, hilf mir die wichtigen Angelegenheiten meiner Seligkeit beſorgen! Es wird dennoch am Ende an Vorwürfen nicht fehlen, die mir mein Gewiſſen macht, wenn ich auch noch ſo treu geweſen bin, ſo werde ich doch bekennen müſſen, daß noch viele Mängel und Unvoll- kommenheiten zurück ſind, wegen welcher ich Nachſicht von Gott erwarten muß. Aber in dieſen Umſtänden kann ich mich darauf verlaſſen, daß Jeſus an meiner Stelle al- les

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/204>, abgerufen am 24.11.2024.