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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Drey und vierzigste Betrachtung.
der Menschenliebe Raum, und die wenigsten empfinden
diejenigen Rührungen, mit welchen eigentlich der Tod Je-
su betrachtet werden mußte. Unter welcher Klasse würde
ich mich befunden haben? So oiel versichert mir mein
Herz, daß ich nicht zu jener grausamen Freude fähig ge-
wesen seyn würde, welche die Schriftgelehrten, Aeltesten
und Hohenpriester, bey dem Anblicke des gekreuzigten Je-
su geäussert haben. Aber ob ich nicht zu jenem Haufen
gehört hätte, der aus Neugier der Hinrichtung Jesu bey-
wohnte; ob ich mehr als Mitleiden, welches man dem
größten Missethäter nicht versagen kann, bey der Betrach-
tung des Kreuzestodes Jesu empfunden hätte, dieses ist ei-
ne Frage, bey deren Beantwortung ich furchtsamer zu
seyn Ursache habe.

Ich darf nur untersuchen, welche Bewegungen jetzt
in meiner Seele vorgehen, da ich das Leiden und den Tod
Jesu in dieser Einsamkeit betrachte: so werde ich daraus
auf die Empfindungen schliessen können, die ich gehabt ha-
ben möchte, wenn ich persönlich der Hinrichtung Jesu bey-
gewohnt hätte. Macht die Betrachtung der Leiden Jesu
einen starken Eindruck auf mein Herz? Erkenne ich den
Werth seiner Liebe, und die Wichtigkeit alles desjenigen,
was er für mich gethan und gelitten hat? Denke ich mit
Reue und Abscheu an die Sünden, welche meinem Erlöser
so viele Arbeit gemacht haben? Schätze ich das Heil,
welches er mir erworben hat, nach seiner Würdigkeit?
Würde ich mich dazu bequemen, aus Liebe zu Jesu und
aus Dankbarkeit für seine Leiden, die Trübsalen, die mir et-
wa auferlegt werden möchten, mit Willigkeit zu ertragen?
Ist es meine liebste Beschäftigung, mein angenehmster Zeit-
vertreib, wenn ich den Leiden meines Heilandes nachdenken

kann?

Drey und vierzigſte Betrachtung.
der Menſchenliebe Raum, und die wenigſten empfinden
diejenigen Rührungen, mit welchen eigentlich der Tod Je-
ſu betrachtet werden mußte. Unter welcher Klaſſe würde
ich mich befunden haben? So oiel verſichert mir mein
Herz, daß ich nicht zu jener grauſamen Freude fähig ge-
weſen ſeyn würde, welche die Schriftgelehrten, Aelteſten
und Hohenprieſter, bey dem Anblicke des gekreuzigten Je-
ſu geäuſſert haben. Aber ob ich nicht zu jenem Haufen
gehört hätte, der aus Neugier der Hinrichtung Jeſu bey-
wohnte; ob ich mehr als Mitleiden, welches man dem
größten Miſſethäter nicht verſagen kann, bey der Betrach-
tung des Kreuzestodes Jeſu empfunden hätte, dieſes iſt ei-
ne Frage, bey deren Beantwortung ich furchtſamer zu
ſeyn Urſache habe.

Ich darf nur unterſuchen, welche Bewegungen jetzt
in meiner Seele vorgehen, da ich das Leiden und den Tod
Jeſu in dieſer Einſamkeit betrachte: ſo werde ich daraus
auf die Empfindungen ſchlieſſen können, die ich gehabt ha-
ben möchte, wenn ich perſönlich der Hinrichtung Jeſu bey-
gewohnt hätte. Macht die Betrachtung der Leiden Jeſu
einen ſtarken Eindruck auf mein Herz? Erkenne ich den
Werth ſeiner Liebe, und die Wichtigkeit alles desjenigen,
was er für mich gethan und gelitten hat? Denke ich mit
Reue und Abſcheu an die Sünden, welche meinem Erlöſer
ſo viele Arbeit gemacht haben? Schätze ich das Heil,
welches er mir erworben hat, nach ſeiner Würdigkeit?
Würde ich mich dazu bequemen, aus Liebe zu Jeſu und
aus Dankbarkeit für ſeine Leiden, die Trübſalen, die mir et-
wa auferlegt werden möchten, mit Willigkeit zu ertragen?
Iſt es meine liebſte Beſchäftigung, mein angenehmſter Zeit-
vertreib, wenn ich den Leiden meines Heilandes nachdenken

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[192/0214] Drey und vierzigſte Betrachtung. der Menſchenliebe Raum, und die wenigſten empfinden diejenigen Rührungen, mit welchen eigentlich der Tod Je- ſu betrachtet werden mußte. Unter welcher Klaſſe würde ich mich befunden haben? So oiel verſichert mir mein Herz, daß ich nicht zu jener grauſamen Freude fähig ge- weſen ſeyn würde, welche die Schriftgelehrten, Aelteſten und Hohenprieſter, bey dem Anblicke des gekreuzigten Je- ſu geäuſſert haben. Aber ob ich nicht zu jenem Haufen gehört hätte, der aus Neugier der Hinrichtung Jeſu bey- wohnte; ob ich mehr als Mitleiden, welches man dem größten Miſſethäter nicht verſagen kann, bey der Betrach- tung des Kreuzestodes Jeſu empfunden hätte, dieſes iſt ei- ne Frage, bey deren Beantwortung ich furchtſamer zu ſeyn Urſache habe. Ich darf nur unterſuchen, welche Bewegungen jetzt in meiner Seele vorgehen, da ich das Leiden und den Tod Jeſu in dieſer Einſamkeit betrachte: ſo werde ich daraus auf die Empfindungen ſchlieſſen können, die ich gehabt ha- ben möchte, wenn ich perſönlich der Hinrichtung Jeſu bey- gewohnt hätte. Macht die Betrachtung der Leiden Jeſu einen ſtarken Eindruck auf mein Herz? Erkenne ich den Werth ſeiner Liebe, und die Wichtigkeit alles desjenigen, was er für mich gethan und gelitten hat? Denke ich mit Reue und Abſcheu an die Sünden, welche meinem Erlöſer ſo viele Arbeit gemacht haben? Schätze ich das Heil, welches er mir erworben hat, nach ſeiner Würdigkeit? Würde ich mich dazu bequemen, aus Liebe zu Jeſu und aus Dankbarkeit für ſeine Leiden, die Trübſalen, die mir et- wa auferlegt werden möchten, mit Willigkeit zu ertragen? Iſt es meine liebſte Beſchäftigung, mein angenehmſter Zeit- vertreib, wenn ich den Leiden meines Heilandes nachdenken kann?

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/214>, abgerufen am 25.11.2024.