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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zweyter Abschnitt.

5. Die, welche vormahls ohne Gefühl Jesum in seiner Nie-
drigkeit sahen, wie werden sie zittern, wenn sie ihn in seiner
Herrlichkeit kommen sehen!

6. Es ist sehr gewöhnlich, daß die Sünder zur Beschönigung
ihrer Missethaten sogar die Aussprüche der heiligen Schrift ge-
brauchen.

35. Letztes Verhör Jesu.

Als Pilatus nun hörte, daß sich Jesus für einen Sohn
Gottes ausgegeben hätte, so wurde er noch furchtsamer,
über Jesum das Todesurtheil zu sprechen. Er befürchtete
nach den Grundsätzen seiner Religion, er möchte sich die
Rache der Götter zuziehen, wenn er sich an einer göttli-
chen und ausserordentlichen Person vergreifen würde. Man
mußte Jesum sogleich wieder in den Hof seines Pallastes
hinein führen, weil er in dieser Sache eine Gewißheit er-
halten wollte. Hier fragte er Jesum, von was für Her-
kunft er wäre. Allein Jesus gab ihm auf diese Frage kei-
ne Antwort, weil er vorhersahe, daß es ohne Nutzen seyn
würde, ihn von seinem Ursprunge zu belehren. Pilatus
wurde über das Stillschweigen Jesu empfindlich, und sag-
te zu Jesu mit einiger Heftigkeit: Wie? auch mit mir
willst du nicht reden? Weißt du nicht, daß es in
meiner Macht steht, dich kreuzigen zu lassen oder los-
zugeben?
Jesus antwortete ihm mit Freymüthigkeit:
Du würdest keine Macht über meine Person und
über mein Leben haben, wenn sie dir nicht vom Him-
mel wäre ertheilt worden. Daher wirst du dir
durch die üble Anwendung deiner Macht eine schwe-
re Verschuldung zuziehen: jedoch ist dererjenigen
Verschuldung noch schwerer, die mich in deine Hän-
de überliefert haben.

Prak-
Zweyter Abſchnitt.

5. Die, welche vormahls ohne Gefühl Jeſum in ſeiner Nie-
drigkeit ſahen, wie werden ſie zittern, wenn ſie ihn in ſeiner
Herrlichkeit kommen ſehen!

6. Es iſt ſehr gewöhnlich, daß die Sünder zur Beſchönigung
ihrer Miſſethaten ſogar die Ausſprüche der heiligen Schrift ge-
brauchen.

35. Letztes Verhör Jeſu.

Als Pilatus nun hörte, daß ſich Jeſus für einen Sohn
Gottes ausgegeben hätte, ſo wurde er noch furchtſamer,
über Jeſum das Todesurtheil zu ſprechen. Er befürchtete
nach den Grundſätzen ſeiner Religion, er möchte ſich die
Rache der Götter zuziehen, wenn er ſich an einer göttli-
chen und auſſerordentlichen Perſon vergreifen würde. Man
mußte Jeſum ſogleich wieder in den Hof ſeines Pallaſtes
hinein führen, weil er in dieſer Sache eine Gewißheit er-
halten wollte. Hier fragte er Jeſum, von was für Her-
kunft er wäre. Allein Jeſus gab ihm auf dieſe Frage kei-
ne Antwort, weil er vorherſahe, daß es ohne Nutzen ſeyn
würde, ihn von ſeinem Urſprunge zu belehren. Pilatus
wurde über das Stillſchweigen Jeſu empfindlich, und ſag-
te zu Jeſu mit einiger Heftigkeit: Wie? auch mit mir
willſt du nicht reden? Weißt du nicht, daß es in
meiner Macht ſteht, dich kreuzigen zu laſſen oder los-
zugeben?
Jeſus antwortete ihm mit Freymüthigkeit:
Du würdeſt keine Macht über meine Perſon und
über mein Leben haben, wenn ſie dir nicht vom Him-
mel wäre ertheilt worden. Daher wirſt du dir
durch die üble Anwendung deiner Macht eine ſchwe-
re Verſchuldung zuziehen: jedoch iſt dererjenigen
Verſchuldung noch ſchwerer, die mich in deine Hän-
de überliefert haben.

Prak-
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[266/0288] Zweyter Abſchnitt. 5. Die, welche vormahls ohne Gefühl Jeſum in ſeiner Nie- drigkeit ſahen, wie werden ſie zittern, wenn ſie ihn in ſeiner Herrlichkeit kommen ſehen! 6. Es iſt ſehr gewöhnlich, daß die Sünder zur Beſchönigung ihrer Miſſethaten ſogar die Ausſprüche der heiligen Schrift ge- brauchen. 35. Letztes Verhör Jeſu. Als Pilatus nun hörte, daß ſich Jeſus für einen Sohn Gottes ausgegeben hätte, ſo wurde er noch furchtſamer, über Jeſum das Todesurtheil zu ſprechen. Er befürchtete nach den Grundſätzen ſeiner Religion, er möchte ſich die Rache der Götter zuziehen, wenn er ſich an einer göttli- chen und auſſerordentlichen Perſon vergreifen würde. Man mußte Jeſum ſogleich wieder in den Hof ſeines Pallaſtes hinein führen, weil er in dieſer Sache eine Gewißheit er- halten wollte. Hier fragte er Jeſum, von was für Her- kunft er wäre. Allein Jeſus gab ihm auf dieſe Frage kei- ne Antwort, weil er vorherſahe, daß es ohne Nutzen ſeyn würde, ihn von ſeinem Urſprunge zu belehren. Pilatus wurde über das Stillſchweigen Jeſu empfindlich, und ſag- te zu Jeſu mit einiger Heftigkeit: Wie? auch mit mir willſt du nicht reden? Weißt du nicht, daß es in meiner Macht ſteht, dich kreuzigen zu laſſen oder los- zugeben? Jeſus antwortete ihm mit Freymüthigkeit: Du würdeſt keine Macht über meine Perſon und über mein Leben haben, wenn ſie dir nicht vom Him- mel wäre ertheilt worden. Daher wirſt du dir durch die üble Anwendung deiner Macht eine ſchwe- re Verſchuldung zuziehen: jedoch iſt dererjenigen Verſchuldung noch ſchwerer, die mich in deine Hän- de überliefert haben. Prak-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/288>, abgerufen am 21.11.2024.