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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Erste Betrachtung.
Freunden begleitet, die bisher an allen seinen Mühselig-
keiten Theil genommen hatten. Er gieng an den Oel-
berg mit dem festen Entschluß, ein Opfer für die Sün-
den der Welt zu werden, und sich allen Schicksalen
zu unterwerfen, die sein Vater in dieser Nacht über
ihn verhängen würde.

Wie lehrreich für mich ist auch dieses Stück des
Leidens Jesu! Wenn ich auf sein Verhalten bey dem
Hingang zum Oelberg merke, so kann ich von ihm ler-
nen, wie ich mich bey wichtigen und mein ewiges Heil
betreffenden Geschäften zu betragen habe. Im Ge-
räusch der Stadt, unter dem Lärm lustiger Gesellschaf-
ten läßt sich nicht wohl an so wichtige Dinge denken:
zum wenigsten bin ich immer in Gefahr, zerstreuet und
aus meiner Fassung gebracht zu werden. Wenn ich
also mit Gott reden, oder an meine begangenen Sün-
den denken, oder mich zum Tode anschicken will, so
muß ich alle diejenigen Oerter fliehen, wo ich zerstreu-
et werden könnte. Meine gewöhnlichen Zeitvertreibe,
meine auch noch so unschuldigen Gesellschaften, sollen
mir nicht zu theuer seyn: ich muß mich von ihnen
loßreissen, und in mein Kämmerlein gehen, und daselbst
im Verborgenen mit meinem Vater reden. -- Ueber-
haupt werden diejenigen Oerter, wo wir in guten Ta-
gen Werke der Eitelkeit ausgeübt haben, zur Zeit der
Noth uns keine Erleichterung geben. Das Andenken
an dieselben wird uns vielmehr Schaam und schmerz-
liche Reue zuwege bringen. Aber jeder Ort, wo ich
ehemals in der Stille mich mit Gott beschäftiget, oder
mit meinen Freunden gebetet, oder gute Werke ausge-
übt habe, wird mir in der Stunde der Leiden oder
des Todes zu grosser Ermunterung gereichen. Da
wird mein Betkämmerlein, wo ich sterbe, auch der Ort

mei-

Erſte Betrachtung.
Freunden begleitet, die bisher an allen ſeinen Mühſelig-
keiten Theil genommen hatten. Er gieng an den Oel-
berg mit dem feſten Entſchluß, ein Opfer für die Sün-
den der Welt zu werden, und ſich allen Schickſalen
zu unterwerfen, die ſein Vater in dieſer Nacht über
ihn verhängen würde.

Wie lehrreich für mich iſt auch dieſes Stück des
Leidens Jeſu! Wenn ich auf ſein Verhalten bey dem
Hingang zum Oelberg merke, ſo kann ich von ihm ler-
nen, wie ich mich bey wichtigen und mein ewiges Heil
betreffenden Geſchäften zu betragen habe. Im Ge-
räuſch der Stadt, unter dem Lärm luſtiger Geſellſchaf-
ten läßt ſich nicht wohl an ſo wichtige Dinge denken:
zum wenigſten bin ich immer in Gefahr, zerſtreuet und
aus meiner Faſſung gebracht zu werden. Wenn ich
alſo mit Gott reden, oder an meine begangenen Sün-
den denken, oder mich zum Tode anſchicken will, ſo
muß ich alle diejenigen Oerter fliehen, wo ich zerſtreu-
et werden könnte. Meine gewöhnlichen Zeitvertreibe,
meine auch noch ſo unſchuldigen Geſellſchaften, ſollen
mir nicht zu theuer ſeyn: ich muß mich von ihnen
loßreiſſen, und in mein Kämmerlein gehen, und daſelbſt
im Verborgenen mit meinem Vater reden. — Ueber-
haupt werden diejenigen Oerter, wo wir in guten Ta-
gen Werke der Eitelkeit ausgeübt haben, zur Zeit der
Noth uns keine Erleichterung geben. Das Andenken
an dieſelben wird uns vielmehr Schaam und ſchmerz-
liche Reue zuwege bringen. Aber jeder Ort, wo ich
ehemals in der Stille mich mit Gott beſchäftiget, oder
mit meinen Freunden gebetet, oder gute Werke ausge-
übt habe, wird mir in der Stunde der Leiden oder
des Todes zu groſſer Ermunterung gereichen. Da
wird mein Betkämmerlein, wo ich ſterbe, auch der Ort

mei-
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[16/0038] Erſte Betrachtung. Freunden begleitet, die bisher an allen ſeinen Mühſelig- keiten Theil genommen hatten. Er gieng an den Oel- berg mit dem feſten Entſchluß, ein Opfer für die Sün- den der Welt zu werden, und ſich allen Schickſalen zu unterwerfen, die ſein Vater in dieſer Nacht über ihn verhängen würde. Wie lehrreich für mich iſt auch dieſes Stück des Leidens Jeſu! Wenn ich auf ſein Verhalten bey dem Hingang zum Oelberg merke, ſo kann ich von ihm ler- nen, wie ich mich bey wichtigen und mein ewiges Heil betreffenden Geſchäften zu betragen habe. Im Ge- räuſch der Stadt, unter dem Lärm luſtiger Geſellſchaf- ten läßt ſich nicht wohl an ſo wichtige Dinge denken: zum wenigſten bin ich immer in Gefahr, zerſtreuet und aus meiner Faſſung gebracht zu werden. Wenn ich alſo mit Gott reden, oder an meine begangenen Sün- den denken, oder mich zum Tode anſchicken will, ſo muß ich alle diejenigen Oerter fliehen, wo ich zerſtreu- et werden könnte. Meine gewöhnlichen Zeitvertreibe, meine auch noch ſo unſchuldigen Geſellſchaften, ſollen mir nicht zu theuer ſeyn: ich muß mich von ihnen loßreiſſen, und in mein Kämmerlein gehen, und daſelbſt im Verborgenen mit meinem Vater reden. — Ueber- haupt werden diejenigen Oerter, wo wir in guten Ta- gen Werke der Eitelkeit ausgeübt haben, zur Zeit der Noth uns keine Erleichterung geben. Das Andenken an dieſelben wird uns vielmehr Schaam und ſchmerz- liche Reue zuwege bringen. Aber jeder Ort, wo ich ehemals in der Stille mich mit Gott beſchäftiget, oder mit meinen Freunden gebetet, oder gute Werke ausge- übt habe, wird mir in der Stunde der Leiden oder des Todes zu groſſer Ermunterung gereichen. Da wird mein Betkämmerlein, wo ich ſterbe, auch der Ort mei-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/38>, abgerufen am 14.06.2024.