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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Seelenleiden Jesu am Oelberg.
den empfand, wird plötzlich von Angst und Quaal be-
stürmet. Es muß etwas Ausserordentliches seyn, was
seinen Geist aus seiner ruhigen Fassung brachte. Ich
mag meinen Erlöser unter allen Umständen und Ver-
änderungen seines Lebens betrachten, so finde ich ihn
immer in jener stillen unerschütterten Gelassenheit, wel-
che aus der vollkommensten Unschuld des Herzens ent-
springt. Ich kann nichts entdecken, was ihn von aus-
sen so sehr hätte erschüttern und zu Boden werfen kön-
nen. Todesfurcht kann es nicht seyn. Warum hätte
sich derjenige vor dem Tode entsetzen sollen, der eine
unsündige Natur, und vor allen Sterblichen den Vor-
zug hatte, daß sein Tod dem ganzen menschlichen Ge-
schlecht zum Segen gereichte? Warum hätte der vor
der schmählichsten und schmerzlichsten Hinrichtung be-
ben sollen, durch dessen Kraft alle Blutzeugen und Mär-
tyrer tüchtig gemacht wurden, freudig und standhaft zu
sterben? Wenn ich einen Menschen sehe, der bey der
nahen Erwartung seines Todes an allen Gliedern sei-
nes Leibes zittert, der mit Erschöpfung aller Kräfte mit
der Angst des Todes kämpft, und durch die Schreck-
nisse der Ewigkeit aufs heftigste erschüttert wird, so ist
mir dieser Anblick nicht befremdend. Dieser Sterben-
de ist ein Sünder, für welchen der Tod und das dar-
auf folgende Gericht nothwendig schreckbar seyn müs-
sen. Aber Jesus war unschuldig, unbefleckt, und von
allen Sündern abgesondert, und konnte daher kein Ver-
dammungsurtheil in dem Gerichte Gottes befürchten.
Und dennoch zagt seine reine Seele: dennoch zittern
seine Glieder: dennoch wird sein Leib von blutigem
Angstschweiß übergossen: dennoch empfindet er, was kein
Sterbender je in gleichem Maas empfunden eine Angst, die
ihn zu Boden wirft und sein Leben nahe zum Grabe bringt.

Wer
B 2

Seelenleiden Jeſu am Oelberg.
den empfand, wird plötzlich von Angſt und Quaal be-
ſtürmet. Es muß etwas Auſſerordentliches ſeyn, was
ſeinen Geiſt aus ſeiner ruhigen Faſſung brachte. Ich
mag meinen Erlöſer unter allen Umſtänden und Ver-
änderungen ſeines Lebens betrachten, ſo finde ich ihn
immer in jener ſtillen unerſchütterten Gelaſſenheit, wel-
che aus der vollkommenſten Unſchuld des Herzens ent-
ſpringt. Ich kann nichts entdecken, was ihn von auſ-
ſen ſo ſehr hätte erſchüttern und zu Boden werfen kön-
nen. Todesfurcht kann es nicht ſeyn. Warum hätte
ſich derjenige vor dem Tode entſetzen ſollen, der eine
unſündige Natur, und vor allen Sterblichen den Vor-
zug hatte, daß ſein Tod dem ganzen menſchlichen Ge-
ſchlecht zum Segen gereichte? Warum hätte der vor
der ſchmählichſten und ſchmerzlichſten Hinrichtung be-
ben ſollen, durch deſſen Kraft alle Blutzeugen und Mär-
tyrer tüchtig gemacht wurden, freudig und ſtandhaft zu
ſterben? Wenn ich einen Menſchen ſehe, der bey der
nahen Erwartung ſeines Todes an allen Gliedern ſei-
nes Leibes zittert, der mit Erſchöpfung aller Kräfte mit
der Angſt des Todes kämpft, und durch die Schreck-
niſſe der Ewigkeit aufs heftigſte erſchüttert wird, ſo iſt
mir dieſer Anblick nicht befremdend. Dieſer Sterben-
de iſt ein Sünder, für welchen der Tod und das dar-
auf folgende Gericht nothwendig ſchreckbar ſeyn müſ-
ſen. Aber Jeſus war unſchuldig, unbefleckt, und von
allen Sündern abgeſondert, und konnte daher kein Ver-
dammungsurtheil in dem Gerichte Gottes befürchten.
Und dennoch zagt ſeine reine Seele: dennoch zittern
ſeine Glieder: dennoch wird ſein Leib von blutigem
Angſtſchweiß übergoſſen: dennoch empfindet er, was kein
Sterbender je in gleichem Maas empfunden eine Angſt, die
ihn zu Boden wirft und ſein Leben nahe zum Grabe bringt.

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B 2
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[19/0041] Seelenleiden Jeſu am Oelberg. den empfand, wird plötzlich von Angſt und Quaal be- ſtürmet. Es muß etwas Auſſerordentliches ſeyn, was ſeinen Geiſt aus ſeiner ruhigen Faſſung brachte. Ich mag meinen Erlöſer unter allen Umſtänden und Ver- änderungen ſeines Lebens betrachten, ſo finde ich ihn immer in jener ſtillen unerſchütterten Gelaſſenheit, wel- che aus der vollkommenſten Unſchuld des Herzens ent- ſpringt. Ich kann nichts entdecken, was ihn von auſ- ſen ſo ſehr hätte erſchüttern und zu Boden werfen kön- nen. Todesfurcht kann es nicht ſeyn. Warum hätte ſich derjenige vor dem Tode entſetzen ſollen, der eine unſündige Natur, und vor allen Sterblichen den Vor- zug hatte, daß ſein Tod dem ganzen menſchlichen Ge- ſchlecht zum Segen gereichte? Warum hätte der vor der ſchmählichſten und ſchmerzlichſten Hinrichtung be- ben ſollen, durch deſſen Kraft alle Blutzeugen und Mär- tyrer tüchtig gemacht wurden, freudig und ſtandhaft zu ſterben? Wenn ich einen Menſchen ſehe, der bey der nahen Erwartung ſeines Todes an allen Gliedern ſei- nes Leibes zittert, der mit Erſchöpfung aller Kräfte mit der Angſt des Todes kämpft, und durch die Schreck- niſſe der Ewigkeit aufs heftigſte erſchüttert wird, ſo iſt mir dieſer Anblick nicht befremdend. Dieſer Sterben- de iſt ein Sünder, für welchen der Tod und das dar- auf folgende Gericht nothwendig ſchreckbar ſeyn müſ- ſen. Aber Jeſus war unſchuldig, unbefleckt, und von allen Sündern abgeſondert, und konnte daher kein Ver- dammungsurtheil in dem Gerichte Gottes befürchten. Und dennoch zagt ſeine reine Seele: dennoch zittern ſeine Glieder: dennoch wird ſein Leib von blutigem Angſtſchweiß übergoſſen: dennoch empfindet er, was kein Sterbender je in gleichem Maas empfunden eine Angſt, die ihn zu Boden wirft und ſein Leben nahe zum Grabe bringt. Wer B 2

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/41>, abgerufen am 21.11.2024.