Gleich nach Mittag trat ich meine Cavalcade an, um noch heute bis Bellinzona zu kommen.
Der Weg dahin ist wirklich von romantischerRomanti- scher Weg nach Bellin- zona. Schönheit, obgleich hier und da etwas beschwerlich: erst über die hinter Lugano liegenden Hügel, her- nach durch fruchtbare Thäler und Wege von den herr- lichsten Kastanienbäumen beschattet. Hier sah ich an mehr als einem Orte Scenen, die mich auf einen son- derbaren Gedanken geführt haben. Mir kam es bis- weilen an ganz ebenen, mit hohen und sehr waldigen Bäumen besetzten Plätzen vor, als wenn ich mich in einer sehr großen gothischen Kirche befände. Zwey weit aus einander stehende Reihen solcher Bäume schlossen in einer beträchtlichen Höhe ein spitzig zulau- fendes Gewölbe, gerade wie die gothischen Gewölber großer Kirchen sind, und der weite Raum zwischen diesen Bäumen schien mir das Schiff der Kirche; wie- der zwey andre, weiter rechter und linker Hand ent- fernt stehende Reihen eben solcher Bäume bildeten die beyden Abseiten einer solchen Kirche, und das hintere gegen einen Berg stoßende insgemein dunkele Ende dieser Alleen bildete, nach meiner Vorstellung, den Chor der Kirche vor.
Jch konnte mich nicht enthalten, mich selbst zu überreden, daß entweder dieses die Originalmuster seyn müßten, daher die gothischen Baumeister die Jdeen zu ihren großen Kirchen genommen, oder daß die, welche diese Bäume gepflanzt, diese Plätze nach der Form solcher Kirchen eingerichtet haben; so offen- bar schien mir die Aehnlichkeit beyder Gegenstände. Das erstere war mir wahrscheinlicher; denn es erklärte mir nicht nur den Ursprung der zugespitzten Gewölber,
son-
Z
von Nizza nach Deutſchland.
Gleich nach Mittag trat ich meine Cavalcade an, um noch heute bis Bellinzona zu kommen.
Der Weg dahin iſt wirklich von romantiſcherRomanti- ſcher Weg nach Bellin- zona. Schoͤnheit, obgleich hier und da etwas beſchwerlich: erſt uͤber die hinter Lugano liegenden Huͤgel, her- nach durch fruchtbare Thaͤler und Wege von den herr- lichſten Kaſtanienbaͤumen beſchattet. Hier ſah ich an mehr als einem Orte Scenen, die mich auf einen ſon- derbaren Gedanken gefuͤhrt haben. Mir kam es bis- weilen an ganz ebenen, mit hohen und ſehr waldigen Baͤumen beſetzten Plaͤtzen vor, als wenn ich mich in einer ſehr großen gothiſchen Kirche befaͤnde. Zwey weit aus einander ſtehende Reihen ſolcher Baͤume ſchloſſen in einer betraͤchtlichen Hoͤhe ein ſpitzig zulau- fendes Gewoͤlbe, gerade wie die gothiſchen Gewoͤlber großer Kirchen ſind, und der weite Raum zwiſchen dieſen Baͤumen ſchien mir das Schiff der Kirche; wie- der zwey andre, weiter rechter und linker Hand ent- fernt ſtehende Reihen eben ſolcher Baͤume bildeten die beyden Abſeiten einer ſolchen Kirche, und das hintere gegen einen Berg ſtoßende insgemein dunkele Ende dieſer Alleen bildete, nach meiner Vorſtellung, den Chor der Kirche vor.
Jch konnte mich nicht enthalten, mich ſelbſt zu uͤberreden, daß entweder dieſes die Originalmuſter ſeyn muͤßten, daher die gothiſchen Baumeiſter die Jdeen zu ihren großen Kirchen genommen, oder daß die, welche dieſe Baͤume gepflanzt, dieſe Plaͤtze nach der Form ſolcher Kirchen eingerichtet haben; ſo offen- bar ſchien mir die Aehnlichkeit beyder Gegenſtaͤnde. Das erſtere war mir wahrſcheinlicher; denn es erklaͤrte mir nicht nur den Urſprung der zugeſpitzten Gewoͤlber,
ſon-
Z
<TEI><text><body><divn="1"><divtype="diaryEntry"n="2"><p><pbfacs="#f0373"n="353"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">von Nizza nach Deutſchland.</hi></fw><lb/>
Gleich nach Mittag trat ich meine Cavalcade an, um<lb/>
noch heute bis <hirendition="#fr">Bellinzona</hi> zu kommen.</p><lb/><p>Der Weg dahin iſt wirklich von romantiſcher<noteplace="right">Romanti-<lb/>ſcher Weg<lb/>
nach Bellin-<lb/>
zona.</note><lb/>
Schoͤnheit, obgleich hier und da etwas beſchwerlich:<lb/>
erſt uͤber die hinter <hirendition="#fr">Lugano</hi> liegenden Huͤgel, her-<lb/>
nach durch fruchtbare Thaͤler und Wege von den herr-<lb/>
lichſten Kaſtanienbaͤumen beſchattet. Hier ſah ich an<lb/>
mehr als einem Orte Scenen, die mich auf einen ſon-<lb/>
derbaren Gedanken gefuͤhrt haben. Mir kam es bis-<lb/>
weilen an ganz ebenen, mit hohen und ſehr waldigen<lb/>
Baͤumen beſetzten Plaͤtzen vor, als wenn ich mich in<lb/>
einer ſehr großen gothiſchen Kirche befaͤnde. Zwey<lb/>
weit aus einander ſtehende Reihen ſolcher Baͤume<lb/>ſchloſſen in einer betraͤchtlichen Hoͤhe ein ſpitzig zulau-<lb/>
fendes Gewoͤlbe, gerade wie die gothiſchen Gewoͤlber<lb/>
großer Kirchen ſind, und der weite Raum zwiſchen<lb/>
dieſen Baͤumen ſchien mir das Schiff der Kirche; wie-<lb/>
der zwey andre, weiter rechter und linker Hand ent-<lb/>
fernt ſtehende Reihen eben ſolcher Baͤume bildeten die<lb/>
beyden Abſeiten einer ſolchen Kirche, und das hintere<lb/>
gegen einen Berg ſtoßende insgemein dunkele Ende<lb/>
dieſer Alleen bildete, nach meiner Vorſtellung, den<lb/>
Chor der Kirche vor.</p><lb/><p>Jch konnte mich nicht enthalten, mich ſelbſt zu<lb/>
uͤberreden, daß entweder dieſes die Originalmuſter<lb/>ſeyn muͤßten, daher die gothiſchen Baumeiſter die<lb/>
Jdeen zu ihren großen Kirchen genommen, oder daß<lb/>
die, welche dieſe Baͤume gepflanzt, dieſe Plaͤtze nach<lb/>
der Form ſolcher Kirchen eingerichtet haben; ſo offen-<lb/>
bar ſchien mir die Aehnlichkeit beyder Gegenſtaͤnde.<lb/>
Das erſtere war mir wahrſcheinlicher; denn es erklaͤrte<lb/>
mir nicht nur den Urſprung der zugeſpitzten Gewoͤlber,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Z</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſon-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[353/0373]
von Nizza nach Deutſchland.
Gleich nach Mittag trat ich meine Cavalcade an, um
noch heute bis Bellinzona zu kommen.
Der Weg dahin iſt wirklich von romantiſcher
Schoͤnheit, obgleich hier und da etwas beſchwerlich:
erſt uͤber die hinter Lugano liegenden Huͤgel, her-
nach durch fruchtbare Thaͤler und Wege von den herr-
lichſten Kaſtanienbaͤumen beſchattet. Hier ſah ich an
mehr als einem Orte Scenen, die mich auf einen ſon-
derbaren Gedanken gefuͤhrt haben. Mir kam es bis-
weilen an ganz ebenen, mit hohen und ſehr waldigen
Baͤumen beſetzten Plaͤtzen vor, als wenn ich mich in
einer ſehr großen gothiſchen Kirche befaͤnde. Zwey
weit aus einander ſtehende Reihen ſolcher Baͤume
ſchloſſen in einer betraͤchtlichen Hoͤhe ein ſpitzig zulau-
fendes Gewoͤlbe, gerade wie die gothiſchen Gewoͤlber
großer Kirchen ſind, und der weite Raum zwiſchen
dieſen Baͤumen ſchien mir das Schiff der Kirche; wie-
der zwey andre, weiter rechter und linker Hand ent-
fernt ſtehende Reihen eben ſolcher Baͤume bildeten die
beyden Abſeiten einer ſolchen Kirche, und das hintere
gegen einen Berg ſtoßende insgemein dunkele Ende
dieſer Alleen bildete, nach meiner Vorſtellung, den
Chor der Kirche vor.
Romanti-
ſcher Weg
nach Bellin-
zona.
Jch konnte mich nicht enthalten, mich ſelbſt zu
uͤberreden, daß entweder dieſes die Originalmuſter
ſeyn muͤßten, daher die gothiſchen Baumeiſter die
Jdeen zu ihren großen Kirchen genommen, oder daß
die, welche dieſe Baͤume gepflanzt, dieſe Plaͤtze nach
der Form ſolcher Kirchen eingerichtet haben; ſo offen-
bar ſchien mir die Aehnlichkeit beyder Gegenſtaͤnde.
Das erſtere war mir wahrſcheinlicher; denn es erklaͤrte
mir nicht nur den Urſprung der zugeſpitzten Gewoͤlber,
ſon-
Z
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/373>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.