Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Aug Augenmaaß. (Zeichnende Künste.) Die Fertigkeit, Formen, Größe und Verhältniße Die Natur muß dazu, wie zu jedem Talente, die Aug Augenpunkt. (Mahlerey.) Der Punkt in einem nach der Perspektive gezeichne- Aus dem, was wir in dem Artikel, Gesichtspunkt, Ausarbeitung. (Schöne Künste.) Die letzte, aber nicht unwichtigste Arbeit des lorits
[Spaltenumbruch]
Aug Augenmaaß. (Zeichnende Kuͤnſte.) Die Fertigkeit, Formen, Groͤße und Verhaͤltniße Die Natur muß dazu, wie zu jedem Talente, die Aug Augenpunkt. (Mahlerey.) Der Punkt in einem nach der Perſpektive gezeichne- Aus dem, was wir in dem Artikel, Geſichtspunkt, Ausarbeitung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die letzte, aber nicht unwichtigſte Arbeit des lorits
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0106" n="94"/> <cb/> </div> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Aug</hi> </fw><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Augenmaaß.</hi><lb/> (Zeichnende Kuͤnſte.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Fertigkeit, Formen, Groͤße und Verhaͤltniße<lb/> mit ſolcher Genauigkeit ins Auge zu faſſen, daß die<lb/> Einbildungskraft eine ganz genaue Vorſtellung da-<lb/> von hat. Jn zeichnenden Kuͤnſten iſt das Augen-<lb/> maaß das erſte und unentbehrlichſte Talent. Wo<lb/> dieſes fehlt, da hilft weder Zirkel noch Maaßſtab.<lb/> Der Zeichner muß, wie <hi rendition="#fr">Michel Angelo</hi> ſich aus-<lb/> zudruͤken pflegte, den Zirkel im Auge und nicht in<lb/> der Hand haben, und einer der groͤßten Mahler<lb/> ſagt: die erſte Bemuͤhung eines Anfaͤngers ſoll ſeyn,<lb/> das Auge zur Richtigkeit zu gewoͤhnen; ſo daß er<lb/> dadurch faͤhig werde, alles nachmachen zu koͤn-<lb/><note place="left">(*) Mengs<lb/> uͤber die<lb/> Schoͤnheit<lb/> und uͤber<lb/> den Ge-<lb/> ſchmak in<lb/> der Mahle-<lb/> rey. Vorre-<lb/> de. S. <hi rendition="#aq">XIV.</hi></note>nen. (*) Nach eben dieſes großen Meiſters Urtheil,<lb/> hat <hi rendition="#fr">Raphael</hi> ſelbſt einen guten Theil ſeiner Groͤße<lb/> dem Augenmaaß zu danken. Er ſetzt den Zeichner<lb/> nicht nur in Stand, jeden Gegenſtand nachzuah-<lb/> men, ſondern ihm auch einen Grad der Wahrheit<lb/> zu geben, der mit großer Kraft ruͤhret. (*) Wer<lb/><note place="left">(*) S.<lb/> Wahrheit.</note>einmal von den in Papier ausgeſchnittenen Bildern<lb/> des bekannten Huberts von Genff etwas gefehen<lb/> hat, wird die große Wichtigkeit des Augenmaaßes<lb/> lebhaft fuͤhlen. Mit einer bewundrungswuͤrdigen<lb/> Wahrheit weiß dieſer außerordentliche Kuͤnſtler je-<lb/> den Gegenſtand blos durch ausſchneiden in Papier,<lb/> ohne vorher gegangene Zeichnung, darzuſtellen.</p><lb/> <p>Die Natur muß dazu, wie zu jedem Talente, die<lb/> Anlage geben; aber eine lange Uebung ſcheinet doch<lb/> allemal viel dazu beyzutragen. Faſt alle Mahler,<lb/> die zur Zeit der Wiederherſtellung der Kunſt gelebt<lb/> haben, beſaßen das Augenmaaß in einem ziemlich<lb/> hohen Grad. Man ſieht viele Zeichnungen und<lb/> Gemaͤhlde aus Albrecht Duͤrers Zeiten, die ſich<lb/> durch eine ſehr ſtarke Wahrheit empfehlen; ſchlecht<lb/> gemahlte Portraite, die blos von der Wahrheit der<lb/> Zeichnung einen großen Werth haben. Die Rich-<lb/> tigkeit des Auges, ſagt <hi rendition="#fr">Mengs,</hi> hatten alle Mah-<lb/> ler dieſer Zeit; haͤtten alle ſo gut als <hi rendition="#fr">Raphael</hi> ge-<lb/> waͤhlt; ſo wuͤrden ſie alle ſo gut als er gezeichnet<lb/><note place="left">(*) Jn dem<lb/> angeſuͤhr-<lb/> ten Werk.<lb/> S. 49.</note>haben. (*) Dieſes iſt eine hoͤchſt wichtige Anmer-<lb/> kung fuͤr alle, die ſich auf zeichnende Kuͤnſte legen.<lb/> Sich unaufhoͤrlich im Augenmaaß uͤben, iſt ſchon<lb/> die Haͤlfte der Kunſt. Dahin zielt ohne Zweifel<lb/> auch der dem <hi rendition="#fr">Apelles</hi> zugeſchriebene Wahlſpruch:<lb/><hi rendition="#aq">Nulla dies ſine linea.</hi></p><lb/> <cb/> </div> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Aug</hi> </fw><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Augenpunkt.</hi><lb/> (Mahlerey.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>er Punkt in einem nach der Perſpektive gezeichne-<lb/> ten Gemaͤhlde, auf welchen die Richtung des Auges<lb/> geht. (S. Fig. Perſpektiv.) Man ſetze, <hi rendition="#aq">o g</hi> ſey die<lb/> Tafel, auf welche die Zeichnung zu verfertigen, das<lb/> Aug ſey in <hi rendition="#aq">i,</hi> und die Linie <hi rendition="#aq">i s</hi> die Richtung der<lb/> Axe des Auges, ſo iſt <hi rendition="#aq">s</hi> der Augenpunkt. Wenn<lb/> man ein Gemaͤhlde betrachtet, ſo iſt es natuͤrlich,<lb/> daß man ſich gerade davor ſtellt, und das Aug nach<lb/> der horizontalen Linie richtet: und ſo betrachtet man<lb/> auch insgemein jeden Gegenſtand.</p><lb/> <p>Aus dem, was wir in dem Artikel, Geſichtspunkt,<lb/> geſagt haben, erhellt, daß der Augenpunkt insgemein<lb/> mitten in der Tafel genommen wird. Dieſes ge-<lb/> ſchiehet allemal, wenn die Gegenſtaͤnde, ſo rechter<lb/> und linker Hand uͤber und unter dem Horizont lie-<lb/> gen, gleich gut muͤſſen ins Auge fallen. Man geht<lb/> alſo von dieſer Regel nur in den Faͤllen ab, wo<lb/> man einen von dieſen vier Theilen dem Geſichte vor-<lb/> zuͤglich darſtellen will. Wenn man z. E. mitten am<lb/> Eingange einer Gaſſe ſteht, und die eine Seite der-<lb/> ſelben |vorzuͤglich betrachten will, ſo kehrt man ſich<lb/> etwas gegen dieſelbe hin, und wenn man die Gaſſe<lb/> ſo zeichnen wollte, ſo wuͤrde man den Augenpunkt<lb/> nicht in der Mitte, ſondern naͤher gegen die Seite<lb/> nehmen, welche vorzuͤglich ins Auge fallen ſoll. Weil<lb/> aber die Linie <hi rendition="#aq">i s</hi> allezeit ſenkrecht auf die Tafel<lb/> faͤllt, (S. Perſpektiv) ſo ſteht alsdenn die Tafel<lb/> ſchief gegen die Straße.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Ausarbeitung.</hi><lb/> (Schoͤne Kuͤnſte.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>ie letzte, aber nicht unwichtigſte Arbeit des<lb/> Kuͤnſtlers, an ſeinem Werk. Durch die <hi rendition="#fr">Anlage</hi><lb/> werden die Haupttheile deſſelben blos nach dem<lb/> Weſentlichen ihrer Beſchaffenheit beſtimmt und ge-<lb/> ordnet; durch die <hi rendition="#fr">Ausfuͤhrung</hi> und <hi rendition="#fr">Ausbildung,</hi><lb/> werden die kleinern Theile der Haupttheile richtig<lb/> beſtimmt, wodurch das Werk vollſtaͤndig wird;<lb/> durch die Ausarbeitung aber wird alles Zufaͤllige<lb/> jedes einzelen Theiles auf das voͤlligſte beſtimmt,<lb/> und dadurch das Werk vollendet. Jn einem Por-<lb/> trait wuͤrde nach der bloßen Anlage das Bild im<lb/> Ganzen betrachtet in Anſehung der Zeichnung das<lb/> voͤllige Anſehen der Perſon bereits haben; jeder<lb/> Haupttheil wuͤrde uͤberhaupt in Anſehung des Co-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">lorits</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [94/0106]
Aug
Aug
Augenmaaß.
(Zeichnende Kuͤnſte.)
Die Fertigkeit, Formen, Groͤße und Verhaͤltniße
mit ſolcher Genauigkeit ins Auge zu faſſen, daß die
Einbildungskraft eine ganz genaue Vorſtellung da-
von hat. Jn zeichnenden Kuͤnſten iſt das Augen-
maaß das erſte und unentbehrlichſte Talent. Wo
dieſes fehlt, da hilft weder Zirkel noch Maaßſtab.
Der Zeichner muß, wie Michel Angelo ſich aus-
zudruͤken pflegte, den Zirkel im Auge und nicht in
der Hand haben, und einer der groͤßten Mahler
ſagt: die erſte Bemuͤhung eines Anfaͤngers ſoll ſeyn,
das Auge zur Richtigkeit zu gewoͤhnen; ſo daß er
dadurch faͤhig werde, alles nachmachen zu koͤn-
nen. (*) Nach eben dieſes großen Meiſters Urtheil,
hat Raphael ſelbſt einen guten Theil ſeiner Groͤße
dem Augenmaaß zu danken. Er ſetzt den Zeichner
nicht nur in Stand, jeden Gegenſtand nachzuah-
men, ſondern ihm auch einen Grad der Wahrheit
zu geben, der mit großer Kraft ruͤhret. (*) Wer
einmal von den in Papier ausgeſchnittenen Bildern
des bekannten Huberts von Genff etwas gefehen
hat, wird die große Wichtigkeit des Augenmaaßes
lebhaft fuͤhlen. Mit einer bewundrungswuͤrdigen
Wahrheit weiß dieſer außerordentliche Kuͤnſtler je-
den Gegenſtand blos durch ausſchneiden in Papier,
ohne vorher gegangene Zeichnung, darzuſtellen.
(*) Mengs
uͤber die
Schoͤnheit
und uͤber
den Ge-
ſchmak in
der Mahle-
rey. Vorre-
de. S. XIV.
(*) S.
Wahrheit.
Die Natur muß dazu, wie zu jedem Talente, die
Anlage geben; aber eine lange Uebung ſcheinet doch
allemal viel dazu beyzutragen. Faſt alle Mahler,
die zur Zeit der Wiederherſtellung der Kunſt gelebt
haben, beſaßen das Augenmaaß in einem ziemlich
hohen Grad. Man ſieht viele Zeichnungen und
Gemaͤhlde aus Albrecht Duͤrers Zeiten, die ſich
durch eine ſehr ſtarke Wahrheit empfehlen; ſchlecht
gemahlte Portraite, die blos von der Wahrheit der
Zeichnung einen großen Werth haben. Die Rich-
tigkeit des Auges, ſagt Mengs, hatten alle Mah-
ler dieſer Zeit; haͤtten alle ſo gut als Raphael ge-
waͤhlt; ſo wuͤrden ſie alle ſo gut als er gezeichnet
haben. (*) Dieſes iſt eine hoͤchſt wichtige Anmer-
kung fuͤr alle, die ſich auf zeichnende Kuͤnſte legen.
Sich unaufhoͤrlich im Augenmaaß uͤben, iſt ſchon
die Haͤlfte der Kunſt. Dahin zielt ohne Zweifel
auch der dem Apelles zugeſchriebene Wahlſpruch:
Nulla dies ſine linea.
(*) Jn dem
angeſuͤhr-
ten Werk.
S. 49.
Augenpunkt.
(Mahlerey.)
Der Punkt in einem nach der Perſpektive gezeichne-
ten Gemaͤhlde, auf welchen die Richtung des Auges
geht. (S. Fig. Perſpektiv.) Man ſetze, o g ſey die
Tafel, auf welche die Zeichnung zu verfertigen, das
Aug ſey in i, und die Linie i s die Richtung der
Axe des Auges, ſo iſt s der Augenpunkt. Wenn
man ein Gemaͤhlde betrachtet, ſo iſt es natuͤrlich,
daß man ſich gerade davor ſtellt, und das Aug nach
der horizontalen Linie richtet: und ſo betrachtet man
auch insgemein jeden Gegenſtand.
Aus dem, was wir in dem Artikel, Geſichtspunkt,
geſagt haben, erhellt, daß der Augenpunkt insgemein
mitten in der Tafel genommen wird. Dieſes ge-
ſchiehet allemal, wenn die Gegenſtaͤnde, ſo rechter
und linker Hand uͤber und unter dem Horizont lie-
gen, gleich gut muͤſſen ins Auge fallen. Man geht
alſo von dieſer Regel nur in den Faͤllen ab, wo
man einen von dieſen vier Theilen dem Geſichte vor-
zuͤglich darſtellen will. Wenn man z. E. mitten am
Eingange einer Gaſſe ſteht, und die eine Seite der-
ſelben |vorzuͤglich betrachten will, ſo kehrt man ſich
etwas gegen dieſelbe hin, und wenn man die Gaſſe
ſo zeichnen wollte, ſo wuͤrde man den Augenpunkt
nicht in der Mitte, ſondern naͤher gegen die Seite
nehmen, welche vorzuͤglich ins Auge fallen ſoll. Weil
aber die Linie i s allezeit ſenkrecht auf die Tafel
faͤllt, (S. Perſpektiv) ſo ſteht alsdenn die Tafel
ſchief gegen die Straße.
Ausarbeitung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Die letzte, aber nicht unwichtigſte Arbeit des
Kuͤnſtlers, an ſeinem Werk. Durch die Anlage
werden die Haupttheile deſſelben blos nach dem
Weſentlichen ihrer Beſchaffenheit beſtimmt und ge-
ordnet; durch die Ausfuͤhrung und Ausbildung,
werden die kleinern Theile der Haupttheile richtig
beſtimmt, wodurch das Werk vollſtaͤndig wird;
durch die Ausarbeitung aber wird alles Zufaͤllige
jedes einzelen Theiles auf das voͤlligſte beſtimmt,
und dadurch das Werk vollendet. Jn einem Por-
trait wuͤrde nach der bloßen Anlage das Bild im
Ganzen betrachtet in Anſehung der Zeichnung das
voͤllige Anſehen der Perſon bereits haben; jeder
Haupttheil wuͤrde uͤberhaupt in Anſehung des Co-
lorits
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |