Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Aus Hier reißt ein schwach Geschlecht, mit immer vollem Herzen, Diese Vollkommenheit des Ausdruks ist vielleicht Die Rede ist die größte Erfindung des menschli- Es sind zwey Mittel zum vollkommenen Aus- Die Richtigkeit, die erste nothwendige Eigenschaft -- -- am Tage, So giebt das Wörtchen ein anstatt des Artikels, Aus größtett Richtigkeit des Ausdruks entgegen ist.Es kommt hiebey ofte auf fast unmerkliche Kleinig- keiten an. Auch dem scharfsinnigsten entschlüpft etwas unrichtiges, wie mit Beyspielen aus den besten neuern Dichtern zu beweisen wäre. Daß wir dieses an alten weniger bemerken, kommt ver- muthlich daher, daß wir ihre Sprachen nicht ge- nug verstehen, um von kleinen Unrichtigkeiten des Ausdruks zu urtheilen. Nur eine genaue Ausar- beitung kann uns von dieser Seite her sicher stellen. Die den erwähnten guten Eigenschaften des - - kaum spielt die Ranunkel endlich merken, was der Dichter mit dem ganz un- Den, der Neptun und der Aeol gebäudigt, so merken wir, daß er sagen will, sein Name sey Die Klarheit ist eine andre nothwendige, nach selbst
[Spaltenumbruch]
Aus Hier reißt ein ſchwach Geſchlecht, mit immer vollem Herzen, Dieſe Vollkommenheit des Ausdruks iſt vielleicht Die Rede iſt die groͤßte Erfindung des menſchli- Es ſind zwey Mittel zum vollkommenen Aus- Die Richtigkeit, die erſte nothwendige Eigenſchaft — — am Tage, So giebt das Woͤrtchen ein anſtatt des Artikels, Aus groͤßtett Richtigkeit des Ausdruks entgegen iſt.Es kommt hiebey ofte auf faſt unmerkliche Kleinig- keiten an. Auch dem ſcharfſinnigſten entſchluͤpft etwas unrichtiges, wie mit Beyſpielen aus den beſten neuern Dichtern zu beweiſen waͤre. Daß wir dieſes an alten weniger bemerken, kommt ver- muthlich daher, daß wir ihre Sprachen nicht ge- nug verſtehen, um von kleinen Unrichtigkeiten des Ausdruks zu urtheilen. Nur eine genaue Ausar- beitung kann uns von dieſer Seite her ſicher ſtellen. Die den erwaͤhnten guten Eigenſchaften des ‒ ‒ kaum ſpielt die Ranunkel endlich merken, was der Dichter mit dem ganz un- Den, der Neptun und der Aeol gebaͤudigt, ſo merken wir, daß er ſagen will, ſein Name ſey Die Klarheit iſt eine andre nothwendige, nach ſelbſt
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Selbſt die Vernunft, die Empfin-<lb/> dungen und die Sitten, wodurch der Menſch ſich<lb/> aus der Claſſe irdiſcher Weſen zu einem hoͤhern<lb/> Rang herauf ſchwingt, hangen davon ab. Wer<lb/> die Sprache vollkommener macht, der hebt den<lb/> Menſchen einen Grad hoͤher. Schon dadurch al-<lb/> lein verdienen die Beredſamkeit und Dichtkunſt<lb/> die hoͤchſte Achtung.</p><lb/> <p>Es ſind zwey Mittel zum vollkommenen Aus-<lb/> druk zu gelangen; die Kenntniß aller Woͤrter der<lb/> Sprache und eine philoſophiſche Kenntnis ihrer<lb/> Bedeutung. Beyde muͤſſen mit einander verbun-<lb/> den werden. Es hilft nichts, daß man beſtimmt<lb/> denke, wenn man die Woͤrter nicht findet, jeden<lb/> Begriff auszudruͤken; noch weniger hilft es alle<lb/> Woͤrter zu wiſſen, wenn man ihrer Bedeutung<lb/> nicht gewiß iſt. Das Studium der Sprache in<lb/> dieſer doppelten Abſicht, iſt von der groͤßten Noth-<lb/> wendigkeit. Wer ſich immer richtig ausdruͤken<lb/> will, der muß durch den Umgang oder durch das<lb/> Leſen einen Reichthum an Woͤrtern und Redensar-<lb/><note place="left">(*) <hi rendition="#aq">Copia<lb/> verborum.</hi></note>ten (*) geſammelt, und alle mit Scharfſinnig-<lb/> keit beurtheilt haben. Dadurch haben ſich alle<lb/> große Redner und Dichter hervor gethan.</p><lb/> <p>Die Richtigkeit, die erſte nothwendige Eigenſchaft<lb/> des Ausdruks, betrift nicht blos Woͤrter, ſondern<lb/> die Saͤtze und die Wendungen derſelben. Nur ein<lb/> Wort unrecht geſtellt, nur eine nicht genau uͤber-<lb/> legte Anwendung eines Vorworts, kann dem gan-<lb/> zen Satz etwas unrichtiges geben. Wenn die Kar-<lb/> ſchin ſagt.</p><lb/> <cit> <quote>— — am Tage,<lb/> Den ein erſchaffender Gott,<lb/> Nach der vollendeten Schoͤpfung,<lb/> Hochheilig machte der Ruh!</quote> </cit><lb/> <p>So giebt das Woͤrtchen ein anſtatt des Artikels,<lb/> dem ganzen Satz etwas unbeſtimmtes, das der<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Aus</hi></fw><lb/> groͤßtett Richtigkeit des Ausdruks entgegen iſt.<lb/> Es kommt hiebey ofte auf faſt unmerkliche Kleinig-<lb/> keiten an. Auch dem ſcharfſinnigſten entſchluͤpft<lb/> etwas unrichtiges, wie mit Beyſpielen aus den<lb/> beſten neuern Dichtern zu beweiſen waͤre. Daß<lb/> wir dieſes an alten weniger bemerken, kommt ver-<lb/> muthlich daher, daß wir ihre Sprachen nicht ge-<lb/> nug verſtehen, um von kleinen Unrichtigkeiten des<lb/> Ausdruks zu urtheilen. 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Aus
Aus
Hier reißt ein ſchwach Geſchlecht, mit immer vollem Herzen,
Von eingebildter Ruh und allzu wahrem Schmerzen;
Wo nagende Begierd und falſche Hoffnung wallt,
Zur ernſten Ewigkeit. Jm kurzen Aufenthalt
Des nimmer ruhigen und ungefuͤhlten Lebens
Schnapt ihr betroguer Geiſt nach aͤchtem Gut vergebens (*)
Dieſe Vollkommenheit des Ausdruks iſt vielleicht
der wichtigſte Theil der Kunſt des Redners und des
Dichters. Wer ſie beſitzt, iſt ſicher, daß er allemal
ſagen kann, was er ſagen will.
Die Rede iſt die groͤßte Erfindung des menſchli-
chen Verſtandes, gegen die alle andre fuͤr nichts zu
rechnen ſind. Selbſt die Vernunft, die Empfin-
dungen und die Sitten, wodurch der Menſch ſich
aus der Claſſe irdiſcher Weſen zu einem hoͤhern
Rang herauf ſchwingt, hangen davon ab. Wer
die Sprache vollkommener macht, der hebt den
Menſchen einen Grad hoͤher. Schon dadurch al-
lein verdienen die Beredſamkeit und Dichtkunſt
die hoͤchſte Achtung.
Es ſind zwey Mittel zum vollkommenen Aus-
druk zu gelangen; die Kenntniß aller Woͤrter der
Sprache und eine philoſophiſche Kenntnis ihrer
Bedeutung. Beyde muͤſſen mit einander verbun-
den werden. Es hilft nichts, daß man beſtimmt
denke, wenn man die Woͤrter nicht findet, jeden
Begriff auszudruͤken; noch weniger hilft es alle
Woͤrter zu wiſſen, wenn man ihrer Bedeutung
nicht gewiß iſt. Das Studium der Sprache in
dieſer doppelten Abſicht, iſt von der groͤßten Noth-
wendigkeit. Wer ſich immer richtig ausdruͤken
will, der muß durch den Umgang oder durch das
Leſen einen Reichthum an Woͤrtern und Redensar-
ten (*) geſammelt, und alle mit Scharfſinnig-
keit beurtheilt haben. Dadurch haben ſich alle
große Redner und Dichter hervor gethan.
(*) Copia
verborum.
Die Richtigkeit, die erſte nothwendige Eigenſchaft
des Ausdruks, betrift nicht blos Woͤrter, ſondern
die Saͤtze und die Wendungen derſelben. Nur ein
Wort unrecht geſtellt, nur eine nicht genau uͤber-
legte Anwendung eines Vorworts, kann dem gan-
zen Satz etwas unrichtiges geben. Wenn die Kar-
ſchin ſagt.
— — am Tage,
Den ein erſchaffender Gott,
Nach der vollendeten Schoͤpfung,
Hochheilig machte der Ruh!
So giebt das Woͤrtchen ein anſtatt des Artikels,
dem ganzen Satz etwas unbeſtimmtes, das der
groͤßtett Richtigkeit des Ausdruks entgegen iſt.
Es kommt hiebey ofte auf faſt unmerkliche Kleinig-
keiten an. Auch dem ſcharfſinnigſten entſchluͤpft
etwas unrichtiges, wie mit Beyſpielen aus den
beſten neuern Dichtern zu beweiſen waͤre. Daß
wir dieſes an alten weniger bemerken, kommt ver-
muthlich daher, daß wir ihre Sprachen nicht ge-
nug verſtehen, um von kleinen Unrichtigkeiten des
Ausdruks zu urtheilen. Nur eine genaue Ausar-
beitung kann uns von dieſer Seite her ſicher ſtellen.
Die den erwaͤhnten guten Eigenſchaften des
Ausdruks entgegen ſtehende Maͤngel machen, daß
der Redner bisweilen feinen Zwek verfehlt und
etwas anders ſagt, als er hat ſagen wollen. Soll-
te auch der Leſer durch mehr Scharfſinn, als der
Verfaſſer gehabt hat, ihn des unrichtigen Aus-
druks ungeachtet verſtehen, ſo wird er doch unan-
genehm. Wir koͤnnen bey folgender Stelle:
‒ ‒ kaum ſpielt die Ranunkel
Auf der Rabatte mit ſolchen hellen abwechſelnden Farben,
Als der durchſichtige Ton, von Meiſterhaͤnden beſeelet.
endlich merken, was der Dichter mit dem ganz un-
richtigen Ausdruke beſeelet, hat ſagen wollen. Deſſen
ungeachtet iſt er uns zuwider. Wenn ein andrer
Dichter ſagt:
Den, der Neptun und der Aeol gebaͤudigt,
— — — —
Verhuͤllt das Grab.
ſo merken wir, daß er ſagen will, ſein Name ſey
nicht bis auf uns gekommen; aber wir fuͤhlen,
daß der Ausdruk dieſes nicht ſagt; deswegen iſt er
uns anſtoͤßig.
Die Klarheit iſt eine andre nothwendige, nach
Quintilian die vornehmſte, (*) Eigenſchaft des Aus-
druks. Redner und Dichter muͤſſen den Geiſt der
Zuhoͤrer in einer beſtaͤndigen Aufmerkſamkeit erhal-
ten. Dazu iſt die Klarheit des Ausdruks allezeit
nothwendig. (*) Wo ſie fehlt, da gehen nicht blos
die Vorſtellungen verlohren, die in Nebel eingehuͤllt
ſind; auch die, welche gleich darauf folgen, werden
wegen Mangel der Aufmerkſamkeit ſchwaͤcher. Die
Rede wird klar, wenn jedes Wort einen genau be-
kannten Sinn hat, und wenn die Woͤrter ſo geſetzt
ſind, daß die Verbindung der Begriffe leicht zu
faſſen iſt. Beydes ſetzt die groͤßte Klarheit in den
Gedanken des Redners voraus. Es iſt deswegen
eine wichtige Regel, daß man nichts eher auszu-
druͤken ſuche, bis man es mit der groͤßten Klarheit
ſelbſt
(*) Nobis
prima ſit
Virtus
perſpicui-
tas. L. VIII.
c. 2. 22.
(*) S.
Klarheit.
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