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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Aus
selbst gefaßt habe. Die Gedanken, die wir andern
mittheilen wollen, müssen, wie ein schönes Gemähl-
de, deutlich in unsrer Vorstellung liegen. So hat
Homer ohne Zweifel jeden Gegenstand, den er be-
schreibt, in dem hellesten Lichte vor seinen Augen
gehabt. Nur der, welcher hell denkt, kann sich
deutlich ausdrüken. Dieses lernt man nicht durch
Regeln: von der Natur haben gewisse Geister die
unschätzbare Eigenschaft, sich nicht eher zu beruhi-
gen, bis sie alles, was ihnen vorkömmt, deutlich er-
kennt haben. Wenn man solche Schriftsteller liest,
die die Gabe der Deutlichkeit in einem hohen Gra-
de haben, wenn man sieht, wie sie so viel Gedanken,
die wir auch schon gehabt, aber nicht so deutlich ge-
faßt hatten, mit dem hellesten Lichte darstellen, so
kömmt man auf den Gedanken, daß solche Genie
sich von andern blos dadurch unterscheiden, daß sie
jeder Sache so lange nachdenken, sich bey jedem
Gegenstande so lange verweilen, bis sie alles auf
das genaueste gefaßt haben Diese Gabe des ge-
nauen Nachforschens, in Absicht auf allgemeine
Begriffe, macht vornehmlich das philosophische Ge-
nie aus; in Absicht auf sinnliche Gegenstände aber,
das Genie des Künstlers. Jn der Rede müssen zur
Deutlichkeit des Ausdruks beyde zusammen kom-
men.

Ein gutes Mittel, das zum deutlichen Ausdruk
nöthige Talent zu stärken, ist das fleißige Lesen der
Schriftsteller, die es selbst in einem hohen Grad
besessen haben. Für den Ausdruk sinnlicher Ge-
genstände, Homer und Virgil, Sophokles und Eu-
ripides; für den Ausdruk sittlicher und philosophi-
scher Gegenstände, Aristophanes, Plautus, Horaz,
Cicero, Quintilian, und unter den neuern, Voltai-
re und Rousseau aus Genf.

Dem, der hell denkt, wird es selten am hellen
Ausdruk fehlen. Doch ist hierüber noch verschie-
denes zu erinnern. Quintilian faßt die Eigenschaf-
ten des deutlichen Ausdruks in diefe wenige Worte
zusammen: eigentliche Wörter, gute Ordnung, ei-
nen nicht allzu lange aufgeschobenen Schluß des
Satzes, nichts mangelndes und nichts überflüßi-
ges. [Spaltenumbruch] (+) Die eigentlichen Wörter sind doch nicht
allemal ohne Ausnahme zum hellen Ausdruk noth-
wendig. Denn ofte wird ein Begriff durch ein
[Spaltenumbruch]

Aus
uneigentliches Wort deutlicher gezeichnet, und hel-
ler gemahlt, als durch das eigentliche; wie wenn
Haller sagt:

Da ein verwöhnter Sinn auf alles Wermuth streut.

Der eigentliche Ausdruk dienet fürnehmlich in ganz
einfachen Vorstellungen zur Deutlichkeit; aber wo
die Begriffe sehr zusammen gesetzt, und die Vor-
stellung etwas weitläuftig ist, da dienet ein metapho-
rischer und mahlerischer Ausdruk ungemein zur
Deutlichkeit. Er überhebt uns der umständlichen
Entwiklung, die wegen ihrer Länge der Deutlich-
keit schadet. Denn viel auf einmal kann nur ver-
mittelst eines Bildes klar gefaßt werden. Es ist
eine Regel, die kaum eine Ausnahme leidet, daß
Begriffe und Gedanken, die aus viel einzeln Vor-
stellungen zusammen gesetzt sind, nur durch glükliche
Bilder klar ausgedrükt werden. Welcher eigentli-
che Ausdruk könnte das, was Cicero nundinationem
iuris ac fortunarum
nennt, (*) eben so deutlich aus-(*) De Le-
ge agr. Or.
I.

drüken?

Das wichtigste in Quintilians Regel ist wol
dieses: daß so wol der Mangel als der Ueberfluß im
Ausdruk zu vermeiden sey. Nebenbegriffe, die in
der Sache nichts bezeichnen, oder die jedem auf-
merksamen Zuhörer ohne dem beyfallen, besonders
ausdrüken, ist Ueberfluß; nothwendige Begriffe
weg lassen, ist Mangel.

Wörter, die neu, oder wenig bekannt, oder aus
andern Sprachen geborget sind, können der Deut-
lichkeit des Ausdruks schaden; wiewol sie es nicht
allezeit thun. Wenn die Karschin sagt:

Kein Menschenarm erhält das Glüke bändig,

so ist der Ausdruk ganz neu, aber nicht undeutlich.

Da es nicht wol möglich ist, auch vielleicht un-
nütze wäre, gar alle Arten der Fälle anzuführen, in
welchen die Deutlichkeit Schaden leidet, so wollen
wir hierüber nicht weitläuftiger seyn. Auf alle
Fragen, die hierüber könnten gemacht werden, kann
die einzige allgemeine Antwort dienen: hell denken.

Die letzte nothwendige Eigenschaft des Ausdruks
ist die Reinigkeit, oder die grammatische Richtig-
keit desselben. Was außer dem Gebrauch ist, kann
wegen seiner Neuigkeit gute Würkung thun; aber
was gerade gegen den Gebrauch ist, hat allemal et-
was anstößiges, weil es dem widerspricht, was wir

schon
(+) Propria verba, rectus ordo, non in Iongum dilata
conclusio; nihil neque desit, neque superfluat. Ita sermo
[Spaltenumbruch] et doctis probabilis et planus imperitis erit. Inst. L. VIII.
c.
2, 22.

[Spaltenumbruch]

Aus
ſelbſt gefaßt habe. Die Gedanken, die wir andern
mittheilen wollen, muͤſſen, wie ein ſchoͤnes Gemaͤhl-
de, deutlich in unſrer Vorſtellung liegen. So hat
Homer ohne Zweifel jeden Gegenſtand, den er be-
ſchreibt, in dem helleſten Lichte vor ſeinen Augen
gehabt. Nur der, welcher hell denkt, kann ſich
deutlich ausdruͤken. Dieſes lernt man nicht durch
Regeln: von der Natur haben gewiſſe Geiſter die
unſchaͤtzbare Eigenſchaft, ſich nicht eher zu beruhi-
gen, bis ſie alles, was ihnen vorkoͤmmt, deutlich er-
kennt haben. Wenn man ſolche Schriftſteller lieſt,
die die Gabe der Deutlichkeit in einem hohen Gra-
de haben, wenn man ſieht, wie ſie ſo viel Gedanken,
die wir auch ſchon gehabt, aber nicht ſo deutlich ge-
faßt hatten, mit dem helleſten Lichte darſtellen, ſo
koͤmmt man auf den Gedanken, daß ſolche Genie
ſich von andern blos dadurch unterſcheiden, daß ſie
jeder Sache ſo lange nachdenken, ſich bey jedem
Gegenſtande ſo lange verweilen, bis ſie alles auf
das genaueſte gefaßt haben Dieſe Gabe des ge-
nauen Nachforſchens, in Abſicht auf allgemeine
Begriffe, macht vornehmlich das philoſophiſche Ge-
nie aus; in Abſicht auf ſinnliche Gegenſtaͤnde aber,
das Genie des Kuͤnſtlers. Jn der Rede muͤſſen zur
Deutlichkeit des Ausdruks beyde zuſammen kom-
men.

Ein gutes Mittel, das zum deutlichen Ausdruk
noͤthige Talent zu ſtaͤrken, iſt das fleißige Leſen der
Schriftſteller, die es ſelbſt in einem hohen Grad
beſeſſen haben. Fuͤr den Ausdruk ſinnlicher Ge-
genſtaͤnde, Homer und Virgil, Sophokles und Eu-
ripides; fuͤr den Ausdruk ſittlicher und philoſophi-
ſcher Gegenſtaͤnde, Ariſtophanes, Plautus, Horaz,
Cicero, Quintilian, und unter den neuern, Voltai-
re und Rouſſeau aus Genf.

Dem, der hell denkt, wird es ſelten am hellen
Ausdruk fehlen. Doch iſt hieruͤber noch verſchie-
denes zu erinnern. Quintilian faßt die Eigenſchaf-
ten des deutlichen Ausdruks in diefe wenige Worte
zuſammen: eigentliche Woͤrter, gute Ordnung, ei-
nen nicht allzu lange aufgeſchobenen Schluß des
Satzes, nichts mangelndes und nichts uͤberfluͤßi-
ges. [Spaltenumbruch] (†) Die eigentlichen Woͤrter ſind doch nicht
allemal ohne Ausnahme zum hellen Ausdruk noth-
wendig. Denn ofte wird ein Begriff durch ein
[Spaltenumbruch]

Aus
uneigentliches Wort deutlicher gezeichnet, und hel-
ler gemahlt, als durch das eigentliche; wie wenn
Haller ſagt:

Da ein verwoͤhnter Sinn auf alles Wermuth ſtreut.

Der eigentliche Ausdruk dienet fuͤrnehmlich in ganz
einfachen Vorſtellungen zur Deutlichkeit; aber wo
die Begriffe ſehr zuſammen geſetzt, und die Vor-
ſtellung etwas weitlaͤuftig iſt, da dienet ein metapho-
riſcher und mahleriſcher Ausdruk ungemein zur
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Entwiklung, die wegen ihrer Laͤnge der Deutlich-
keit ſchadet. Denn viel auf einmal kann nur ver-
mittelſt eines Bildes klar gefaßt werden. Es iſt
eine Regel, die kaum eine Ausnahme leidet, daß
Begriffe und Gedanken, die aus viel einzeln Vor-
ſtellungen zuſammen geſetzt ſind, nur durch gluͤkliche
Bilder klar ausgedruͤkt werden. Welcher eigentli-
che Ausdruk koͤnnte das, was Cicero nundinationem
iuris ac fortunarum
nennt, (*) eben ſo deutlich aus-(*) De Le-
ge agr. Or.
I.

druͤken?

Das wichtigſte in Quintilians Regel iſt wol
dieſes: daß ſo wol der Mangel als der Ueberfluß im
Ausdruk zu vermeiden ſey. Nebenbegriffe, die in
der Sache nichts bezeichnen, oder die jedem auf-
merkſamen Zuhoͤrer ohne dem beyfallen, beſonders
ausdruͤken, iſt Ueberfluß; nothwendige Begriffe
weg laſſen, iſt Mangel.

Woͤrter, die neu, oder wenig bekannt, oder aus
andern Sprachen geborget ſind, koͤnnen der Deut-
lichkeit des Ausdruks ſchaden; wiewol ſie es nicht
allezeit thun. Wenn die Karſchin ſagt:

Kein Menſchenarm erhaͤlt das Gluͤke baͤndig,

ſo iſt der Ausdruk ganz neu, aber nicht undeutlich.

Da es nicht wol moͤglich iſt, auch vielleicht un-
nuͤtze waͤre, gar alle Arten der Faͤlle anzufuͤhren, in
welchen die Deutlichkeit Schaden leidet, ſo wollen
wir hieruͤber nicht weitlaͤuftiger ſeyn. Auf alle
Fragen, die hieruͤber koͤnnten gemacht werden, kann
die einzige allgemeine Antwort dienen: hell denken.

Die letzte nothwendige Eigenſchaft des Ausdruks
iſt die Reinigkeit, oder die grammatiſche Richtig-
keit deſſelben. Was außer dem Gebrauch iſt, kann
wegen ſeiner Neuigkeit gute Wuͤrkung thun; aber
was gerade gegen den Gebrauch iſt, hat allemal et-
was anſtoͤßiges, weil es dem widerſpricht, was wir

ſchon
(†) Propria verba, rectus ordo, non in Iongum dilata
concluſio; nihil neque deſit, neque ſuperfluat. Ita ſermo
[Spaltenumbruch] et doctis probabilis et planus imperitis erit. Inſt. L. VIII.
c.
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[103/0115] Aus Aus ſelbſt gefaßt habe. Die Gedanken, die wir andern mittheilen wollen, muͤſſen, wie ein ſchoͤnes Gemaͤhl- de, deutlich in unſrer Vorſtellung liegen. So hat Homer ohne Zweifel jeden Gegenſtand, den er be- ſchreibt, in dem helleſten Lichte vor ſeinen Augen gehabt. Nur der, welcher hell denkt, kann ſich deutlich ausdruͤken. Dieſes lernt man nicht durch Regeln: von der Natur haben gewiſſe Geiſter die unſchaͤtzbare Eigenſchaft, ſich nicht eher zu beruhi- gen, bis ſie alles, was ihnen vorkoͤmmt, deutlich er- kennt haben. Wenn man ſolche Schriftſteller lieſt, die die Gabe der Deutlichkeit in einem hohen Gra- de haben, wenn man ſieht, wie ſie ſo viel Gedanken, die wir auch ſchon gehabt, aber nicht ſo deutlich ge- faßt hatten, mit dem helleſten Lichte darſtellen, ſo koͤmmt man auf den Gedanken, daß ſolche Genie ſich von andern blos dadurch unterſcheiden, daß ſie jeder Sache ſo lange nachdenken, ſich bey jedem Gegenſtande ſo lange verweilen, bis ſie alles auf das genaueſte gefaßt haben Dieſe Gabe des ge- nauen Nachforſchens, in Abſicht auf allgemeine Begriffe, macht vornehmlich das philoſophiſche Ge- nie aus; in Abſicht auf ſinnliche Gegenſtaͤnde aber, das Genie des Kuͤnſtlers. Jn der Rede muͤſſen zur Deutlichkeit des Ausdruks beyde zuſammen kom- men. Ein gutes Mittel, das zum deutlichen Ausdruk noͤthige Talent zu ſtaͤrken, iſt das fleißige Leſen der Schriftſteller, die es ſelbſt in einem hohen Grad beſeſſen haben. Fuͤr den Ausdruk ſinnlicher Ge- genſtaͤnde, Homer und Virgil, Sophokles und Eu- ripides; fuͤr den Ausdruk ſittlicher und philoſophi- ſcher Gegenſtaͤnde, Ariſtophanes, Plautus, Horaz, Cicero, Quintilian, und unter den neuern, Voltai- re und Rouſſeau aus Genf. Dem, der hell denkt, wird es ſelten am hellen Ausdruk fehlen. Doch iſt hieruͤber noch verſchie- denes zu erinnern. Quintilian faßt die Eigenſchaf- ten des deutlichen Ausdruks in diefe wenige Worte zuſammen: eigentliche Woͤrter, gute Ordnung, ei- nen nicht allzu lange aufgeſchobenen Schluß des Satzes, nichts mangelndes und nichts uͤberfluͤßi- ges. (†) Die eigentlichen Woͤrter ſind doch nicht allemal ohne Ausnahme zum hellen Ausdruk noth- wendig. Denn ofte wird ein Begriff durch ein uneigentliches Wort deutlicher gezeichnet, und hel- ler gemahlt, als durch das eigentliche; wie wenn Haller ſagt: Da ein verwoͤhnter Sinn auf alles Wermuth ſtreut. Der eigentliche Ausdruk dienet fuͤrnehmlich in ganz einfachen Vorſtellungen zur Deutlichkeit; aber wo die Begriffe ſehr zuſammen geſetzt, und die Vor- ſtellung etwas weitlaͤuftig iſt, da dienet ein metapho- riſcher und mahleriſcher Ausdruk ungemein zur Deutlichkeit. Er uͤberhebt uns der umſtaͤndlichen Entwiklung, die wegen ihrer Laͤnge der Deutlich- keit ſchadet. Denn viel auf einmal kann nur ver- mittelſt eines Bildes klar gefaßt werden. Es iſt eine Regel, die kaum eine Ausnahme leidet, daß Begriffe und Gedanken, die aus viel einzeln Vor- ſtellungen zuſammen geſetzt ſind, nur durch gluͤkliche Bilder klar ausgedruͤkt werden. Welcher eigentli- che Ausdruk koͤnnte das, was Cicero nundinationem iuris ac fortunarum nennt, (*) eben ſo deutlich aus- druͤken? (*) De Le- ge agr. Or. I. Das wichtigſte in Quintilians Regel iſt wol dieſes: daß ſo wol der Mangel als der Ueberfluß im Ausdruk zu vermeiden ſey. Nebenbegriffe, die in der Sache nichts bezeichnen, oder die jedem auf- merkſamen Zuhoͤrer ohne dem beyfallen, beſonders ausdruͤken, iſt Ueberfluß; nothwendige Begriffe weg laſſen, iſt Mangel. Woͤrter, die neu, oder wenig bekannt, oder aus andern Sprachen geborget ſind, koͤnnen der Deut- lichkeit des Ausdruks ſchaden; wiewol ſie es nicht allezeit thun. Wenn die Karſchin ſagt: Kein Menſchenarm erhaͤlt das Gluͤke baͤndig, ſo iſt der Ausdruk ganz neu, aber nicht undeutlich. Da es nicht wol moͤglich iſt, auch vielleicht un- nuͤtze waͤre, gar alle Arten der Faͤlle anzufuͤhren, in welchen die Deutlichkeit Schaden leidet, ſo wollen wir hieruͤber nicht weitlaͤuftiger ſeyn. Auf alle Fragen, die hieruͤber koͤnnten gemacht werden, kann die einzige allgemeine Antwort dienen: hell denken. Die letzte nothwendige Eigenſchaft des Ausdruks iſt die Reinigkeit, oder die grammatiſche Richtig- keit deſſelben. Was außer dem Gebrauch iſt, kann wegen ſeiner Neuigkeit gute Wuͤrkung thun; aber was gerade gegen den Gebrauch iſt, hat allemal et- was anſtoͤßiges, weil es dem widerſpricht, was wir ſchon (†) Propria verba, rectus ordo, non in Iongum dilata concluſio; nihil neque deſit, neque ſuperfluat. Ita ſermo et doctis probabilis et planus imperitis erit. Inſt. L. VIII. c. 2, 22.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/115>, abgerufen am 28.04.2024.