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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus
man von den heutigen allzu sehr mit Zierrathen über-
häuften Außenseiten wieder auf die Einfalt der
Griechen zurük kehre, die mehr auf das Große,
auf das blos regelmäßige und ordentliche, als auf
den aus der Menge der Theile entstehenden Reich-
thum gesehen haben. Man muß immer bedenken,
daß die Außenseiten mehr dienen, von weitem einen
guten Begriff vom Ganzen zu erweken, als den
Zuschauer davor stille stehen zu machen, um jede
Säule oder jedes Fenster, oder wol gar noch kleine-
re Theile, Stunden lang anzusehen.

So wie die innere Anordnung uns mißfallen
würde, wenn sie winklicht, und wenn zwischen
den großen Zimmern viel kleinere unregelmäßige
Verschläge wären, so muß auch einem von gutem
Geschmake geleiteten Auge die Anordnung einer Aus-
senseite mißfallen, auf deren Fläche viel kleines und
winklichtes zu sehen ist. S. Anordnung.

Ausweichung.
(Musik.)

Ausweichen heißt in der Musik aus dem Ton, wor-
in man eine Zeitlang den Gesang und die Harmo-
(*) S. Ton.nie geführt hat, (*) in einen andern Ton herüber
gehen. Dieses geschieht in der heutigen Musik in
jedem Tonstük, und in den längern Stüken vielmal,
so wol die nöthige Abwechslung empfinden zu las-
sen, als um den Ausdruk desto vollkommener zu er-
reichen.

Jnsgemein bleibt der Gesang anfänglich eine
Zeitlang in dem Tone, worin er anfängt; hernach
weicht er nach und nach in verschiedene andre Töne
aus; und endiget sich zuletzt wieder in dem Haupt-
ton, aus welchem das Stük gesetzt ist.

Jeder Ton hat seinen eigenen Charakter, ein
Gepräge, wodurch er sich von allen andern unter-
scheidet. Das Ohr fühlt dieses, so bald der Ton,
worin modulirt worden, verlassen, und gegen einen
andern vertauscht wird. Aber ein Ton sti[ch]t gegen
einen andern mehr oder weniger ab; und darin
verhalten sie sich, wie die Farben, unter denen
ebenfalls mehr oder weniger Uebereinkunft oder
Verwandtschaft ist. Führt man den Gesang so durch
verschiedene Töne, daß immer der folgende wenig
von dem vorhergehenden absticht, so empfindet das
Ohr eine angenehme Abwechslung, in welcher nichts
abgebrochenes, nichts hartes, nichts ohne den ge-
nauesten Zusammenhang ist. Dergleichen Gesang
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Aus
schikt sich zu sanften und stillen Empfindungen. Hin-
gegen würden solche, da der Affekt ofte und plötzlich
abwechselt, sehr wol durch einen Gesang können
ausgedrukt werden, der den Ton oft und plötzlich
ändert, und da die auf einander folgenden Töne
stark gegen einander abstechen.

Da überhaupt das Gehör in der Musik niemals
beleidiget werden darf, so muß man diese Uebergänge
in andre Töne, oder die Ausweichungen allemal so
zu machen wissen, daß nichts gezwungenes, nichts
abgerissenes darin sey: wiewol auch dieses in Fäl-
len, da ein widriger Affekt es erfoderte, mit Vortheil
könnte gebraucht werden.

Nach diesen allgemeinen Anmerkungen sind hier
zwey Punkte auszumachen. 1) Wie weicht man
aus einer Tonart in eine andre aus? 2) Was hat
man in Ansehung der Wahl der Tonart, in die man
ausweichen will, und der Zeit, in der man sich dar-
in auf halten kann, zu überlegen?

1) Jede Tonart hat, wie bekannt, die ihr eigene
Tonleiter, wodurch sie sich von allen andern unter-
scheidet. Jn dieser Tonart modulirt man, so lange
man keine andre Töne hören läßt, als die in der
Tonleiter derselben liegen: so bald aber ein andrer
Ton gehört wird, so bekömmt das Ohr einen Wink,
daß man die bisherige Tonart verlassen, und in eine
andre gehen wolle. Wenn man in C dur spielt,
und läßt irgendwo Fis oder Gis hören, so empfindet
das Ohr, daß die bisherige Tonart soll verlassen
werden; weil in der C dur eigenen Tonleiter C,
D, E, F, G, A, H,
weder Fis noch Gis vorkömmt.

Dieser bloße Wink aber ist noch kein würklicher
Uebergang in einen andern Ton; doch kündiget er
die Ausweichung an. Diese Ankündigung muß nun
so geschehen, daß der Ton, dahin man gehen will,
bezeichnet werde, oder daß das Ohr ihn erwarte.
Folget auf diese Erwartung ein Accord, der der neuen
Tonart eigenthümlich zugehört, so ist die Auswei-
chung vollendet, und man befindet sich nun völlig
in dem neuen Ton, in welchem man nun fort mo-
duliren kann.

Hier ist nun wieder die Frage, wie man den
neuen Ton, dahin man ausweichen will, ankündi-
ge? dieses kann auf mehrerley Weise geschehen,
und ist verschieden, nach Beschaffenheit des Tones,
darin man ist. Der halbe Ton unter dem Haupt-
tone, den man das subsemitonium modi nennt, hat
eine große Kraft, die Erwartung des nächsten halben

Tones
P 3

[Spaltenumbruch]

Aus
man von den heutigen allzu ſehr mit Zierrathen uͤber-
haͤuften Außenſeiten wieder auf die Einfalt der
Griechen zuruͤk kehre, die mehr auf das Große,
auf das blos regelmaͤßige und ordentliche, als auf
den aus der Menge der Theile entſtehenden Reich-
thum geſehen haben. Man muß immer bedenken,
daß die Außenſeiten mehr dienen, von weitem einen
guten Begriff vom Ganzen zu erweken, als den
Zuſchauer davor ſtille ſtehen zu machen, um jede
Saͤule oder jedes Fenſter, oder wol gar noch kleine-
re Theile, Stunden lang anzuſehen.

So wie die innere Anordnung uns mißfallen
wuͤrde, wenn ſie winklicht, und wenn zwiſchen
den großen Zimmern viel kleinere unregelmaͤßige
Verſchlaͤge waͤren, ſo muß auch einem von gutem
Geſchmake geleiteten Auge die Anordnung einer Auſ-
ſenſeite mißfallen, auf deren Flaͤche viel kleines und
winklichtes zu ſehen iſt. S. Anordnung.

Ausweichung.
(Muſik.)

Ausweichen heißt in der Muſik aus dem Ton, wor-
in man eine Zeitlang den Geſang und die Harmo-
(*) S. Ton.nie gefuͤhrt hat, (*) in einen andern Ton heruͤber
gehen. Dieſes geſchieht in der heutigen Muſik in
jedem Tonſtuͤk, und in den laͤngern Stuͤken vielmal,
ſo wol die noͤthige Abwechslung empfinden zu laſ-
ſen, als um den Ausdruk deſto vollkommener zu er-
reichen.

Jnsgemein bleibt der Geſang anfaͤnglich eine
Zeitlang in dem Tone, worin er anfaͤngt; hernach
weicht er nach und nach in verſchiedene andre Toͤne
aus; und endiget ſich zuletzt wieder in dem Haupt-
ton, aus welchem das Stuͤk geſetzt iſt.

Jeder Ton hat ſeinen eigenen Charakter, ein
Gepraͤge, wodurch er ſich von allen andern unter-
ſcheidet. Das Ohr fuͤhlt dieſes, ſo bald der Ton,
worin modulirt worden, verlaſſen, und gegen einen
andern vertauſcht wird. Aber ein Ton ſti[ch]t gegen
einen andern mehr oder weniger ab; und darin
verhalten ſie ſich, wie die Farben, unter denen
ebenfalls mehr oder weniger Uebereinkunft oder
Verwandtſchaft iſt. Fuͤhrt man den Geſang ſo durch
verſchiedene Toͤne, daß immer der folgende wenig
von dem vorhergehenden abſticht, ſo empfindet das
Ohr eine angenehme Abwechslung, in welcher nichts
abgebrochenes, nichts hartes, nichts ohne den ge-
naueſten Zuſammenhang iſt. Dergleichen Geſang
[Spaltenumbruch]

Aus
ſchikt ſich zu ſanften und ſtillen Empfindungen. Hin-
gegen wuͤrden ſolche, da der Affekt ofte und ploͤtzlich
abwechſelt, ſehr wol durch einen Geſang koͤnnen
ausgedrukt werden, der den Ton oft und ploͤtzlich
aͤndert, und da die auf einander folgenden Toͤne
ſtark gegen einander abſtechen.

Da uͤberhaupt das Gehoͤr in der Muſik niemals
beleidiget werden darf, ſo muß man dieſe Uebergaͤnge
in andre Toͤne, oder die Ausweichungen allemal ſo
zu machen wiſſen, daß nichts gezwungenes, nichts
abgeriſſenes darin ſey: wiewol auch dieſes in Faͤl-
len, da ein widriger Affekt es erfoderte, mit Vortheil
koͤnnte gebraucht werden.

Nach dieſen allgemeinen Anmerkungen ſind hier
zwey Punkte auszumachen. 1) Wie weicht man
aus einer Tonart in eine andre aus? 2) Was hat
man in Anſehung der Wahl der Tonart, in die man
ausweichen will, und der Zeit, in der man ſich dar-
in auf halten kann, zu uͤberlegen?

1) Jede Tonart hat, wie bekannt, die ihr eigene
Tonleiter, wodurch ſie ſich von allen andern unter-
ſcheidet. Jn dieſer Tonart modulirt man, ſo lange
man keine andre Toͤne hoͤren laͤßt, als die in der
Tonleiter derſelben liegen: ſo bald aber ein andrer
Ton gehoͤrt wird, ſo bekoͤmmt das Ohr einen Wink,
daß man die bisherige Tonart verlaſſen, und in eine
andre gehen wolle. Wenn man in C dur ſpielt,
und laͤßt irgendwo Fis oder Gis hoͤren, ſo empfindet
das Ohr, daß die bisherige Tonart ſoll verlaſſen
werden; weil in der C dur eigenen Tonleiter C,
D, E, F, G, A, H,
weder Fis noch Gis vorkoͤmmt.

Dieſer bloße Wink aber iſt noch kein wuͤrklicher
Uebergang in einen andern Ton; doch kuͤndiget er
die Ausweichung an. Dieſe Ankuͤndigung muß nun
ſo geſchehen, daß der Ton, dahin man gehen will,
bezeichnet werde, oder daß das Ohr ihn erwarte.
Folget auf dieſe Erwartung ein Accord, der der neuen
Tonart eigenthuͤmlich zugehoͤrt, ſo iſt die Auswei-
chung vollendet, und man befindet ſich nun voͤllig
in dem neuen Ton, in welchem man nun fort mo-
duliren kann.

Hier iſt nun wieder die Frage, wie man den
neuen Ton, dahin man ausweichen will, ankuͤndi-
ge? dieſes kann auf mehrerley Weiſe geſchehen,
und iſt verſchieden, nach Beſchaffenheit des Tones,
darin man iſt. Der halbe Ton unter dem Haupt-
tone, den man das ſubſemitonium modi nennt, hat
eine große Kraft, die Erwartung des naͤchſten halben

Tones
P 3
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/129>, abgerufen am 28.04.2024.