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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bau
Der Holländer, Schronebek, hat sie auch gestochen,
aber sehr verdorben.

Bauart.

Der besondre Geschmak, wodurch sich die Ge-
bäude verschiedener Völker von einander unterschei-
den. Jn diesem Sinn sagt man: die griechische,
römische, gothische, italiänische, französische, Bau-
art. Von der griechischen und römischen Bauart
können wir eigentlich nur aus ihren Tempeln
urtheilen. Das vorzüglichste daran, das den
Charakter dieser alten Bauarten ausmacht, ist
eine edle Einfalt und Größe in den Formen; eine
Schönheit, die aus den einfachesten Verhältnissen
der Haupttheile entsteht; eine nur aus großen Ver-
zierungen durch Säulen entstehende Pracht; und eine
Genauigkeit, die keine einzige Regel übertritt. Wiewol
in den späthern Zeiten des Alterthums diese Pracht
(*) S.
Baukunst.
auch in kleinern Verzierungen gesucht worden. (*)
Die italiänische Bauart, so wie sie von Palladio,
Barocchio, Vignola und andern ältern Meistern
eingeführt worden, verbindet Größe und Pracht
mit Einfalt, läßt aber viel Nachläßigkeit in einzeln
Theilen sehen, und scheinet, die Nachläßigkeiten aus-
genommen, der Bauart der Alten nahe zu kom-
men. Die französische Bauart hat weniger Größe
und Einfalt, aber mehr Zierlichkeit und Annehm-
lichkeit, ist auch in kleinern Theilen genauer. Die
Gothische zeiget eine mit Zierrathen und unendli-
chen Kleinigkeiten überhäufte Größe und Pracht,
bey welcher die guten Verhältnisse gänzlich aus den
Augen gesezt sind, und die nicht selten etwas Aben-
theuerliches hat.

Wenn man frägt, welche Bauart die beste sey;
so könnte man antworten; für Tempel, Triumph-
bogen und große Monumente sey die alte Bauart
die beste; für Palläste die italiänische, aber mit
der griechischen Genauigkeit verbunden; zu Wohn-
häusern aber die französische.

Baukunst.

Wir betrachten hier die Baukunst nur in so fern
der Geschmak einen Antheil daran hat; das mecha-
nische darin, obgleich jeder Baumeister dasselbe ge-
nau verstehen muß, gehört nicht hieher. Dieses,
nebst dem wissenschaftlichen, das der Baumeister
aus der Mathematik schöpfen muß, davon abgeson-
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Bau
dert, so bleibt noch genug übrig, um dieser Kunst
einen Rang unter den schönen Künsten zu geben.
Das Genie, wodurch jedes gute Werk der Kunst
seine Wichtigkeit und innerliche Größe, oder die
Kraft bekommt, sich der Aufmerksamkeit zu be-
mächtigen, den Geist oder das Herz einzunehmen;
den guten Geschmak, wodurch es Schönheit, An-
nehmlichkeit, Schiklichkeit, und überhaupt einen ge-
wissen Reiz bekommt, der die Einbildungskraft fes-
selt; diese Talente muß der Baumeister so gut, als
jeder andrer Künstler besitzen. Eben der Geist, wo-
durch Homer oder Raphael groß worden, muß auch
den Baumeister beleben, wenn er in seiner Kunst
groß seyn soll. Alles, was er, durch diesen Geist
geleitet, hervor bringt, ist ein wahres Werk der
schönen Künste. Die Nothdurft, zu deren Behuf
ein Gebäud aufgeführet wird, bestimmt dessen Haupt-
theile; durch mechanische und mathematische Re-
geln bekömmt es seine Festigkeit; aber aus Sachen,
die die Rothdurft erfunden, ein Ganzes zusammen
zu setzen, das in allen seinen Theilen jedes Be-
dürfniß unsrer Vorstellungskraft befriediget; dessen
überlegte Betrachtung den Geist beständig in einer
vortheilhaften Würkung erhält; das durch sein An-
sehen Empfindungen von mancherley Art erweket;
das dem Gemüthe Bewundrung, Ehrfurcht, An-
dacht, feyerliche Rührung einpräget; dieses sind
Würkungen des durch Geschmak geleiteten Genies;
und dadurch erwirbt sich ein großer Baumeister ei-
nen ansehnlichen Rang unter den Künstlern.

Wie diese Kunst in ihren Ursachen so edel, als ir-
gend eine andre ist; so kann sie auch ihren Rang
durch ihre Würkungen behaupten. Woher hat
der Mensch überhaupt seine Begriffe von Ordnung,
von Schönheit, von Harmonie und Uebereinstim-
mung, gewiß nützliche und wichtige Begriffe; wo-
her hat er die ersten Empfindungen von Annehm-
lichkeit, von Lieblichkeit, von Bewundrung der
Größe, und selbst von Ehrfurcht für höhere Kräfte,
als aus überlegter Betrachtung körperlicher Gegen-
stände, die der Bau der Welt ihm vor Augen stellt?
Sieht man nicht, daß der erste Anwachs der mensch-
lichen Vollkommenheit, der Schönheit, Annehm-
lichkeit, Bequemlichkeit und andern vortheilhaften
Eindrüken der Gegend, die man bewohnet, zuzu-
schreiben sey? Und trägt nicht ein elendes, von al-
len Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten entblöß-
tes Land, das meiste zu der elenden Barbarey und

dem

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Bau
Der Hollaͤnder, Schronebek, hat ſie auch geſtochen,
aber ſehr verdorben.

Bauart.

Der beſondre Geſchmak, wodurch ſich die Ge-
baͤude verſchiedener Voͤlker von einander unterſchei-
den. Jn dieſem Sinn ſagt man: die griechiſche,
roͤmiſche, gothiſche, italiaͤniſche, franzoͤſiſche, Bau-
art. Von der griechiſchen und roͤmiſchen Bauart
koͤnnen wir eigentlich nur aus ihren Tempeln
urtheilen. Das vorzuͤglichſte daran, das den
Charakter dieſer alten Bauarten ausmacht, iſt
eine edle Einfalt und Groͤße in den Formen; eine
Schoͤnheit, die aus den einfacheſten Verhaͤltniſſen
der Haupttheile entſteht; eine nur aus großen Ver-
zierungen durch Saͤulen entſtehende Pracht; und eine
Genauigkeit, die keine einzige Regel uͤbertritt. Wiewol
in den ſpaͤthern Zeiten des Alterthums dieſe Pracht
(*) S.
Baukunſt.
auch in kleinern Verzierungen geſucht worden. (*)
Die italiaͤniſche Bauart, ſo wie ſie von Palladio,
Barocchio, Vignola und andern aͤltern Meiſtern
eingefuͤhrt worden, verbindet Groͤße und Pracht
mit Einfalt, laͤßt aber viel Nachlaͤßigkeit in einzeln
Theilen ſehen, und ſcheinet, die Nachlaͤßigkeiten aus-
genommen, der Bauart der Alten nahe zu kom-
men. Die franzoͤſiſche Bauart hat weniger Groͤße
und Einfalt, aber mehr Zierlichkeit und Annehm-
lichkeit, iſt auch in kleinern Theilen genauer. Die
Gothiſche zeiget eine mit Zierrathen und unendli-
chen Kleinigkeiten uͤberhaͤufte Groͤße und Pracht,
bey welcher die guten Verhaͤltniſſe gaͤnzlich aus den
Augen geſezt ſind, und die nicht ſelten etwas Aben-
theuerliches hat.

Wenn man fraͤgt, welche Bauart die beſte ſey;
ſo koͤnnte man antworten; fuͤr Tempel, Triumph-
bogen und große Monumente ſey die alte Bauart
die beſte; fuͤr Pallaͤſte die italiaͤniſche, aber mit
der griechiſchen Genauigkeit verbunden; zu Wohn-
haͤuſern aber die franzoͤſiſche.

Baukunſt.

Wir betrachten hier die Baukunſt nur in ſo fern
der Geſchmak einen Antheil daran hat; das mecha-
niſche darin, obgleich jeder Baumeiſter daſſelbe ge-
nau verſtehen muß, gehoͤrt nicht hieher. Dieſes,
nebſt dem wiſſenſchaftlichen, das der Baumeiſter
aus der Mathematik ſchoͤpfen muß, davon abgeſon-
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Bau
dert, ſo bleibt noch genug uͤbrig, um dieſer Kunſt
einen Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu geben.
Das Genie, wodurch jedes gute Werk der Kunſt
ſeine Wichtigkeit und innerliche Groͤße, oder die
Kraft bekommt, ſich der Aufmerkſamkeit zu be-
maͤchtigen, den Geiſt oder das Herz einzunehmen;
den guten Geſchmak, wodurch es Schoͤnheit, An-
nehmlichkeit, Schiklichkeit, und uͤberhaupt einen ge-
wiſſen Reiz bekommt, der die Einbildungskraft feſ-
ſelt; dieſe Talente muß der Baumeiſter ſo gut, als
jeder andrer Kuͤnſtler beſitzen. Eben der Geiſt, wo-
durch Homer oder Raphael groß worden, muß auch
den Baumeiſter beleben, wenn er in ſeiner Kunſt
groß ſeyn ſoll. Alles, was er, durch dieſen Geiſt
geleitet, hervor bringt, iſt ein wahres Werk der
ſchoͤnen Kuͤnſte. Die Nothdurft, zu deren Behuf
ein Gebaͤud aufgefuͤhret wird, beſtimmt deſſen Haupt-
theile; durch mechaniſche und mathematiſche Re-
geln bekoͤmmt es ſeine Feſtigkeit; aber aus Sachen,
die die Rothdurft erfunden, ein Ganzes zuſammen
zu ſetzen, das in allen ſeinen Theilen jedes Be-
duͤrfniß unſrer Vorſtellungskraft befriediget; deſſen
uͤberlegte Betrachtung den Geiſt beſtaͤndig in einer
vortheilhaften Wuͤrkung erhaͤlt; das durch ſein An-
ſehen Empfindungen von mancherley Art erweket;
das dem Gemuͤthe Bewundrung, Ehrfurcht, An-
dacht, feyerliche Ruͤhrung einpraͤget; dieſes ſind
Wuͤrkungen des durch Geſchmak geleiteten Genies;
und dadurch erwirbt ſich ein großer Baumeiſter ei-
nen anſehnlichen Rang unter den Kuͤnſtlern.

Wie dieſe Kunſt in ihren Urſachen ſo edel, als ir-
gend eine andre iſt; ſo kann ſie auch ihren Rang
durch ihre Wuͤrkungen behaupten. Woher hat
der Menſch uͤberhaupt ſeine Begriffe von Ordnung,
von Schoͤnheit, von Harmonie und Uebereinſtim-
mung, gewiß nuͤtzliche und wichtige Begriffe; wo-
her hat er die erſten Empfindungen von Annehm-
lichkeit, von Lieblichkeit, von Bewundrung der
Groͤße, und ſelbſt von Ehrfurcht fuͤr hoͤhere Kraͤfte,
als aus uͤberlegter Betrachtung koͤrperlicher Gegen-
ſtaͤnde, die der Bau der Welt ihm vor Augen ſtellt?
Sieht man nicht, daß der erſte Anwachs der menſch-
lichen Vollkommenheit, der Schoͤnheit, Annehm-
lichkeit, Bequemlichkeit und andern vortheilhaften
Eindruͤken der Gegend, die man bewohnet, zuzu-
ſchreiben ſey? Und traͤgt nicht ein elendes, von al-
len Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten entbloͤß-
tes Land, das meiſte zu der elenden Barbarey und

dem
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[127/0139] Bau Bau Der Hollaͤnder, Schronebek, hat ſie auch geſtochen, aber ſehr verdorben. Bauart. Der beſondre Geſchmak, wodurch ſich die Ge- baͤude verſchiedener Voͤlker von einander unterſchei- den. Jn dieſem Sinn ſagt man: die griechiſche, roͤmiſche, gothiſche, italiaͤniſche, franzoͤſiſche, Bau- art. Von der griechiſchen und roͤmiſchen Bauart koͤnnen wir eigentlich nur aus ihren Tempeln urtheilen. Das vorzuͤglichſte daran, das den Charakter dieſer alten Bauarten ausmacht, iſt eine edle Einfalt und Groͤße in den Formen; eine Schoͤnheit, die aus den einfacheſten Verhaͤltniſſen der Haupttheile entſteht; eine nur aus großen Ver- zierungen durch Saͤulen entſtehende Pracht; und eine Genauigkeit, die keine einzige Regel uͤbertritt. Wiewol in den ſpaͤthern Zeiten des Alterthums dieſe Pracht auch in kleinern Verzierungen geſucht worden. (*) Die italiaͤniſche Bauart, ſo wie ſie von Palladio, Barocchio, Vignola und andern aͤltern Meiſtern eingefuͤhrt worden, verbindet Groͤße und Pracht mit Einfalt, laͤßt aber viel Nachlaͤßigkeit in einzeln Theilen ſehen, und ſcheinet, die Nachlaͤßigkeiten aus- genommen, der Bauart der Alten nahe zu kom- men. Die franzoͤſiſche Bauart hat weniger Groͤße und Einfalt, aber mehr Zierlichkeit und Annehm- lichkeit, iſt auch in kleinern Theilen genauer. Die Gothiſche zeiget eine mit Zierrathen und unendli- chen Kleinigkeiten uͤberhaͤufte Groͤße und Pracht, bey welcher die guten Verhaͤltniſſe gaͤnzlich aus den Augen geſezt ſind, und die nicht ſelten etwas Aben- theuerliches hat. (*) S. Baukunſt. Wenn man fraͤgt, welche Bauart die beſte ſey; ſo koͤnnte man antworten; fuͤr Tempel, Triumph- bogen und große Monumente ſey die alte Bauart die beſte; fuͤr Pallaͤſte die italiaͤniſche, aber mit der griechiſchen Genauigkeit verbunden; zu Wohn- haͤuſern aber die franzoͤſiſche. Baukunſt. Wir betrachten hier die Baukunſt nur in ſo fern der Geſchmak einen Antheil daran hat; das mecha- niſche darin, obgleich jeder Baumeiſter daſſelbe ge- nau verſtehen muß, gehoͤrt nicht hieher. Dieſes, nebſt dem wiſſenſchaftlichen, das der Baumeiſter aus der Mathematik ſchoͤpfen muß, davon abgeſon- dert, ſo bleibt noch genug uͤbrig, um dieſer Kunſt einen Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten zu geben. Das Genie, wodurch jedes gute Werk der Kunſt ſeine Wichtigkeit und innerliche Groͤße, oder die Kraft bekommt, ſich der Aufmerkſamkeit zu be- maͤchtigen, den Geiſt oder das Herz einzunehmen; den guten Geſchmak, wodurch es Schoͤnheit, An- nehmlichkeit, Schiklichkeit, und uͤberhaupt einen ge- wiſſen Reiz bekommt, der die Einbildungskraft feſ- ſelt; dieſe Talente muß der Baumeiſter ſo gut, als jeder andrer Kuͤnſtler beſitzen. Eben der Geiſt, wo- durch Homer oder Raphael groß worden, muß auch den Baumeiſter beleben, wenn er in ſeiner Kunſt groß ſeyn ſoll. Alles, was er, durch dieſen Geiſt geleitet, hervor bringt, iſt ein wahres Werk der ſchoͤnen Kuͤnſte. Die Nothdurft, zu deren Behuf ein Gebaͤud aufgefuͤhret wird, beſtimmt deſſen Haupt- theile; durch mechaniſche und mathematiſche Re- geln bekoͤmmt es ſeine Feſtigkeit; aber aus Sachen, die die Rothdurft erfunden, ein Ganzes zuſammen zu ſetzen, das in allen ſeinen Theilen jedes Be- duͤrfniß unſrer Vorſtellungskraft befriediget; deſſen uͤberlegte Betrachtung den Geiſt beſtaͤndig in einer vortheilhaften Wuͤrkung erhaͤlt; das durch ſein An- ſehen Empfindungen von mancherley Art erweket; das dem Gemuͤthe Bewundrung, Ehrfurcht, An- dacht, feyerliche Ruͤhrung einpraͤget; dieſes ſind Wuͤrkungen des durch Geſchmak geleiteten Genies; und dadurch erwirbt ſich ein großer Baumeiſter ei- nen anſehnlichen Rang unter den Kuͤnſtlern. Wie dieſe Kunſt in ihren Urſachen ſo edel, als ir- gend eine andre iſt; ſo kann ſie auch ihren Rang durch ihre Wuͤrkungen behaupten. Woher hat der Menſch uͤberhaupt ſeine Begriffe von Ordnung, von Schoͤnheit, von Harmonie und Uebereinſtim- mung, gewiß nuͤtzliche und wichtige Begriffe; wo- her hat er die erſten Empfindungen von Annehm- lichkeit, von Lieblichkeit, von Bewundrung der Groͤße, und ſelbſt von Ehrfurcht fuͤr hoͤhere Kraͤfte, als aus uͤberlegter Betrachtung koͤrperlicher Gegen- ſtaͤnde, die der Bau der Welt ihm vor Augen ſtellt? Sieht man nicht, daß der erſte Anwachs der menſch- lichen Vollkommenheit, der Schoͤnheit, Annehm- lichkeit, Bequemlichkeit und andern vortheilhaften Eindruͤken der Gegend, die man bewohnet, zuzu- ſchreiben ſey? Und traͤgt nicht ein elendes, von al- len Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten entbloͤß- tes Land, das meiſte zu der elenden Barbarey und dem

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/139>, abgerufen am 27.04.2024.