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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bau
etwas rohen Zustande bekommen zu haben. Denn
noch sind ansehnliche Ruinen griechischer Gebäude
vorhanden, die weit über die gute Zeit des Ge-
schmaks heraufsteigen, wie die Ruinen von Pestum
am salernitanischen Meerbusen, und von Agrigent
(*) S. die
Vorrede zu
Winkelm.
Geschichte
der Bau-
kunst, und
neue Bib-
liothek
der schönen
Wissensch.
in Sicilien. (*) Diese Bauart hat in Griechenland
und Jtalien verschiedene besondre Wendungen, als
so viel Schattirungen bekommen, die man hernach
mit dem Namen der Ordnungen bezeichnet hat.
Die Hetrurier und Dorier sind der alten Einfalt
und Rohigkeit am nächsten geblieben. Die Jonier
scheinen etwas mehr Annehmlichkeit und eine Art
Weichlichkeit hineingebracht zu haben. Hernach
aber, als Griechenland der Hauptsitz aller schönen
Künste geworden war, kam noch mehr Zierlichkeit
und so gar etwas Ueppigkeit hinein, wie an der
corinthischen Ordnung zu sehen; dieses haben die
(*) S. Ord-
nungen.
späthern Nömer noch weiter getrieben. (*)

Noch itzt wird allemal, wo Säulen oder Pfeiler
angebracht werden, eine dieser fünf alten Ordnun-
gen zur Richtschnur gewählt. Sie sind so gut aus-
gedacht, daß man, ohne Gefahr die Sachen schlechter
zu machen, sich nicht weit von den Formen und
Verhältnissen der Alten entfernen kann. Es ist
nicht mehr zu erwarten, daß eine von diesen Ord-
nungen würklich verschiedene, und dennoch gute
Gattung, werde erfunden werden. Die Römer
scheinen schon alle mögliche Versuche hierüber er-
schöpft zu haben. Sie nahmen sich ernstlich vor,
Rom durch die Schönheit der Gebäude über alle
Städte der Welt zu erheben, und es ist angenehm
(*) Geogr.
L. V.
zu lesen, was Strabo hievon erzählt. (*) Dennoch
haben diese außerordentlichen Bestrebungen von
den besten aus allen Theilen Griechenlandes ver-
sammelten Baumeistern nichts, als die einzige römi-
sche Ordnung herausgebracht, die doch nur aus
einer Vereinigung der corinthischen und jonischen
besteht.

Nach Erlöschung der Familie der Cäsaren fieng
in Rom die Baukunst an zu fallen. Man verließ
nach und nach die edle Einfalt der Griechen, und
überhäufte alles mit Zierrathen. Die Gebäude
nahmen den Charakter der Sitten, die allen großen
despotischen Höfen gemein sind, an: ein Gepränge,
das die Angen verblenden sollte, kam in die Stelle
der wahren Hoheit und Größe. Von dieser Art
sind verschiedene noch aus diesen Zeiten vorhandene
Werke als; die Triumphbogen der Kayser Seve-
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Bau
rus, des M. Aur. Antoninus, des Constantinus;
besonders aber der Bäder des Diokletianus. So
wie das Reich an Hoheit abnahm, sank auch die
Baukunst. Die Römer brachten sie auch nach
Constantinopel, wo sie sich viele Jahrhundert in
einem Stande der Mittelmäßigkeit erhalten hat.
Jn Jtalien wurd man immer mehr und mehr für
die guten Verhältnisse gleichgültig, und verlohr sie
zulezt ganz. Als sich nach dem Untergang des
Reichs, die Gothen, Longobarden, und hernach die
Saracenen in ihren eroberten Ländern festgesezt
hatten, unternahmen sie große Gebäude, an denen
nur noch wenige Spuren des guten Geschmaks
übrig blieben; fast gar alle Regeln der Schönheit
wurden aus den Augen gesezt; desto mehr aber
wurd das mühsame, das gezierte, das seltsame
und einigermaaßen abentheuerliche gesucht.

Mitten in diesen Zeiten des barbarischen Ge-
schmaks der Baukunst wurden die meisten Städte
in Deutschland, und die meisten Kirchen im ganzen
Occident gebauet, an denen wir das Gepräge einer
über alle Regeln ausgeschweiften Bauart noch itzt
sehen. Diese Gebäude setzen durch ihre Größe,
durch die unermeßliche Verschwendung der Zier-
rathen, durch die gänzliche Vernachläßigung der
Verhältnisse, in Erstaunen. Doch finden sich noch
hin und wieder Spuren des nicht ganz erloschenen
Geschmaks. An der Marcuskirche in Venedig, die
zwischen den Jahren 977 und 1071 gebauet wor-
den, ist noch etwas von wahrer Pracht und von
guten Verhältnissen übrig; und in derselben Stadt
ist die Kirche Sancta Maria formosa bey nahe noch
im antiken Geschmak, im Jahr 1350 von Paulo
Barbetta
gebauet.

Aus den großen Gebäuden der mittlern Zeiten,
die in verschiedenen Städten Jtaliens noch zu sehen
sind, läßt sich ziemlich deutlich sehen, wie durch diese
Zeiten sich noch immer etwas von dem guten Ge-
schmak der Baukunst erhalten hat. Jm Jahre
1013 |wurd die Kirche zu St. Miniat in Florenz
angelegt, die in einem erträglichen Geschmak ge-
bauet ist, und im Jahr 1016 wurd der Grund
zu dem Dohm in Pisa gelegt. Der Baumeister
desselben war ein Grieche aus Dulichium, den die
Jtaliäner Buschetto nennen. Die Pisaner, die da-
mals einen großen Handel nach Griechenland trie-
ben, ließen marmorne Säulen von alter Arbeit
daher bringen, die an diesen Gebäude angebracht

wurden.

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Bau
etwas rohen Zuſtande bekommen zu haben. Denn
noch ſind anſehnliche Ruinen griechiſcher Gebaͤude
vorhanden, die weit uͤber die gute Zeit des Ge-
ſchmaks heraufſteigen, wie die Ruinen von Peſtum
am ſalernitaniſchen Meerbuſen, und von Agrigent
(*) S. die
Vorrede zu
Winkelm.
Geſchichte
der Bau-
kunſt, und
neue Bib-
liothek
der ſchoͤnen
Wiſſenſch.
in Sicilien. (*) Dieſe Bauart hat in Griechenland
und Jtalien verſchiedene beſondre Wendungen, als
ſo viel Schattirungen bekommen, die man hernach
mit dem Namen der Ordnungen bezeichnet hat.
Die Hetrurier und Dorier ſind der alten Einfalt
und Rohigkeit am naͤchſten geblieben. Die Jonier
ſcheinen etwas mehr Annehmlichkeit und eine Art
Weichlichkeit hineingebracht zu haben. Hernach
aber, als Griechenland der Hauptſitz aller ſchoͤnen
Kuͤnſte geworden war, kam noch mehr Zierlichkeit
und ſo gar etwas Ueppigkeit hinein, wie an der
corinthiſchen Ordnung zu ſehen; dieſes haben die
(*) S. Ord-
nungen.
ſpaͤthern Noͤmer noch weiter getrieben. (*)

Noch itzt wird allemal, wo Saͤulen oder Pfeiler
angebracht werden, eine dieſer fuͤnf alten Ordnun-
gen zur Richtſchnur gewaͤhlt. Sie ſind ſo gut aus-
gedacht, daß man, ohne Gefahr die Sachen ſchlechter
zu machen, ſich nicht weit von den Formen und
Verhaͤltniſſen der Alten entfernen kann. Es iſt
nicht mehr zu erwarten, daß eine von dieſen Ord-
nungen wuͤrklich verſchiedene, und dennoch gute
Gattung, werde erfunden werden. Die Roͤmer
ſcheinen ſchon alle moͤgliche Verſuche hieruͤber er-
ſchoͤpft zu haben. Sie nahmen ſich ernſtlich vor,
Rom durch die Schoͤnheit der Gebaͤude uͤber alle
Staͤdte der Welt zu erheben, und es iſt angenehm
(*) Geogr.
L. V.
zu leſen, was Strabo hievon erzaͤhlt. (*) Dennoch
haben dieſe außerordentlichen Beſtrebungen von
den beſten aus allen Theilen Griechenlandes ver-
ſammelten Baumeiſtern nichts, als die einzige roͤmi-
ſche Ordnung herausgebracht, die doch nur aus
einer Vereinigung der corinthiſchen und joniſchen
beſteht.

Nach Erloͤſchung der Familie der Caͤſaren fieng
in Rom die Baukunſt an zu fallen. Man verließ
nach und nach die edle Einfalt der Griechen, und
uͤberhaͤufte alles mit Zierrathen. Die Gebaͤude
nahmen den Charakter der Sitten, die allen großen
deſpotiſchen Hoͤfen gemein ſind, an: ein Gepraͤnge,
das die Angen verblenden ſollte, kam in die Stelle
der wahren Hoheit und Groͤße. Von dieſer Art
ſind verſchiedene noch aus dieſen Zeiten vorhandene
Werke als; die Triumphbogen der Kayſer Seve-
[Spaltenumbruch]

Bau
rus, des M. Aur. Antoninus, des Conſtantinus;
beſonders aber der Baͤder des Diokletianus. So
wie das Reich an Hoheit abnahm, ſank auch die
Baukunſt. Die Roͤmer brachten ſie auch nach
Conſtantinopel, wo ſie ſich viele Jahrhundert in
einem Stande der Mittelmaͤßigkeit erhalten hat.
Jn Jtalien wurd man immer mehr und mehr fuͤr
die guten Verhaͤltniſſe gleichguͤltig, und verlohr ſie
zulezt ganz. Als ſich nach dem Untergang des
Reichs, die Gothen, Longobarden, und hernach die
Saracenen in ihren eroberten Laͤndern feſtgeſezt
hatten, unternahmen ſie große Gebaͤude, an denen
nur noch wenige Spuren des guten Geſchmaks
uͤbrig blieben; faſt gar alle Regeln der Schoͤnheit
wurden aus den Augen geſezt; deſto mehr aber
wurd das muͤhſame, das gezierte, das ſeltſame
und einigermaaßen abentheuerliche geſucht.

Mitten in dieſen Zeiten des barbariſchen Ge-
ſchmaks der Baukunſt wurden die meiſten Staͤdte
in Deutſchland, und die meiſten Kirchen im ganzen
Occident gebauet, an denen wir das Gepraͤge einer
uͤber alle Regeln ausgeſchweiften Bauart noch itzt
ſehen. Dieſe Gebaͤude ſetzen durch ihre Groͤße,
durch die unermeßliche Verſchwendung der Zier-
rathen, durch die gaͤnzliche Vernachlaͤßigung der
Verhaͤltniſſe, in Erſtaunen. Doch finden ſich noch
hin und wieder Spuren des nicht ganz erloſchenen
Geſchmaks. An der Marcuskirche in Venedig, die
zwiſchen den Jahren 977 und 1071 gebauet wor-
den, iſt noch etwas von wahrer Pracht und von
guten Verhaͤltniſſen uͤbrig; und in derſelben Stadt
iſt die Kirche Sancta Maria formoſa bey nahe noch
im antiken Geſchmak, im Jahr 1350 von Paulo
Barbetta
gebauet.

Aus den großen Gebaͤuden der mittlern Zeiten,
die in verſchiedenen Staͤdten Jtaliens noch zu ſehen
ſind, laͤßt ſich ziemlich deutlich ſehen, wie durch dieſe
Zeiten ſich noch immer etwas von dem guten Ge-
ſchmak der Baukunſt erhalten hat. Jm Jahre
1013 |wurd die Kirche zu St. Miniat in Florenz
angelegt, die in einem ertraͤglichen Geſchmak ge-
bauet iſt, und im Jahr 1016 wurd der Grund
zu dem Dohm in Piſa gelegt. Der Baumeiſter
deſſelben war ein Grieche aus Dulichium, den die
Jtaliaͤner Buſchetto nennen. Die Piſaner, die da-
mals einen großen Handel nach Griechenland trie-
ben, ließen marmorne Saͤulen von alter Arbeit
daher bringen, die an dieſen Gebaͤude angebracht

wurden.
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[130/0142] Bau Bau etwas rohen Zuſtande bekommen zu haben. Denn noch ſind anſehnliche Ruinen griechiſcher Gebaͤude vorhanden, die weit uͤber die gute Zeit des Ge- ſchmaks heraufſteigen, wie die Ruinen von Peſtum am ſalernitaniſchen Meerbuſen, und von Agrigent in Sicilien. (*) Dieſe Bauart hat in Griechenland und Jtalien verſchiedene beſondre Wendungen, als ſo viel Schattirungen bekommen, die man hernach mit dem Namen der Ordnungen bezeichnet hat. Die Hetrurier und Dorier ſind der alten Einfalt und Rohigkeit am naͤchſten geblieben. Die Jonier ſcheinen etwas mehr Annehmlichkeit und eine Art Weichlichkeit hineingebracht zu haben. Hernach aber, als Griechenland der Hauptſitz aller ſchoͤnen Kuͤnſte geworden war, kam noch mehr Zierlichkeit und ſo gar etwas Ueppigkeit hinein, wie an der corinthiſchen Ordnung zu ſehen; dieſes haben die ſpaͤthern Noͤmer noch weiter getrieben. (*) (*) S. die Vorrede zu Winkelm. Geſchichte der Bau- kunſt, und neue Bib- liothek der ſchoͤnen Wiſſenſch. (*) S. Ord- nungen. Noch itzt wird allemal, wo Saͤulen oder Pfeiler angebracht werden, eine dieſer fuͤnf alten Ordnun- gen zur Richtſchnur gewaͤhlt. Sie ſind ſo gut aus- gedacht, daß man, ohne Gefahr die Sachen ſchlechter zu machen, ſich nicht weit von den Formen und Verhaͤltniſſen der Alten entfernen kann. Es iſt nicht mehr zu erwarten, daß eine von dieſen Ord- nungen wuͤrklich verſchiedene, und dennoch gute Gattung, werde erfunden werden. Die Roͤmer ſcheinen ſchon alle moͤgliche Verſuche hieruͤber er- ſchoͤpft zu haben. Sie nahmen ſich ernſtlich vor, Rom durch die Schoͤnheit der Gebaͤude uͤber alle Staͤdte der Welt zu erheben, und es iſt angenehm zu leſen, was Strabo hievon erzaͤhlt. (*) Dennoch haben dieſe außerordentlichen Beſtrebungen von den beſten aus allen Theilen Griechenlandes ver- ſammelten Baumeiſtern nichts, als die einzige roͤmi- ſche Ordnung herausgebracht, die doch nur aus einer Vereinigung der corinthiſchen und joniſchen beſteht. (*) Geogr. L. V. Nach Erloͤſchung der Familie der Caͤſaren fieng in Rom die Baukunſt an zu fallen. Man verließ nach und nach die edle Einfalt der Griechen, und uͤberhaͤufte alles mit Zierrathen. Die Gebaͤude nahmen den Charakter der Sitten, die allen großen deſpotiſchen Hoͤfen gemein ſind, an: ein Gepraͤnge, das die Angen verblenden ſollte, kam in die Stelle der wahren Hoheit und Groͤße. Von dieſer Art ſind verſchiedene noch aus dieſen Zeiten vorhandene Werke als; die Triumphbogen der Kayſer Seve- rus, des M. Aur. Antoninus, des Conſtantinus; beſonders aber der Baͤder des Diokletianus. So wie das Reich an Hoheit abnahm, ſank auch die Baukunſt. Die Roͤmer brachten ſie auch nach Conſtantinopel, wo ſie ſich viele Jahrhundert in einem Stande der Mittelmaͤßigkeit erhalten hat. Jn Jtalien wurd man immer mehr und mehr fuͤr die guten Verhaͤltniſſe gleichguͤltig, und verlohr ſie zulezt ganz. Als ſich nach dem Untergang des Reichs, die Gothen, Longobarden, und hernach die Saracenen in ihren eroberten Laͤndern feſtgeſezt hatten, unternahmen ſie große Gebaͤude, an denen nur noch wenige Spuren des guten Geſchmaks uͤbrig blieben; faſt gar alle Regeln der Schoͤnheit wurden aus den Augen geſezt; deſto mehr aber wurd das muͤhſame, das gezierte, das ſeltſame und einigermaaßen abentheuerliche geſucht. Mitten in dieſen Zeiten des barbariſchen Ge- ſchmaks der Baukunſt wurden die meiſten Staͤdte in Deutſchland, und die meiſten Kirchen im ganzen Occident gebauet, an denen wir das Gepraͤge einer uͤber alle Regeln ausgeſchweiften Bauart noch itzt ſehen. Dieſe Gebaͤude ſetzen durch ihre Groͤße, durch die unermeßliche Verſchwendung der Zier- rathen, durch die gaͤnzliche Vernachlaͤßigung der Verhaͤltniſſe, in Erſtaunen. Doch finden ſich noch hin und wieder Spuren des nicht ganz erloſchenen Geſchmaks. An der Marcuskirche in Venedig, die zwiſchen den Jahren 977 und 1071 gebauet wor- den, iſt noch etwas von wahrer Pracht und von guten Verhaͤltniſſen uͤbrig; und in derſelben Stadt iſt die Kirche Sancta Maria formoſa bey nahe noch im antiken Geſchmak, im Jahr 1350 von Paulo Barbetta gebauet. Aus den großen Gebaͤuden der mittlern Zeiten, die in verſchiedenen Staͤdten Jtaliens noch zu ſehen ſind, laͤßt ſich ziemlich deutlich ſehen, wie durch dieſe Zeiten ſich noch immer etwas von dem guten Ge- ſchmak der Baukunſt erhalten hat. Jm Jahre 1013 |wurd die Kirche zu St. Miniat in Florenz angelegt, die in einem ertraͤglichen Geſchmak ge- bauet iſt, und im Jahr 1016 wurd der Grund zu dem Dohm in Piſa gelegt. Der Baumeiſter deſſelben war ein Grieche aus Dulichium, den die Jtaliaͤner Buſchetto nennen. Die Piſaner, die da- mals einen großen Handel nach Griechenland trie- ben, ließen marmorne Saͤulen von alter Arbeit daher bringen, die an dieſen Gebaͤude angebracht wurden.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/142>, abgerufen am 27.04.2024.