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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bew
(*) S.
Homes
Grundsätze
der Critik
1 Theil
S. 343. der
deutschen
Uebers. von
1763.
unterscheiden, und mit seinem Uebersetzer (*) mit
den Namen Verwundrung und Bewundrung bele-
gen will, so würde ich der Empfindung, welche aus
einer gegen unsre Vermuthung sich ereignenden Be-
gebenheit entsteht, den Namen Verwundrung bey-
legen, und die Empfindung, welche aus Betrach-
tung einer ausserordentlichen und unbegreiflichen
Kraft entsteht, Bewundrung nennen. Man könnte
diese einen Affekt des Geistes nennen: denn sie hat mit
den Affekten dieses gemein, daß sie mit einem lebhaften
Bestreben, seine Begriffe zu der Grösse, die man vor
sich sieht, zu erheben verbunden ist. Vermuthlich
hat Descartes deshalben die Bewundrung unter die
Leidenschaften gezählt. Wolff aber hat sie dar-
um davon ausgeschlossen, weil dieses lebhafte Ge-
fühl mit keiner offenbaren Zuneigung oder Abnei-
gung gegen die bewunderte Sache verbunden ist,
ob sich gleich etwas diesem ähnliches dabey zu zei-
gen scheinet.

Wie dem aber seyn mag: so ist dieses offenbar,
daß die Bewundrung eine der lebhaftesten Empfin-
dungen sey, die zur Beförderung des Guten, und
zur Vermeidung des Bösen fürtrefliche Dienste thun
kann. Und in so fern ist sie eine von den Empfin-
dungen, welche die Künste vorzüglich müssen zu er-
wecken suchen. Sie wird aber eben sowol durch ei-
nen hohen Grad des Bösen, als des Guten hervor-
gebracht. Die ausserordentliche Bosheit des Sa-
tans bey Milton, und Klopstock, oder gewisser
Menschen in den Trauerspielen des Shakespear,
setzen uns eben so stark in Bewundrung, als die er-
habenen Charaktere der Helden in dem Guten. Jenes
würkt Abscheu und Verwünschung, dieses Ehrfurcht
und Bestreben zur Nachahmung des Guten. Die-
ses alles ist so offenbar und so bekannt, daß es kei-
ner weitern Ausführung bedarf.

Wir können also gleich diese Regel fest setzen,
daß der Künstler die Gelegenheit, uns in Bewun-
drung zu setzen, niemal muß ungenutzt vorbey ge-
hen lassen. Die Gelegenheiten zeigen sich überall,
wo grosse Charaktere und grosse Handlungen kön-
nen vorgestellt werden: im epischen Gedicht, im
Trauerspiel, in der Ode, im historischen Ge-
mählde, in Abbildung einzeler Personen durch den
Pinsel oder durch den Meissel, und in ernsthaften
Arten der Musik. Die besondern Quellen des Wun-
(*) S.
Wunder-
bar.
derbaren haben wir an einem andern Orte be-
schrieben. (*)

[Spaltenumbruch]
Bew Bey

Der Künstler, welcher Bewundrung erregen will,
muß nicht nur die Quellen des Wunderbaren ken-
nen, er muß selbst groß denken und groß fühlen:
gemeine Künstler erreichen diesen Grad der Wür-
kung niemal. Wem die Natur die Grösse der
Seele nicht gegeben hat, der unternehme es nicht,
uns in Bewundrung zu setzen. Der, dem in der
Natur alles scherzt und lacht, oder dem in den
Handlungen der Menschen und in den Begebenhei-
ten, alles eine poßierliche Seite hat; der, der über-
all Witz und ein feines Spiel der Phantasie sucht;
wen eine angenehme Blume oder eine liebliche Ge-
gend, mehr rühret, als ein rauschendes Wasser oder
ein wildes Felsgebürge; alle diese würden sich ver-
geblich bemühen, unsre Bewundrung zu erweken.
Hat aber die Natur die Anlage zum Grossen in die
Seele geleget, so kann ein ernstliches Nachdenken
über die größten Gegenstände in der Natur und in
den Sitten, eine fleißige Uebung, alles auf grosse
Gesichtspunkte zu führen, der Umgang mit groß-
müthigen Männern, fleißiges und ernsthaftes Stu-
dium der erhabensten Werke der Künste, desto fä-
higer machen, durch seine Werke Bewundrung zu
erweken.

Beyspiel.
(Redende Künste.)

Jede Vorstellung des Allgemeinen durch das Be-
sondere, kann in weitläuftigem Sinn ein Beyspiel
genennet werden; in so fern gehören die aesopische
Fabel, die Parabel, die Allegorie, zum Beyspiel.
Jn der engern Bedeutung aber ist es ein besonderer
Fall, in der Absicht angeführt, daß das Allgemeine
der Art oder der Gattung, wozu er gehört, mit
Vortheil daraus erkennt werde.

Man bedienet sich des Beyspiels sowol in der ge-
meinen und täglichen Rede, als in dogmatischen
Schriften sehr häufig, um allgemeine Sätze, Re-
geln, Erklärungen durch dasselbe zu erläutern: so
wie die Rechenmeister, wenn sie eine Regel geben,
sogleich einen besondern Fall anführen, an dem sie
dieselbe Stük für Stük erklären. Die Redner und
Dichter haben selten nöthig, Beyspiele in dieser Ab-
sicht anzuführen, weil sie selten solche allgemeine
und abstrakte Dinge vorbringen, die ohne Beyspiele
nicht deutlich genug gefaßt würden. Dennoch brau-
chen sie das Beyspiel sehr häufig, um dasjenige,

was
X 3

[Spaltenumbruch]

Bew
(*) S.
Homes
Grundſaͤtze
der Critik
1 Theil
S. 343. der
deutſchen
Ueberſ. von
1763.
unterſcheiden, und mit ſeinem Ueberſetzer (*) mit
den Namen Verwundrung und Bewundrung bele-
gen will, ſo wuͤrde ich der Empfindung, welche aus
einer gegen unſre Vermuthung ſich ereignenden Be-
gebenheit entſteht, den Namen Verwundrung bey-
legen, und die Empfindung, welche aus Betrach-
tung einer auſſerordentlichen und unbegreiflichen
Kraft entſteht, Bewundrung nennen. Man koͤnnte
dieſe einen Affekt des Geiſtes nennen: denn ſie hat mit
den Affekten dieſes gemein, daß ſie mit einem lebhaften
Beſtreben, ſeine Begriffe zu der Groͤſſe, die man vor
ſich ſieht, zu erheben verbunden iſt. Vermuthlich
hat Descartes deshalben die Bewundrung unter die
Leidenſchaften gezaͤhlt. Wolff aber hat ſie dar-
um davon ausgeſchloſſen, weil dieſes lebhafte Ge-
fuͤhl mit keiner offenbaren Zuneigung oder Abnei-
gung gegen die bewunderte Sache verbunden iſt,
ob ſich gleich etwas dieſem aͤhnliches dabey zu zei-
gen ſcheinet.

Wie dem aber ſeyn mag: ſo iſt dieſes offenbar,
daß die Bewundrung eine der lebhafteſten Empfin-
dungen ſey, die zur Befoͤrderung des Guten, und
zur Vermeidung des Boͤſen fuͤrtrefliche Dienſte thun
kann. Und in ſo fern iſt ſie eine von den Empfin-
dungen, welche die Kuͤnſte vorzuͤglich muͤſſen zu er-
wecken ſuchen. Sie wird aber eben ſowol durch ei-
nen hohen Grad des Boͤſen, als des Guten hervor-
gebracht. Die auſſerordentliche Bosheit des Sa-
tans bey Milton, und Klopſtock, oder gewiſſer
Menſchen in den Trauerſpielen des Shakeſpear,
ſetzen uns eben ſo ſtark in Bewundrung, als die er-
habenen Charaktere der Helden in dem Guten. Jenes
wuͤrkt Abſcheu und Verwuͤnſchung, dieſes Ehrfurcht
und Beſtreben zur Nachahmung des Guten. Die-
ſes alles iſt ſo offenbar und ſo bekannt, daß es kei-
ner weitern Ausfuͤhrung bedarf.

Wir koͤnnen alſo gleich dieſe Regel feſt ſetzen,
daß der Kuͤnſtler die Gelegenheit, uns in Bewun-
drung zu ſetzen, niemal muß ungenutzt vorbey ge-
hen laſſen. Die Gelegenheiten zeigen ſich uͤberall,
wo groſſe Charaktere und groſſe Handlungen koͤn-
nen vorgeſtellt werden: im epiſchen Gedicht, im
Trauerſpiel, in der Ode, im hiſtoriſchen Ge-
maͤhlde, in Abbildung einzeler Perſonen durch den
Pinſel oder durch den Meiſſel, und in ernſthaften
Arten der Muſik. Die beſondern Quellen des Wun-
(*) S.
Wunder-
bar.
derbaren haben wir an einem andern Orte be-
ſchrieben. (*)

[Spaltenumbruch]
Bew Bey

Der Kuͤnſtler, welcher Bewundrung erregen will,
muß nicht nur die Quellen des Wunderbaren ken-
nen, er muß ſelbſt groß denken und groß fuͤhlen:
gemeine Kuͤnſtler erreichen dieſen Grad der Wuͤr-
kung niemal. Wem die Natur die Groͤſſe der
Seele nicht gegeben hat, der unternehme es nicht,
uns in Bewundrung zu ſetzen. Der, dem in der
Natur alles ſcherzt und lacht, oder dem in den
Handlungen der Menſchen und in den Begebenhei-
ten, alles eine poßierliche Seite hat; der, der uͤber-
all Witz und ein feines Spiel der Phantaſie ſucht;
wen eine angenehme Blume oder eine liebliche Ge-
gend, mehr ruͤhret, als ein rauſchendes Waſſer oder
ein wildes Felsgebuͤrge; alle dieſe wuͤrden ſich ver-
geblich bemuͤhen, unſre Bewundrung zu erweken.
Hat aber die Natur die Anlage zum Groſſen in die
Seele geleget, ſo kann ein ernſtliches Nachdenken
uͤber die groͤßten Gegenſtaͤnde in der Natur und in
den Sitten, eine fleißige Uebung, alles auf groſſe
Geſichtspunkte zu fuͤhren, der Umgang mit groß-
muͤthigen Maͤnnern, fleißiges und ernſthaftes Stu-
dium der erhabenſten Werke der Kuͤnſte, deſto faͤ-
higer machen, durch ſeine Werke Bewundrung zu
erweken.

Beyſpiel.
(Redende Kuͤnſte.)

Jede Vorſtellung des Allgemeinen durch das Be-
ſondere, kann in weitlaͤuftigem Sinn ein Beyſpiel
genennet werden; in ſo fern gehoͤren die aeſopiſche
Fabel, die Parabel, die Allegorie, zum Beyſpiel.
Jn der engern Bedeutung aber iſt es ein beſonderer
Fall, in der Abſicht angefuͤhrt, daß das Allgemeine
der Art oder der Gattung, wozu er gehoͤrt, mit
Vortheil daraus erkennt werde.

Man bedienet ſich des Beyſpiels ſowol in der ge-
meinen und taͤglichen Rede, als in dogmatiſchen
Schriften ſehr haͤufig, um allgemeine Saͤtze, Re-
geln, Erklaͤrungen durch daſſelbe zu erlaͤutern: ſo
wie die Rechenmeiſter, wenn ſie eine Regel geben,
ſogleich einen beſondern Fall anfuͤhren, an dem ſie
dieſelbe Stuͤk fuͤr Stuͤk erklaͤren. Die Redner und
Dichter haben ſelten noͤthig, Beyſpiele in dieſer Ab-
ſicht anzufuͤhren, weil ſie ſelten ſolche allgemeine
und abſtrakte Dinge vorbringen, die ohne Beyſpiele
nicht deutlich genug gefaßt wuͤrden. Dennoch brau-
chen ſie das Beyſpiel ſehr haͤufig, um dasjenige,

was
X 3
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[165/0177] Bew Bew Bey unterſcheiden, und mit ſeinem Ueberſetzer (*) mit den Namen Verwundrung und Bewundrung bele- gen will, ſo wuͤrde ich der Empfindung, welche aus einer gegen unſre Vermuthung ſich ereignenden Be- gebenheit entſteht, den Namen Verwundrung bey- legen, und die Empfindung, welche aus Betrach- tung einer auſſerordentlichen und unbegreiflichen Kraft entſteht, Bewundrung nennen. Man koͤnnte dieſe einen Affekt des Geiſtes nennen: denn ſie hat mit den Affekten dieſes gemein, daß ſie mit einem lebhaften Beſtreben, ſeine Begriffe zu der Groͤſſe, die man vor ſich ſieht, zu erheben verbunden iſt. Vermuthlich hat Descartes deshalben die Bewundrung unter die Leidenſchaften gezaͤhlt. Wolff aber hat ſie dar- um davon ausgeſchloſſen, weil dieſes lebhafte Ge- fuͤhl mit keiner offenbaren Zuneigung oder Abnei- gung gegen die bewunderte Sache verbunden iſt, ob ſich gleich etwas dieſem aͤhnliches dabey zu zei- gen ſcheinet. (*) S. Homes Grundſaͤtze der Critik 1 Theil S. 343. der deutſchen Ueberſ. von 1763. Wie dem aber ſeyn mag: ſo iſt dieſes offenbar, daß die Bewundrung eine der lebhafteſten Empfin- dungen ſey, die zur Befoͤrderung des Guten, und zur Vermeidung des Boͤſen fuͤrtrefliche Dienſte thun kann. Und in ſo fern iſt ſie eine von den Empfin- dungen, welche die Kuͤnſte vorzuͤglich muͤſſen zu er- wecken ſuchen. Sie wird aber eben ſowol durch ei- nen hohen Grad des Boͤſen, als des Guten hervor- gebracht. Die auſſerordentliche Bosheit des Sa- tans bey Milton, und Klopſtock, oder gewiſſer Menſchen in den Trauerſpielen des Shakeſpear, ſetzen uns eben ſo ſtark in Bewundrung, als die er- habenen Charaktere der Helden in dem Guten. Jenes wuͤrkt Abſcheu und Verwuͤnſchung, dieſes Ehrfurcht und Beſtreben zur Nachahmung des Guten. Die- ſes alles iſt ſo offenbar und ſo bekannt, daß es kei- ner weitern Ausfuͤhrung bedarf. Wir koͤnnen alſo gleich dieſe Regel feſt ſetzen, daß der Kuͤnſtler die Gelegenheit, uns in Bewun- drung zu ſetzen, niemal muß ungenutzt vorbey ge- hen laſſen. Die Gelegenheiten zeigen ſich uͤberall, wo groſſe Charaktere und groſſe Handlungen koͤn- nen vorgeſtellt werden: im epiſchen Gedicht, im Trauerſpiel, in der Ode, im hiſtoriſchen Ge- maͤhlde, in Abbildung einzeler Perſonen durch den Pinſel oder durch den Meiſſel, und in ernſthaften Arten der Muſik. Die beſondern Quellen des Wun- derbaren haben wir an einem andern Orte be- ſchrieben. (*) (*) S. Wunder- bar. Der Kuͤnſtler, welcher Bewundrung erregen will, muß nicht nur die Quellen des Wunderbaren ken- nen, er muß ſelbſt groß denken und groß fuͤhlen: gemeine Kuͤnſtler erreichen dieſen Grad der Wuͤr- kung niemal. Wem die Natur die Groͤſſe der Seele nicht gegeben hat, der unternehme es nicht, uns in Bewundrung zu ſetzen. Der, dem in der Natur alles ſcherzt und lacht, oder dem in den Handlungen der Menſchen und in den Begebenhei- ten, alles eine poßierliche Seite hat; der, der uͤber- all Witz und ein feines Spiel der Phantaſie ſucht; wen eine angenehme Blume oder eine liebliche Ge- gend, mehr ruͤhret, als ein rauſchendes Waſſer oder ein wildes Felsgebuͤrge; alle dieſe wuͤrden ſich ver- geblich bemuͤhen, unſre Bewundrung zu erweken. Hat aber die Natur die Anlage zum Groſſen in die Seele geleget, ſo kann ein ernſtliches Nachdenken uͤber die groͤßten Gegenſtaͤnde in der Natur und in den Sitten, eine fleißige Uebung, alles auf groſſe Geſichtspunkte zu fuͤhren, der Umgang mit groß- muͤthigen Maͤnnern, fleißiges und ernſthaftes Stu- dium der erhabenſten Werke der Kuͤnſte, deſto faͤ- higer machen, durch ſeine Werke Bewundrung zu erweken. Beyſpiel. (Redende Kuͤnſte.) Jede Vorſtellung des Allgemeinen durch das Be- ſondere, kann in weitlaͤuftigem Sinn ein Beyſpiel genennet werden; in ſo fern gehoͤren die aeſopiſche Fabel, die Parabel, die Allegorie, zum Beyſpiel. Jn der engern Bedeutung aber iſt es ein beſonderer Fall, in der Abſicht angefuͤhrt, daß das Allgemeine der Art oder der Gattung, wozu er gehoͤrt, mit Vortheil daraus erkennt werde. Man bedienet ſich des Beyſpiels ſowol in der ge- meinen und taͤglichen Rede, als in dogmatiſchen Schriften ſehr haͤufig, um allgemeine Saͤtze, Re- geln, Erklaͤrungen durch daſſelbe zu erlaͤutern: ſo wie die Rechenmeiſter, wenn ſie eine Regel geben, ſogleich einen beſondern Fall anfuͤhren, an dem ſie dieſelbe Stuͤk fuͤr Stuͤk erklaͤren. Die Redner und Dichter haben ſelten noͤthig, Beyſpiele in dieſer Ab- ſicht anzufuͤhren, weil ſie ſelten ſolche allgemeine und abſtrakte Dinge vorbringen, die ohne Beyſpiele nicht deutlich genug gefaßt wuͤrden. Dennoch brau- chen ſie das Beyſpiel ſehr haͤufig, um dasjenige, was X 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/177>, abgerufen am 23.11.2024.