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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Cha
den; er wär ein Unding, etwas, das nur in der
Phantasie des Dichters entstanden ist. Und wenn
man uns in einem Roman einen Menschen ab-
bildete, der überall, wo er hinkommt, königliche
Geschenke austheilet, der ganze Familien reich ma-
chet, so würde uns dieses gar wenig rühren, da
wir die Quelle nicht erkennen, aus welcher aller die-
ser Reichthum fliesset. So wie würkliche Wunder-
werke am wenigsten wunderbar sind, weil wir von
den Kräften, wodurch sie bewürkt werden, gar nichts
erkennen, so ist es auch mit jeder Aeusserung mensch-
licher Kräfte, sie seyen auf das Gute oder Böse ge-
richtet, deren Grund und Quelle wir nirgend ent-
deken können.

Es ist also eine sehr wesentliche Sache, daß man
sich in dem, was handelnden Personen zugeschrie-
ben wird, vor dem willkührlichen, romanhaften
und abentheuerlichen in acht nehme; denn diese Sa-
chen sind in keinem Charakter gegründet. Wie der
Mahler sich lediglich an die Natur halten, und z. E.
jedem Baume, nicht nur die Art der Blüte oder Frucht
zueignen muß, die ihm natürlich ist, sondern sie auch
nur an denjenigen Arten der Zweige, an denen sie
würklich wachsen, nicht aber an willkührlichen Stel-
len, anbringen darf; so muß es auch der Dichter
mit jeder Aeusserung des Gemüths halten, die eben
so natürliche Würkungen des Charakters sind, als
Blüten und Früchte, Würkungen der besondern Na-
tur eines Baumes.

Ueberdem müssen alle Gesinnungen, Reden und
Handlungen, die den Personen zugeschrieben werden,
nicht nur allgemein wahr seyn, sondern nach allen, den
Personen eigenen Modificationen, genau abgemes-
sen werden; denn niemand hat blos den allgemeinen
Charakter seiner| Art. Der Dichter muß nicht nach
Art derer, die ehemals die Ritterbücher geschrieben
haben, arbeiten, wo alle Ritter gleich tapfer sind,
sondern so wie Homer, bey welchem die Tapferkeit
des Achilles eine andre Tapferkeit ist, als die, die
man am Hektor, oder am Ajax, oder am Diomedes
sieht. Wie man den Löwen aus einer Klaue er-
kennt, so muß man aus jeder besondern Rede einer
Person, ihren Charakter erkennen, weil in der That
jedes, was ihr eigen ist, etwas zu gänzlicher Bestim-
stimmung derselben beygetragen hat.

Jeder Charakter aber wird durch dreyerley Gat-
tungen würkender Ursachen bestimmt. Durch das,
was der Nation und dem Zeitalter, darin man lebt,
[Spaltenumbruch]

Cha
eigen ist; durch den Stand, die Lebensart und das
Alter, und endlich durch das besondre persönliche
jedes Menschen, nämlich sein Genie, sein Tempe-
rament, und alles übrige, was ihn zu einer beson-
dern Person macht. Mithin muß jede Aeusserung
des Charakters mit allen den würkenden Ursachen
auf denselben genau übereinkommen. Wer also Per-
sonen aus einem entfernten Zeitalter, aus einer ganz
fremden Nation, zu behandeln hat, dem wird es
nothwendig sehr viel schweerer eines jeden Charak-
ter zu treffen. Oßian mahlte Personen seiner Zeit,
seiner Nation, seines Standes und zum Theil sei-
ner eigenen Familie, und fand also in der genauen
Bezeichnung derselben die wenigsten Schwierigkei-
ten. Auch Homer hat seine Personen von einem
nicht sehr entfernten Zeitalter, und aus einer ihm
nicht fremden Nation genommen. Jn der Aeneis
ist es schon stark zu merken, daß der Dichter sich
nicht ganz in die Zeiten, Sitten und den Stand
seiner Personen hat setzen können. Kein Dichter
hat darin mehr Behutsamkeit nöthig gehabt, als
der Dichter des Noah, da er seine Handlung aus
dem entferntesten Zeitalter und den fremdesten Sit-
ten genommen hat. Dennoch ist er in seinen Cha-
rakteren sehr glüklich, und auch da, wo er mit gu-
tem Vorbedacht Begebenheiten der spätern Welt in
jene entfernte Zeiten hinaufgesetzt, (*) hat er ihnen(*) S.
Wielands
Abhand-
lung über
den Noah
S. 15.

den Anstrich jenes entfernten Weltalters zu geben
gewußt. Mit bewundrungswürdiger Geschicklich-
keit hat sich Klopstock ganz in die Sitten und Sin-
nesart der Zeiten setzen können, in welche seine Hand-
lung fällt.

Jn grossen epischen Handlungen, wo viel merk-
würdige Personen vorkommen, muß auch eine grosse
Mannigfaltigkeit der Charakter erscheinen. Diese
muß aber nicht blos in derjenigen Verschiedenheit
gesucht werden, die in dem wesentlichen Charakter
liegt, wie etwa beym Homer die Charakter des Achil-
les, des Nestors und des Ulysses sind, da keiner
einen Zug mit dem andern gemein hat; sondern auch
einerley wesentliches muß durch Genie, durch Tem-
perament, durch Alter und andre zufällige Bestim-
mungen, in den verschiedenen Personen eine ange-
nehme Mannigfaltigkeit erhalten.

Von denen, die durch die Hauptzüge sich unter-
scheiden, kann man einen sehr guten Gebrauch machen,
wenn man entgegen gesetzte Charakter bey einerley
Vorfälle neben einander stellt, damit sie einen Ge-

gensatz
B b 3

[Spaltenumbruch]

Cha
den; er waͤr ein Unding, etwas, das nur in der
Phantaſie des Dichters entſtanden iſt. Und wenn
man uns in einem Roman einen Menſchen ab-
bildete, der uͤberall, wo er hinkommt, koͤnigliche
Geſchenke austheilet, der ganze Familien reich ma-
chet, ſo wuͤrde uns dieſes gar wenig ruͤhren, da
wir die Quelle nicht erkennen, aus welcher aller die-
ſer Reichthum flieſſet. So wie wuͤrkliche Wunder-
werke am wenigſten wunderbar ſind, weil wir von
den Kraͤften, wodurch ſie bewuͤrkt werden, gar nichts
erkennen, ſo iſt es auch mit jeder Aeuſſerung menſch-
licher Kraͤfte, ſie ſeyen auf das Gute oder Boͤſe ge-
richtet, deren Grund und Quelle wir nirgend ent-
deken koͤnnen.

Es iſt alſo eine ſehr weſentliche Sache, daß man
ſich in dem, was handelnden Perſonen zugeſchrie-
ben wird, vor dem willkuͤhrlichen, romanhaften
und abentheuerlichen in acht nehme; denn dieſe Sa-
chen ſind in keinem Charakter gegruͤndet. Wie der
Mahler ſich lediglich an die Natur halten, und z. E.
jedem Baume, nicht nur die Art der Bluͤte oder Frucht
zueignen muß, die ihm natuͤrlich iſt, ſondern ſie auch
nur an denjenigen Arten der Zweige, an denen ſie
wuͤrklich wachſen, nicht aber an willkuͤhrlichen Stel-
len, anbringen darf; ſo muß es auch der Dichter
mit jeder Aeuſſerung des Gemuͤths halten, die eben
ſo natuͤrliche Wuͤrkungen des Charakters ſind, als
Bluͤten und Fruͤchte, Wuͤrkungen der beſondern Na-
tur eines Baumes.

Ueberdem muͤſſen alle Geſinnungen, Reden und
Handlungen, die den Perſonen zugeſchrieben werden,
nicht nur allgemein wahr ſeyn, ſondern nach allen, den
Perſonen eigenen Modificationen, genau abgemeſ-
ſen werden; denn niemand hat blos den allgemeinen
Charakter ſeiner| Art. Der Dichter muß nicht nach
Art derer, die ehemals die Ritterbuͤcher geſchrieben
haben, arbeiten, wo alle Ritter gleich tapfer ſind,
ſondern ſo wie Homer, bey welchem die Tapferkeit
des Achilles eine andre Tapferkeit iſt, als die, die
man am Hektor, oder am Ajax, oder am Diomedes
ſieht. Wie man den Loͤwen aus einer Klaue er-
kennt, ſo muß man aus jeder beſondern Rede einer
Perſon, ihren Charakter erkennen, weil in der That
jedes, was ihr eigen iſt, etwas zu gaͤnzlicher Beſtim-
ſtimmung derſelben beygetragen hat.

Jeder Charakter aber wird durch dreyerley Gat-
tungen wuͤrkender Urſachen beſtimmt. Durch das,
was der Nation und dem Zeitalter, darin man lebt,
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Cha
eigen iſt; durch den Stand, die Lebensart und das
Alter, und endlich durch das beſondre perſoͤnliche
jedes Menſchen, naͤmlich ſein Genie, ſein Tempe-
rament, und alles uͤbrige, was ihn zu einer beſon-
dern Perſon macht. Mithin muß jede Aeuſſerung
des Charakters mit allen den wuͤrkenden Urſachen
auf denſelben genau uͤbereinkommen. Wer alſo Per-
ſonen aus einem entfernten Zeitalter, aus einer ganz
fremden Nation, zu behandeln hat, dem wird es
nothwendig ſehr viel ſchweerer eines jeden Charak-
ter zu treffen. Oßian mahlte Perſonen ſeiner Zeit,
ſeiner Nation, ſeines Standes und zum Theil ſei-
ner eigenen Familie, und fand alſo in der genauen
Bezeichnung derſelben die wenigſten Schwierigkei-
ten. Auch Homer hat ſeine Perſonen von einem
nicht ſehr entfernten Zeitalter, und aus einer ihm
nicht fremden Nation genommen. Jn der Aeneis
iſt es ſchon ſtark zu merken, daß der Dichter ſich
nicht ganz in die Zeiten, Sitten und den Stand
ſeiner Perſonen hat ſetzen koͤnnen. Kein Dichter
hat darin mehr Behutſamkeit noͤthig gehabt, als
der Dichter des Noah, da er ſeine Handlung aus
dem entfernteſten Zeitalter und den fremdeſten Sit-
ten genommen hat. Dennoch iſt er in ſeinen Cha-
rakteren ſehr gluͤklich, und auch da, wo er mit gu-
tem Vorbedacht Begebenheiten der ſpaͤtern Welt in
jene entfernte Zeiten hinaufgeſetzt, (*) hat er ihnen(*) S.
Wielands
Abhand-
lung uͤber
den Noah
S. 15.

den Anſtrich jenes entfernten Weltalters zu geben
gewußt. Mit bewundrungswuͤrdiger Geſchicklich-
keit hat ſich Klopſtock ganz in die Sitten und Sin-
nesart der Zeiten ſetzen koͤnnen, in welche ſeine Hand-
lung faͤllt.

Jn groſſen epiſchen Handlungen, wo viel merk-
wuͤrdige Perſonen vorkommen, muß auch eine groſſe
Mannigfaltigkeit der Charakter erſcheinen. Dieſe
muß aber nicht blos in derjenigen Verſchiedenheit
geſucht werden, die in dem weſentlichen Charakter
liegt, wie etwa beym Homer die Charakter des Achil-
les, des Neſtors und des Ulyſſes ſind, da keiner
einen Zug mit dem andern gemein hat; ſondern auch
einerley weſentliches muß durch Genie, durch Tem-
perament, durch Alter und andre zufaͤllige Beſtim-
mungen, in den verſchiedenen Perſonen eine ange-
nehme Mannigfaltigkeit erhalten.

Von denen, die durch die Hauptzuͤge ſich unter-
ſcheiden, kann man einen ſehr guten Gebrauch machen,
wenn man entgegen geſetzte Charakter bey einerley
Vorfaͤlle neben einander ſtellt, damit ſie einen Ge-

genſatz
B b 3
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[197/0209] Cha Cha den; er waͤr ein Unding, etwas, das nur in der Phantaſie des Dichters entſtanden iſt. Und wenn man uns in einem Roman einen Menſchen ab- bildete, der uͤberall, wo er hinkommt, koͤnigliche Geſchenke austheilet, der ganze Familien reich ma- chet, ſo wuͤrde uns dieſes gar wenig ruͤhren, da wir die Quelle nicht erkennen, aus welcher aller die- ſer Reichthum flieſſet. So wie wuͤrkliche Wunder- werke am wenigſten wunderbar ſind, weil wir von den Kraͤften, wodurch ſie bewuͤrkt werden, gar nichts erkennen, ſo iſt es auch mit jeder Aeuſſerung menſch- licher Kraͤfte, ſie ſeyen auf das Gute oder Boͤſe ge- richtet, deren Grund und Quelle wir nirgend ent- deken koͤnnen. Es iſt alſo eine ſehr weſentliche Sache, daß man ſich in dem, was handelnden Perſonen zugeſchrie- ben wird, vor dem willkuͤhrlichen, romanhaften und abentheuerlichen in acht nehme; denn dieſe Sa- chen ſind in keinem Charakter gegruͤndet. Wie der Mahler ſich lediglich an die Natur halten, und z. E. jedem Baume, nicht nur die Art der Bluͤte oder Frucht zueignen muß, die ihm natuͤrlich iſt, ſondern ſie auch nur an denjenigen Arten der Zweige, an denen ſie wuͤrklich wachſen, nicht aber an willkuͤhrlichen Stel- len, anbringen darf; ſo muß es auch der Dichter mit jeder Aeuſſerung des Gemuͤths halten, die eben ſo natuͤrliche Wuͤrkungen des Charakters ſind, als Bluͤten und Fruͤchte, Wuͤrkungen der beſondern Na- tur eines Baumes. Ueberdem muͤſſen alle Geſinnungen, Reden und Handlungen, die den Perſonen zugeſchrieben werden, nicht nur allgemein wahr ſeyn, ſondern nach allen, den Perſonen eigenen Modificationen, genau abgemeſ- ſen werden; denn niemand hat blos den allgemeinen Charakter ſeiner| Art. Der Dichter muß nicht nach Art derer, die ehemals die Ritterbuͤcher geſchrieben haben, arbeiten, wo alle Ritter gleich tapfer ſind, ſondern ſo wie Homer, bey welchem die Tapferkeit des Achilles eine andre Tapferkeit iſt, als die, die man am Hektor, oder am Ajax, oder am Diomedes ſieht. Wie man den Loͤwen aus einer Klaue er- kennt, ſo muß man aus jeder beſondern Rede einer Perſon, ihren Charakter erkennen, weil in der That jedes, was ihr eigen iſt, etwas zu gaͤnzlicher Beſtim- ſtimmung derſelben beygetragen hat. Jeder Charakter aber wird durch dreyerley Gat- tungen wuͤrkender Urſachen beſtimmt. Durch das, was der Nation und dem Zeitalter, darin man lebt, eigen iſt; durch den Stand, die Lebensart und das Alter, und endlich durch das beſondre perſoͤnliche jedes Menſchen, naͤmlich ſein Genie, ſein Tempe- rament, und alles uͤbrige, was ihn zu einer beſon- dern Perſon macht. Mithin muß jede Aeuſſerung des Charakters mit allen den wuͤrkenden Urſachen auf denſelben genau uͤbereinkommen. Wer alſo Per- ſonen aus einem entfernten Zeitalter, aus einer ganz fremden Nation, zu behandeln hat, dem wird es nothwendig ſehr viel ſchweerer eines jeden Charak- ter zu treffen. Oßian mahlte Perſonen ſeiner Zeit, ſeiner Nation, ſeines Standes und zum Theil ſei- ner eigenen Familie, und fand alſo in der genauen Bezeichnung derſelben die wenigſten Schwierigkei- ten. Auch Homer hat ſeine Perſonen von einem nicht ſehr entfernten Zeitalter, und aus einer ihm nicht fremden Nation genommen. Jn der Aeneis iſt es ſchon ſtark zu merken, daß der Dichter ſich nicht ganz in die Zeiten, Sitten und den Stand ſeiner Perſonen hat ſetzen koͤnnen. Kein Dichter hat darin mehr Behutſamkeit noͤthig gehabt, als der Dichter des Noah, da er ſeine Handlung aus dem entfernteſten Zeitalter und den fremdeſten Sit- ten genommen hat. Dennoch iſt er in ſeinen Cha- rakteren ſehr gluͤklich, und auch da, wo er mit gu- tem Vorbedacht Begebenheiten der ſpaͤtern Welt in jene entfernte Zeiten hinaufgeſetzt, (*) hat er ihnen den Anſtrich jenes entfernten Weltalters zu geben gewußt. Mit bewundrungswuͤrdiger Geſchicklich- keit hat ſich Klopſtock ganz in die Sitten und Sin- nesart der Zeiten ſetzen koͤnnen, in welche ſeine Hand- lung faͤllt. (*) S. Wielands Abhand- lung uͤber den Noah S. 15. Jn groſſen epiſchen Handlungen, wo viel merk- wuͤrdige Perſonen vorkommen, muß auch eine groſſe Mannigfaltigkeit der Charakter erſcheinen. Dieſe muß aber nicht blos in derjenigen Verſchiedenheit geſucht werden, die in dem weſentlichen Charakter liegt, wie etwa beym Homer die Charakter des Achil- les, des Neſtors und des Ulyſſes ſind, da keiner einen Zug mit dem andern gemein hat; ſondern auch einerley weſentliches muß durch Genie, durch Tem- perament, durch Alter und andre zufaͤllige Beſtim- mungen, in den verſchiedenen Perſonen eine ange- nehme Mannigfaltigkeit erhalten. Von denen, die durch die Hauptzuͤge ſich unter- ſcheiden, kann man einen ſehr guten Gebrauch machen, wenn man entgegen geſetzte Charakter bey einerley Vorfaͤlle neben einander ſtellt, damit ſie einen Ge- genſatz B b 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/209>, abgerufen am 29.04.2024.