Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Cho nächste Nachahmung des alten Trauerspiels zu seyn.Einige Engländer haben versucht die Chöre wieder einzuführen, und selbst Racine hat es in der Atha- lia gethan. Auch im Lustspiel hatten die Alten anfänglich Auch die Lieder, welche der Chor abgesungen hat, Cho durch Lysander, wurde in Vorschlag gebracht, nichtnur alle Athenienser zu Sclaven zu machen, son- dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gänz- lich zerstöhren sollte. Als hierauf die Anführer der Feinde zur Tafel gegangen waren, sang ein gewis- ser Phocenser den Chor aus des Euripides Elektra, der mit diesen Worten anfängt: O! Tochter des Agamemnons Elektra Dieses Lied erwekte so starkes Mitleiden bey den Chor in der heutigen Musik. Bedeutet einen Der Dichter also, der den Text zu einer feyer- legenheit (+) Die Stelle, welche sich in dem Fragment des
Platonius, von den drey Comedien der Griechen, [Spaltenumbruch] hierüber findet, hat Theobald in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespears angeführt und verbessert. [Spaltenumbruch] Cho naͤchſte Nachahmung des alten Trauerſpiels zu ſeyn.Einige Englaͤnder haben verſucht die Choͤre wieder einzufuͤhren, und ſelbſt Racine hat es in der Atha- lia gethan. Auch im Luſtſpiel hatten die Alten anfaͤnglich Auch die Lieder, welche der Chor abgeſungen hat, Cho durch Lyſander, wurde in Vorſchlag gebracht, nichtnur alle Athenienſer zu Sclaven zu machen, ſon- dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gaͤnz- lich zerſtoͤhren ſollte. Als hierauf die Anfuͤhrer der Feinde zur Tafel gegangen waren, ſang ein gewiſ- ſer Phocenſer den Chor aus des Euripides Elektra, der mit dieſen Worten anfaͤngt: O! Tochter des Agamemnons Elektra Dieſes Lied erwekte ſo ſtarkes Mitleiden bey den Chor in der heutigen Muſik. Bedeutet einen Der Dichter alſo, der den Text zu einer feyer- legenheit (†) Die Stelle, welche ſich in dem Fragment des
Platonius, von den drey Comedien der Griechen, [Spaltenumbruch] hieruͤber findet, hat Theobald in der Vorrede zu ſeiner Ausgabe des Shakeſpears angefuͤhrt und verbeſſert. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0214" n="202"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Cho</hi></fw><lb/> naͤchſte Nachahmung des alten Trauerſpiels zu ſeyn.<lb/> Einige Englaͤnder haben verſucht die Choͤre wieder<lb/> einzufuͤhren, und ſelbſt <hi rendition="#fr">Racine</hi> hat es in der Atha-<lb/> lia gethan.</p><lb/> <p>Auch im Luſtſpiel hatten die Alten anfaͤnglich<lb/> Choͤre, die aber zeitig abgeſchaft worden. Jn der<lb/> alten athenienſiſchen Comoͤdie, war die Beforgung<lb/> des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal<lb/> durch eine oͤffentliche Wahl dazu ernennt worden;<lb/> dieſer mußte die Saͤnger des Chors bezahlen. 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Es ſcheinet, daß die<lb/> Dichter auf dieſe Choͤre den groͤßten Fleis gewen-<lb/> det, und dabey hauptſaͤchlich zum Augenmerk ge-<lb/> habt haben, ſie zu Nationalgeſaͤngen zu machen;<lb/> wie man denn verſchiedentlich Spuhren findet, daß<lb/> viele dieſe Lieder auswendig gekonnt, und wie<lb/> ſich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgeſungen ha-<lb/> ben. Was fuͤr Kraft dieſe Geſaͤnge auf die Gemuͤ-<lb/> ther gehabt haben, laͤßt ſich aus folgenden zwey<lb/><note place="left">(*) Jn dem<lb/> Leben des<lb/> Nicias.</note>Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet, (*) daß<lb/> viel von den ungluͤklichen Athenienſern, die nach<lb/> der beruͤhmten Niederlage, die Nicias in Sicilien<lb/> erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Abſin-<lb/> gung der ruͤhrenden Lieder des Euripides ihre Frey-<lb/> heit wieder bekommen haben. Sie lernten, ſagt<lb/> er, die kleinen Stuͤke aus ſeinen Tragedien, welche<lb/> von Reiſenden dahin gebracht wurden, auswendig,<lb/> und machten ſie auch andern bekannt. 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Cho
Cho
naͤchſte Nachahmung des alten Trauerſpiels zu ſeyn.
Einige Englaͤnder haben verſucht die Choͤre wieder
einzufuͤhren, und ſelbſt Racine hat es in der Atha-
lia gethan.
Auch im Luſtſpiel hatten die Alten anfaͤnglich
Choͤre, die aber zeitig abgeſchaft worden. Jn der
alten athenienſiſchen Comoͤdie, war die Beforgung
des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal
durch eine oͤffentliche Wahl dazu ernennt worden;
dieſer mußte die Saͤnger des Chors bezahlen. Als
aber jener, welcher Choragos genennt wurd, ab-
geſchaft worden, gingen auch die Choͤre ein, weil
niemand die Saͤnger bezahlen wollte.
(†)
Auch die Lieder, welche der Chor abgeſungen hat,
werden Choͤre genennt. Sie machen einen wichti-
gen Theil deſſen aus, was uns von der lyriſchen
Poeſie der Griechen uͤbrig geblieben iſt. Sie ſind,
ſo wie die pindariſchen Oden in Strophen und An-
tiſtrophen eingetheilt, und beſtehen meiſt aus ſehr
kurzen lyriſchen Verſen. Es ſcheinet, daß die
Dichter auf dieſe Choͤre den groͤßten Fleis gewen-
det, und dabey hauptſaͤchlich zum Augenmerk ge-
habt haben, ſie zu Nationalgeſaͤngen zu machen;
wie man denn verſchiedentlich Spuhren findet, daß
viele dieſe Lieder auswendig gekonnt, und wie
ſich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgeſungen ha-
ben. Was fuͤr Kraft dieſe Geſaͤnge auf die Gemuͤ-
ther gehabt haben, laͤßt ſich aus folgenden zwey
Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet, (*) daß
viel von den ungluͤklichen Athenienſern, die nach
der beruͤhmten Niederlage, die Nicias in Sicilien
erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Abſin-
gung der ruͤhrenden Lieder des Euripides ihre Frey-
heit wieder bekommen haben. Sie lernten, ſagt
er, die kleinen Stuͤke aus ſeinen Tragedien, welche
von Reiſenden dahin gebracht wurden, auswendig,
und machten ſie auch andern bekannt. Viele von
denen, die in ihr Vaterland wieder zuruͤk gekom-
men ſind, ſollen den Euripides auf das zaͤrtlichſte
umarmt und ihm erzaͤhlt haben, wie ſie einige ſeiner
Lieder ihren Herrn vorgeſungen, und dadurch theils
ihre Freyheit wieder bekommen, theis nach der
Schlacht, in der Jrre, den noͤthigen Unterhalt ge-
funden haben. Eben dieſer Geſchichtſchreiber erzaͤhlt
auch folgendes: (*) Nach der Eroberung Athens
durch Lyſander, wurde in Vorſchlag gebracht, nicht
nur alle Athenienſer zu Sclaven zu machen, ſon-
dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gaͤnz-
lich zerſtoͤhren ſollte. Als hierauf die Anfuͤhrer der
Feinde zur Tafel gegangen waren, ſang ein gewiſ-
ſer Phocenſer den Chor aus des Euripides Elektra,
der mit dieſen Worten anfaͤngt:
(*) Jn dem
Leben des
Nicias.
(*) Jm
Lyſ. uder.
O! Tochter des Agamemnons Elektra
Jch komm in deine baͤuriſche Huͤtte.
Dieſes Lied erwekte ſo ſtarkes Mitleiden bey den
Zuhoͤrern, daß die Stadt verſchont wurde.
Chor in der heutigen Muſik. Bedeutet einen
vier- oder mehrſtimmigen figurirten oder arien-
maͤßigen Geſang. Er dienet, das Gehoͤr auf ein-
mal mit der vollen Pracht der Harmonie und zu-
gleich mit der Schoͤnheit der Melodie zu ruͤh-
ren, zumal wenn jede Parthie mit einer Menge von
Stimmen beſetzt iſt. Solche Choͤre kommen zur
Abwechslung in groſſen Oratorien und in den Opern
vor. Der Text dazu enthaͤlt etwas, das natuͤrli-
cher Weiſe von dem ganzen Volke, welches bey der
Handlung intereßirt iſt, auf einmal geſprochen wird;
freudigen Zuruf, oder ehrfurchtsvolle Anbetung.
Ueberhaupt, weil bey dem Chor alle Perſonen einer-
ley Worte ſingen, ſo kann er von dem Dichter nur
da angebracht werden, wo der Gegenſtand natuͤr-
licher Weiſe auf gar alle Anweſende einerley Wuͤr-
kung macht, ſo daß keiner die Aeuſſerung derſelben
verbergen kann. Man kann ſich leicht vorſtellen,
daß bey einer feyerlichen Handlung, wenn durch
das, was geſchieht, das Gemuͤth zu gewiſſen Em-
pfindungen gut vorbereitet iſt, ein ploͤtzlicher Aus-
bruch deſſelben in einer Menge von Menſchen die
ſtaͤrkſte Wuͤrkung machen muͤſſe. Es iſt ohnedem
eine ſehr bekannte Sache, daß jede Empfindung,
die wir an vielen Menſchen zugleich ſehen, unwider-
ſtehlich auf uns wuͤrkt. Wer einen oder zwey Men-
ſchen in irgend einer Leidenſchaft ſieht, kann noch
mit einiger Ruhe ihnen zuſehen; wenn aber eine
ganze Menge durch dieſelbe Leidenſchaft in Bewegung
geſetzt iſt, ſo wird man mit unwiderſtehlicher Ge-
walt zur Freude, Furcht oder Schreken hingeriſſen.
Der Dichter alſo, der den Text zu einer feyer-
lichen Muſik macht, muß mit Ueberlegung die Ge-
legenheit
(†) Die Stelle, welche ſich in dem Fragment des
Platonius, von den drey Comedien der Griechen,
hieruͤber findet, hat Theobald in der Vorrede zu ſeiner
Ausgabe des Shakeſpears angefuͤhrt und verbeſſert.
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