Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Cho einen Antheil, äussern gegen die handelnden Perso-nen ihre Gesinnungen durch Rath, Vermahnung oder Trost. Die Personen des Chors sind biswei- len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das ganze Volk, das die Priester an seiner Spitze hat, den Chor ausmacht; bisweilen sind sie die Aeltesten aus dem Volke, oder die Räthe des Königs, oder die Hausgenossen der Hauptperson, wie die Aufwär- terinnen einer Königin. Der Chor besteht aber auch bisweilen aus Personen, die ganz zufällig, als blosse Zuschauer zu der Handlung gekommen sind, wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das Lager der Griechen zu sehen, auf den Schauplatz geführt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es auch Chöre, die als Hauptpersonen der Handlung erscheinen, wie die Eumeniden des Aeschylus und (*) Jn der Tragedie #.die Danaiden (*) desselben Dichters. Die Hauptverrichtung des Chors ist, wie gesagt, Aus diesem Gesichtspunkt muß man den Gebrauch Cho Dichter ihn als vollkommen verschwiegen und un-partheyisch ansehen. Doch scheint es, daß schon Sophokles versucht habe, den Chor ganz abtreten zu lassen; denn in seinem Ajax theilet er sich, als ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden Personen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen Ajax zu suchen, in zwey Theile, und hilft den an- dern ihn aufsuchen; so daß kurz nachher, im Anfang des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Bühne erscheint. Man muß sich verwundern, daß Euri- pides sich dieser Freyheit nicht bedient hat. Die handelnden Personen entdeken in Gegenwart des Chors ihre geheimsten Gedanken, eben so, wie wenn sie ganz allein wären; der Chor verräth sie so we- nig, als der Zuschauer; er ist der Vertraute beyder Partheyen, auch wenn die Personen gegen einander handeln. Weil er also nothwendig unpartheyisch seyn mußte, so nimmt er, wenn er sich in die Hand- lung einmischt, allemal die Parthey der Billigkeit, doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie- den, er nimmt sich der Unterdrükten an, er sucht die Gemüther zu besänftigen, mischt seine Klagen mit unter die Thränen der Leidenden. Jndessen bleibt eine solche Theilnehmung an der Handlung meistentheils eine Nebensache. Die Hauptsache ist der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Gesang zwischen den Aufzügen. Anfänglich bestuhnd der Chor in dem griechischen Die Neuern haben die Chöre im Trauerspiel ab- nächste Erster Theil. C c
[Spaltenumbruch] Cho einen Antheil, aͤuſſern gegen die handelnden Perſo-nen ihre Geſinnungen durch Rath, Vermahnung oder Troſt. Die Perſonen des Chors ſind biswei- len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das ganze Volk, das die Prieſter an ſeiner Spitze hat, den Chor ausmacht; bisweilen ſind ſie die Aelteſten aus dem Volke, oder die Raͤthe des Koͤnigs, oder die Hausgenoſſen der Hauptperſon, wie die Aufwaͤr- terinnen einer Koͤnigin. Der Chor beſteht aber auch bisweilen aus Perſonen, die ganz zufaͤllig, als bloſſe Zuſchauer zu der Handlung gekommen ſind, wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das Lager der Griechen zu ſehen, auf den Schauplatz gefuͤhrt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es auch Choͤre, die als Hauptperſonen der Handlung erſcheinen, wie die Eumeniden des Aeſchylus und (*) Jn der Tragedie #.die Danaiden (*) deſſelben Dichters. Die Hauptverrichtung des Chors iſt, wie geſagt, Aus dieſem Geſichtspunkt muß man den Gebrauch Cho Dichter ihn als vollkommen verſchwiegen und un-partheyiſch anſehen. Doch ſcheint es, daß ſchon Sophokles verſucht habe, den Chor ganz abtreten zu laſſen; denn in ſeinem Ajax theilet er ſich, als ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden Perſonen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen Ajax zu ſuchen, in zwey Theile, und hilft den an- dern ihn aufſuchen; ſo daß kurz nachher, im Anfang des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Buͤhne erſcheint. Man muß ſich verwundern, daß Euri- pides ſich dieſer Freyheit nicht bedient hat. Die handelnden Perſonen entdeken in Gegenwart des Chors ihre geheimſten Gedanken, eben ſo, wie wenn ſie ganz allein waͤren; der Chor verraͤth ſie ſo we- nig, als der Zuſchauer; er iſt der Vertraute beyder Partheyen, auch wenn die Perſonen gegen einander handeln. Weil er alſo nothwendig unpartheyiſch ſeyn mußte, ſo nimmt er, wenn er ſich in die Hand- lung einmiſcht, allemal die Parthey der Billigkeit, doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie- den, er nimmt ſich der Unterdruͤkten an, er ſucht die Gemuͤther zu beſaͤnftigen, miſcht ſeine Klagen mit unter die Thraͤnen der Leidenden. Jndeſſen bleibt eine ſolche Theilnehmung an der Handlung meiſtentheils eine Nebenſache. Die Hauptſache iſt der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Geſang zwiſchen den Aufzuͤgen. Anfaͤnglich beſtuhnd der Chor in dem griechiſchen Die Neuern haben die Choͤre im Trauerſpiel ab- naͤchſte Erſter Theil. C c
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Cho
Cho
einen Antheil, aͤuſſern gegen die handelnden Perſo-
nen ihre Geſinnungen durch Rath, Vermahnung
oder Troſt. Die Perſonen des Chors ſind biswei-
len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung
vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das
ganze Volk, das die Prieſter an ſeiner Spitze hat,
den Chor ausmacht; bisweilen ſind ſie die Aelteſten
aus dem Volke, oder die Raͤthe des Koͤnigs, oder
die Hausgenoſſen der Hauptperſon, wie die Aufwaͤr-
terinnen einer Koͤnigin. Der Chor beſteht aber auch
bisweilen aus Perſonen, die ganz zufaͤllig, als
bloſſe Zuſchauer zu der Handlung gekommen ſind,
wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo
ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das
Lager der Griechen zu ſehen, auf den Schauplatz
gefuͤhrt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es
auch Choͤre, die als Hauptperſonen der Handlung
erſcheinen, wie die Eumeniden des Aeſchylus und
die Danaiden (*) deſſelben Dichters.
(*) Jn der
Tragedie
#.
Die Hauptverrichtung des Chors iſt, wie geſagt,
der Geſang zwiſchen den Handlungen, der allemal
moraliſchen Jnhalts iſt und dienet, entweder den
Affekt zu ſtaͤrken, oder gewiſſe Empfindungen uͤber
das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken.
Der Chor konnte aus dem Trauerſpiel niemals weg-
bleiben, weil er ihm weſentlich war; ob es gleich,
wenn das Trauerſpiel, wie in den naͤchſtfolgen-
den Zeiten geſchehen iſt, blos als eine wichtige
Handlung angeſehen wird, ſeiner gar nicht bedarf,
und er deswegen aus den neuern Trauerſpielen
ganz wegbleibet. Ja er konnte dieſem erſten Ur-
ſprung zufolge, auch nicht einmal die Buͤhne ver-
laſſen, ſondern mußte nothwendig als die Haupt-
ſache immer zugegen ſeyn, weil die Handlung ei-
gentlich das epiſodiſche des Schauſpiels war.
Aus dieſem Geſichtspunkt muß man den Gebrauch
der Choͤre beurtheilen, und das unwahrſcheinliche,
das bisweilen darin iſt, ſeinem Urſprung, und nicht
dem Dichter zuſchreiben. Wenn es von der Will-
kuͤhr des Dichters abgehangen haͤtte, mit dem
Chor, ſo wie mit den uͤbrigen Perſonen zu verfah-
ren, ſo waͤre es ein unverzeihlicher Fehler, daß
Euripides in der Jphigenia in Aulis, eine Schaar
fremder und ganz unbekannter Frauensperſonen,
gleich zu Vertrauten der Clytemneſtra und der uͤbri-
gen Hauptperſonen gemacht hat. Weil aber der Chor
nothwendig zugegen ſeyn mußte, mithin ein Zeuge
aller Reden und Handlungen war, ſo mußten die
Dichter ihn als vollkommen verſchwiegen und un-
partheyiſch anſehen. Doch ſcheint es, daß ſchon
Sophokles verſucht habe, den Chor ganz abtreten
zu laſſen; denn in ſeinem Ajax theilet er ſich, als
ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden
Perſonen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen
Ajax zu ſuchen, in zwey Theile, und hilft den an-
dern ihn aufſuchen; ſo daß kurz nachher, im Anfang
des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Buͤhne
erſcheint. Man muß ſich verwundern, daß Euri-
pides ſich dieſer Freyheit nicht bedient hat. Die
handelnden Perſonen entdeken in Gegenwart des
Chors ihre geheimſten Gedanken, eben ſo, wie wenn
ſie ganz allein waͤren; der Chor verraͤth ſie ſo we-
nig, als der Zuſchauer; er iſt der Vertraute beyder
Partheyen, auch wenn die Perſonen gegen einander
handeln. Weil er alſo nothwendig unpartheyiſch
ſeyn mußte, ſo nimmt er, wenn er ſich in die Hand-
lung einmiſcht, allemal die Parthey der Billigkeit,
doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie-
den, er nimmt ſich der Unterdruͤkten an, er ſucht
die Gemuͤther zu beſaͤnftigen, miſcht ſeine Klagen
mit unter die Thraͤnen der Leidenden. Jndeſſen
bleibt eine ſolche Theilnehmung an der Handlung
meiſtentheils eine Nebenſache. Die Hauptſache iſt
der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Geſang
zwiſchen den Aufzuͤgen.
Anfaͤnglich beſtuhnd der Chor in dem griechiſchen
Trauerſpiel aus vielen Perſonen, die ſich bisweilen
auf funfzig erſtrekten. Auf Befehl der Obrigkeit
mußte Aeſchylus dieſe Zahl bis auf 15 herunter
ſetzen, nachdem man geſehen, daß ein ſo groſſer
Pomp, wie bey der Vorſtellung der Eumeniden ge-
ſchehen, zu ſtarke Wuͤrkung auf die Gemuͤther ge-
than. (*) Der Chor hatte einen Vorſteher, der
Coryphaͤus genennt wurde: wenn der Chor Antheil
an der Handlung nahm, ſo redete dieſer allein im
Namen aller andern, daher die handelnden Perſo-
nen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden.
Bisweilen aber theilte ſich der Chor in zwey Truppe,
die beyde abwechſelnd ſangen.
(*) S.
Aeſchylus.
Die Neuern haben die Choͤre im Trauerſpiel ab-
geſchaft, ſo wie ſie uͤberhaupt viel in der Pracht
deſſelben hinter den Alten zuruͤke bleiben. Jndeſ-
ſen iſt gewiß, daß ſie mit groſſem Vortheil koͤnnten
bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem
Zwang frey waͤre, ihn beſtaͤndig auf der Buͤhne zu
behalten. Die heutigen Opern ſcheinen noch die
naͤchſte
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