Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Dia Dic Da man aber in der heutigen figurirten Musik Die Griechen hatten in ihrer Musik auch eine das weiche Von dem Ursprung oder der Erfindung der diatoni- Dichter. Mit diesem Namen möchten wir nicht gerne ohne -- Neque enim concludere versum Denn gemeine Gedanken oder Erzählungen in Ver- Dic Dichters ist, der in Versen spricht, erfodert noth-wendig auch ausserorden liche Gedanken, oder Em- pfindungen, aus denen man begreifen kann, wa- rum die gemeine Art der Rede verlassen worden. Man muß demnach den Charakter des Dichters Jngenium cui sit, cui mens divinior, atque os(*) Hor. l. c. Einmal die gebundene Rede, die gewöhnliche Sprache ein
[Spaltenumbruch]
Dia Dic Da man aber in der heutigen figurirten Muſik Die Griechen hatten in ihrer Muſik auch eine das weiche Von dem Urſprung oder der Erfindung der diatoni- Dichter. Mit dieſem Namen moͤchten wir nicht gerne ohne — Neque enim concludere verſum Denn gemeine Gedanken oder Erzaͤhlungen in Ver- Dic Dichters iſt, der in Verſen ſpricht, erfodert noth-wendig auch auſſerorden liche Gedanken, oder Em- pfindungen, aus denen man begreifen kann, wa- rum die gemeine Art der Rede verlaſſen worden. Man muß demnach den Charakter des Dichters Jngenium cui ſit, cui mens divinior, atque os(*) Hor. l. c. Einmal die gebundene Rede, die gewoͤhnliche Sprache ein
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Dia Dic
Dic
Da man aber in der heutigen figurirten Muſik
ſelten lang in einem Ton bleibet, indem man den
Geſang durch verſchiedene Toͤne und Tonarten durch-
fuͤhret, ſo wird das Diatoniſche bey den Auswei-
chungen oft unterbrochen. Nur in den Choralen,
wo keine Ausweichungen geſchehen, wird der ganz
reine diatoniſche Geſang ohne Ausnahm beybehalten,
und wird deßwegen von Zarlino der Diatono-dia-
toniſche Geſang genennt.
Die Griechen hatten in ihrer Muſik auch eine
diatoniſche Tonleiter, die aber von der heutigen et-
was unterſchieden iſt. Das diatoniſche Tetrachord
beſtehet aus drey Jntervallen, einem großen hal-
ben Ton und zwey großen ganzen Toͤnen, da in
unſrer Tonleiter nirgend zwey große Toͤne auf ein-
ander folgen. Aber auch das diatoniſche Tetrachord
der Alten war von verſchiedenen Arten, davon
Ptolemaͤus ſechs angiebt; Ariſtoxenus aber zwey.
Das gebraͤuchlichſte war das, was Ptolemaͤus diato-
nicum ditonum nennt, deſſen Jntervalle waren [FORMEL],
[FORMEL], [FORMEL]; die beyden Arten des Ariſtoxenus waren nach
ſeiner Art die Quarte zu theilen von folgenden Ver-
haͤltniſſen:
das weiche
12. 18. 30. oder [FORMEL], [FORMEL], [FORMEL]
das harte
21. 24. 24. oder [FORMEL], [FORMEL], [FORMEL]
Von dem Urſprung oder der Erfindung der diatoni-
ſchen Tonleiter iſt im Artikel Syſtem geſprochen
worden.
Dichter.
Mit dieſem Namen moͤchten wir nicht gerne ohne
Unterſchied alle diejenigen beehren, welche in ge-
bundener Rede geſchrieben, oder Verſe gemacht
haben,
— Neque enim concludere verſum
Dixeris eſſe ſatis (*)
Denn gemeine Gedanken oder Erzaͤhlungen in Ver-
ſen vortragen, macht ſo wenig den Dichter aus,
als die gemeine Sprache reden, einen Redner macht.
Man muß aller Urtheilskraft uͤber Gegenſtaͤnde des
Geſchmaks beraubet ſeyn, um ſich einbilden zu koͤn-
nen, daß gemeine und alltaͤgliche Gedanken durch
die Einkleidung in Verſe eine ſchoͤnere Rede machen,
als wenn ſie nach der gemeinen Art vorgetragen
waͤren; da vielmehr das Gegentheil geſchieht. Eine
auſſerordentliche Sprache, wie die Sprache des
Dichters iſt, der in Verſen ſpricht, erfodert noth-
wendig auch auſſerorden liche Gedanken, oder Em-
pfindungen, aus denen man begreifen kann, wa-
rum die gemeine Art der Rede verlaſſen worden.
Man muß demnach den Charakter des Dichters
nicht in der Kunſt ſuchen, die Rede durch wolabge-
meſſene und wolklingende Verſe fortzufuͤhren, ſon-
dern in dem Vermoͤgen den Geiſt und das Gemuͤth
durch Vorſtellungen, die einen ganz auſſerordentlichen
Gang der Rede erfodern, zu reizen. „Die Worte
und Syllaben in gewiſſe Geſetze zu dringen, und
Verſe zu ſchreiben, ſagt Opitz, iſt das allerwenigſte,
was in einem Poeten zu ſuchen iſt. Er muß #-
# von ſinnreichen Einfaͤllen und Er-
findungen ſeyn, muß ein groſſes unverzagtes Ge-
muͤth haben, muß hohe Sachen bey ſich erdenken
koͤnnen, ſoll anders ſeine Rede eine Art kriegen, und
von der Erde empor ſteigen.‟ (*) Eben dieſe Fo-
derungen macht Horaz, der nur den einen Dichter
nennt,
(*) Opitz
von der
deutſchen
Poeterey.
Jngenium cui ſit, cui mens divinior, atque os
magna ſonaturum. (*)
Einmal die gebundene Rede, die gewoͤhnliche Sprache
der Dichter, hat etwas ſo auſſerordentliches und
enthuſiaſtiſches, daß man ſie die Sprache der Goͤt-
ter genennt hat: deswegen ſie auch eine auſſeror-
dentliche Veranlaſung haben muß, welche ohne
Zweifel in dem Genie und Charakter des Dichters
zu ſuchen iſt. Es ſcheinet, daß einerley Lage des
Gemuͤthes Tanz, Muſik, Geſang und Poeſie her-
vorgebracht habe. Wir werden alſo auf die Ent-
dekung des poetiſchen Genies geleitet werden, wenn
wir den wahrſcheinlichen Urſprung dieſer Kuͤnſte vor
Augen haben. (*) Wir werden daraus abnehmen
koͤnnen, wie die poetiſche Sprache und die Luſt in
abgemeſſenen Verſen zu ſprechen, und aus der Rede
einen Geſang zu machen, hat entſtehen koͤnnen. Will
man den Urſprung jener drey verſchwiſterten Kuͤnſte
begreifen, ſo muß man annehmen, daß in dem Ge-
muͤth Empfindungen oder Vorſtellungen vorhanden
ſeyn, die entweder durch ihre Heftigkeit, oder durch
einen ſanften, aber die ganze Seele einnehmenden
Zwang, oder durch ihre religioſe oder politiſche
Groͤſſe, ſich des Gemuͤthes ſo bemaͤchtigen, daß es
in eine heftige oder ſanfte Schwermerey geraͤth, in
welcher die Gedanken und Empfindungen unauf halt-
bar durch die Rede heraus ſtroͤhmen. Wer auf dieſe
Weiſe von Gegenſtaͤnden geruͤhrt wird, und zugleich
ein
(*) S.
Vers, Sin-
gen, Tant,
Muſik.
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