Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Dic (*) S.[Plu]tarch im Solon.sehr wichtige Entschlüsse beyzubringen (*). Wir wol- len ihm sagen, daß auch Werke von großem und ernsthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich- keit betrachtet, große Vorzüge haben können. Daß der lehrreiche Homer, Qui quid sit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non, reizende Annehmlichkeiten zur Ergözung der Einbil- Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen Dic oder tollkühne Schmähsucht zum Grund zu haben,so bald man sich erinnert, daß Homer, Sophokles, Euripides und Männer von dieser Art, Dichter ge- wesen sind; aber was für eine grosse Liste von alten und neuen Dichtern könnte man nicht geben, auf die diese Beschuldigung mit Recht kann gelegt wer- den? Man kann sowol zur Beschimpfung der schlech- ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts nachdrüklichers anführen, als die folgenden Worte eines der feinesten Kenner (*). Jch muß gestehen,(*) S. Shaftes- bury Ad- vice to an Author, Part. l. sect. 3. sagt er, daß schweerlich eine abgeschmaktere Gattung Menschen irgend wo zu finden ist, als die, denen man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig- keit woltönend zusprechen, wegen eines unüberlegten abgeschmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft, den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer Künstler oder Baumeister in dieser Art, so wol Menschen als Sitten schildern, der einer Handlung ihre gehörige Form und ihre Verhältnisse geben kann, ist, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge- schöpf. Denn ein solcher Dichter ist in der That ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Gleich jenem obersten Künstler oder der allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes, wol zusammenhangend, und in sich selbst wol abge- messen, mit richtiger Anordnung und Zusammenfü- gung seiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder Leidenschaft, und kennet genau jeder derselben Ton und Maaß, wodurch er sie mit Richtigkeit schildert; er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und der Handlung, und unterscheidet das Schöne von dem Häßlichen, das Liebenswürdige von dem Ver- ächtlichen. Der sittliche Künstler, der auf diese Weise dem Schöpfer nachahmen kann, und eine sol- che Kenntnis der innern Gestalt und des Baues sei- ner Mitgeschöpfe hat, wird, wie ich denke, schweer- lich sich selbst mißkennen, oder über diejenigen Ver- hält- (+) Ha grand' obligazione l'animo mio a quel poeta, a quel dipintore, il quale col arte sua mi conduce a rimmirar, come con gli occhi propri, la famosa caduta di Troja, le prodezze d' Achille, o d'Enea, e tanti maravigliosi giri d'Ulysse ramingo sul mare. Muratori della persetta poesia L. I. c. 14. (++) Opitz von der deutschen Poeterey im III. Cap. Die Klagen, die der Jesuit Strada über den Mißbrauch der [Spaltenumbruch] Poesie zu seiner Zeit führet, sind auch itzt nicht unzeitig. Adeo deformia et soeda carminum portenta nostra haec aetas videt, adeo postremi quique poetarum lutulenti fluunt hauriuntque de saece; ut sanctum poetae olim nomen timide jam a bonis usurpetur, perinde quasi honesto ingenuoque viro poetam salutari convicio ac dehonestamento sit. Stra- da Prolus. Acad. L. I. prol. 3. Erster Theil. J i
[Spaltenumbruch] Dic (*) S.[Plu]tarch im Solon.ſehr wichtige Entſchluͤſſe beyzubringen (*). Wir wol- len ihm ſagen, daß auch Werke von großem und ernſthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich- keit betrachtet, große Vorzuͤge haben koͤnnen. Daß der lehrreiche Homer, Qui quid ſit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non, reizende Annehmlichkeiten zur Ergoͤzung der Einbil- Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen Dic oder tollkuͤhne Schmaͤhſucht zum Grund zu haben,ſo bald man ſich erinnert, daß Homer, Sophokles, Euripides und Maͤnner von dieſer Art, Dichter ge- weſen ſind; aber was fuͤr eine groſſe Liſte von alten und neuen Dichtern koͤnnte man nicht geben, auf die dieſe Beſchuldigung mit Recht kann gelegt wer- den? Man kann ſowol zur Beſchimpfung der ſchlech- ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts nachdruͤklichers anfuͤhren, als die folgenden Worte eines der feineſten Kenner (*). Jch muß geſtehen,(*) S. Shaftes- bury Ad- vice to an Author, Part. l. ſect. 3. ſagt er, daß ſchweerlich eine abgeſchmaktere Gattung Menſchen irgend wo zu finden iſt, als die, denen man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig- keit woltoͤnend zuſprechen, wegen eines unuͤberlegten abgeſchmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft, den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer Kuͤnſtler oder Baumeiſter in dieſer Art, ſo wol Menſchen als Sitten ſchildern, der einer Handlung ihre gehoͤrige Form und ihre Verhaͤltniſſe geben kann, iſt, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge- ſchoͤpf. Denn ein ſolcher Dichter iſt in der That ein andrer Schoͤpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Gleich jenem oberſten Kuͤnſtler oder der allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes, wol zuſammenhangend, und in ſich ſelbſt wol abge- meſſen, mit richtiger Anordnung und Zuſammenfuͤ- gung ſeiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder Leidenſchaft, und kennet genau jeder derſelben Ton und Maaß, wodurch er ſie mit Richtigkeit ſchildert; er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und der Handlung, und unterſcheidet das Schoͤne von dem Haͤßlichen, das Liebenswuͤrdige von dem Ver- aͤchtlichen. Der ſittliche Kuͤnſtler, der auf dieſe Weiſe dem Schoͤpfer nachahmen kann, und eine ſol- che Kenntnis der innern Geſtalt und des Baues ſei- ner Mitgeſchoͤpfe hat, wird, wie ich denke, ſchweer- lich ſich ſelbſt mißkennen, oder uͤber diejenigen Ver- haͤlt- (†) Ha grand’ obligazione l’animo mio a quel poeta, a quel dipintore, il quale col arte ſua mi conduce à rimmirar, come con gli occhi propri, la famoſa caduta di Troja, le prodezze d’ Achille, o d’Enea, e tanti maraviglioſi giri d’Ulyſſe ramingo ſul mare. Muratori della perſetta poeſia L. I. c. 14. (††) Opitz von der deutſchen Poeterey im III. Cap. Die Klagen, die der Jeſuit Strada uͤber den Mißbrauch der [Spaltenumbruch] Poeſie zu ſeiner Zeit fuͤhret, ſind auch itzt nicht unzeitig. Adeo deformia et ſoeda carminum portenta noſtra hæc ætas videt, adeo poſtremi quique poetarum lutulenti fluunt hauriuntque de ſæce; ut ſanctum poetæ olim nomen timide jam à bonis uſurpetur, perinde quaſi honeſto ingenuoque viro poetam ſalutari convicio ac dehoneſtamento ſit. Stra- da Proluſ. Acad. L. I. prol. 3. Erſter Theil. J i
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Dic
Dic
ſehr wichtige Entſchluͤſſe beyzubringen (*). Wir wol-
len ihm ſagen, daß auch Werke von großem und
ernſthaften Jnhalt von der Seite der Annehmlich-
keit betrachtet, große Vorzuͤge haben koͤnnen. Daß
der lehrreiche Homer,
(*) S.
Plutarch
im Solon.
Qui quid ſit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non,
Plenius ac melius Chryſippo et Crantore dicit (*).
reizende Annehmlichkeiten zur Ergoͤzung der Einbil-
dungskraft habe
(†).
Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen
ehrenhaften Platz unter wolgeſitteten und verſtaͤndi-
gen Menſchen gerne goͤnnen, ſo erſtrekt ſich dieſes
nicht auf diejenigen, die uns mit eben ſo unwitzig
als unſittlichen Geſaͤngen, gleich Froͤſchen, die aus
Suͤmpfen quaxen, beſchwerlich fallen. Die Zahl
ſolcher Undichter iſt ſo groß, daß ſie die Poeſie
uͤberhaupt in die Gefahr ſetzen, als etwas veraͤcht-
liches angeſehen zu werden; ſie ſind es, die der
edelſten aller edlen Kuͤnſte die ſchweeren Vorwuͤrfe
zugezogen haben, daruͤber Opitz klagt, und die noch
itzt dieſe goͤttliche Kunſt druͤken. Der Vater der
deutſchen Dichter ſagt, daß einige „aus der Poe-
terey, nicht weiß ich, was fuͤr ein geringes Weſen
machen, und ſie wo nicht gar verwerfen, doch nicht
ſonderlich achten, auch wol vorgeben, man wiſſe ei-
nen Poeten in oͤffentlichen Aemtern wenig, oder gar
nicht zu gebrauchen, weil er ſich in dieſer angeneh-
men Thorheit und ruhigen Wolluſt ſo vertiefe, daß
er die andern Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, von wel-
chen man rechten Nutz und Ehre ſchoͤpfen kann, ge-
meiniglich hindan ſetze. Ja wenn ſie einen gar ver-
aͤchtlich haben wollen, ſo nennen ſie ihn einen Poe-
ten: Wie denn Erasmo Roterodamo von groben
Leuten geſchehen - - - Sie wiſſen ferner viel von
ihren Luͤgen, aͤrgerlichen Schriften und Leben zu ſa-
gen, und erinnern, es ſey keiner ein guter Poet, er
muͤſſe denn zugleich ein boͤſer Menſch ſeyn. (††)‟
Dieſe Vorwuͤrfe ſcheinen einen groben Unverſtand,
oder tollkuͤhne Schmaͤhſucht zum Grund zu haben,
ſo bald man ſich erinnert, daß Homer, Sophokles,
Euripides und Maͤnner von dieſer Art, Dichter ge-
weſen ſind; aber was fuͤr eine groſſe Liſte von alten
und neuen Dichtern koͤnnte man nicht geben, auf
die dieſe Beſchuldigung mit Recht kann gelegt wer-
den? Man kann ſowol zur Beſchimpfung der ſchlech-
ten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts
nachdruͤklichers anfuͤhren, als die folgenden Worte
eines der feineſten Kenner (*). Jch muß geſtehen,
ſagt er, daß ſchweerlich eine abgeſchmaktere Gattung
Menſchen irgend wo zu finden iſt, als die, denen
man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertig-
keit woltoͤnend zuſprechen, wegen eines unuͤberlegten
abgeſchmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft,
den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der
den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem
eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer
Kuͤnſtler oder Baumeiſter in dieſer Art, ſo wol
Menſchen als Sitten ſchildern, der einer Handlung
ihre gehoͤrige Form und ihre Verhaͤltniſſe geben
kann, iſt, wo ich nicht irre, ein ganz anders Ge-
ſchoͤpf. Denn ein ſolcher Dichter iſt in der That
ein andrer Schoͤpfer, ein wahrer Prometheus unter
Jupiter. Gleich jenem oberſten Kuͤnſtler oder der
allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes,
wol zuſammenhangend, und in ſich ſelbſt wol abge-
meſſen, mit richtiger Anordnung und Zuſammenfuͤ-
gung ſeiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder
Leidenſchaft, und kennet genau jeder derſelben Ton
und Maaß, wodurch er ſie mit Richtigkeit ſchildert;
er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und
der Handlung, und unterſcheidet das Schoͤne von
dem Haͤßlichen, das Liebenswuͤrdige von dem Ver-
aͤchtlichen. Der ſittliche Kuͤnſtler, der auf dieſe
Weiſe dem Schoͤpfer nachahmen kann, und eine ſol-
che Kenntnis der innern Geſtalt und des Baues ſei-
ner Mitgeſchoͤpfe hat, wird, wie ich denke, ſchweer-
lich ſich ſelbſt mißkennen, oder uͤber diejenigen Ver-
haͤlt-
(*) S.
Shaftes-
bury Ad-
vice to an
Author,
Part. l.
ſect. 3.
(†) Ha grand’ obligazione l’animo mio a quel poeta, a
quel dipintore, il quale col arte ſua mi conduce à rimmirar,
come con gli occhi propri, la famoſa caduta di Troja, le
prodezze d’ Achille, o d’Enea, e tanti maraviglioſi giri
d’Ulyſſe ramingo ſul mare. Muratori della perſetta poeſia
L. I. c. 14.
(††) Opitz von der deutſchen Poeterey im III. Cap. Die
Klagen, die der Jeſuit Strada uͤber den Mißbrauch der
Poeſie zu ſeiner Zeit fuͤhret, ſind auch itzt nicht unzeitig.
Adeo deformia et ſoeda carminum portenta noſtra hæc
ætas videt, adeo poſtremi quique poetarum lutulenti fluunt
hauriuntque de ſæce; ut ſanctum poetæ olim nomen timide
jam à bonis uſurpetur, perinde quaſi honeſto ingenuoque
viro poetam ſalutari convicio ac dehoneſtamento ſit. Stra-
da Proluſ. Acad. L. I. prol. 3.
Erſter Theil. J i
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