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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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metern) denselben Jnhalt. Eumolpus faßte die
Geheimnisse der Ceres in ein Gedicht, und trug da-
rin alles vor, was damals Moral, Politik und Reli-
gion vorzügliches hatten. Thamyris besang den Krieg
der Titanen, ein allegorisches Werk über die Schöp-
fung. Man kann die Dichter dieses Zeitpunkts ei-
nigermaassen mit den Propheten des jüdischen Volks
vergleichen. Aus dieser Zeit haben sich verschiedene
Werke unter den Griechen lang erhalten, sind aber
nicht bis zu uns gekommen.

Die dritte Zeit der Dichtkunst ist die, da sie
angefangen, als eine zu einer besondern Lebens-
art gehörige Kunst angesehen zu werden, da die
Sänger einen besondern Stand ausmachten, und
sonst nichts, als Sänger waren. Man könnte diese
Zeit, die Zeit der Barden nennen. Diese waren
berufene oder gedungene Sänger, die an den Hö-
fen der Häupter der damaligen kleinen Völkerschaf-
ten gehalten wurden, wie Phämius an dem Hofe des
Ulysses, und Demodokus an dem Hofe des Alci-
nous.
Sie sangen bey festlichen Zusammenkünften,
sowol zum Vergnügen als zum Unterricht der Ge-
sellschaften, Lieder von allegorischem Jnhalt über
die Götterhistorie, oder von Heroischem über die
Thaten der Helden. Sie scheinen zugleich die Freun-
de und Rathgeber der Grossen, die sie unterhielten,
gewesen zu seyn. Dergleichen Sänger sollen von
uralten Zeiten her, bis nahe an unsre Tage von den
Häuptern der schottischen Stämme unterhalten wor-
den seyn. An das End dieser Zeit, oder allen-
falls an den Anfang der folgenden setzen wir den
Homer.

Die vierte Zeit ist die, da durch Abschaffung
der königlichen Regierung in den meisten Stäm-
men der Griechen, eine mehrere Gleichheit unter
den Menschen eingeführt worden, und keine Grossen
mehr da waren, die Barden oder Sänger an ihren
Höfen hielten. Da scheinet es abgekommen zu seyn,
die Sänger als Menschen von einem besondern
Stand, oder von besondrer Lebensart zu betrachten.
Aber die Gesänge der Barden waren noch übrig und
wurden gesungen. Wessen Genie sich gegen die Dicht-
kunst lenkete, der wurd ein Dichter, ohne von je-
mand dazu bestellt zu seyn, und vermuthlich, ohne
die ihm sonst gewöhnliche Lebensart aufzugeben;
man legte sich, wie noch itzt unter uns geschieht, auf
die Dichtkunst, entweder blos beyläufig aus unwi-
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derstehlichem Trieb des Genies, oder um sich einen
Namen zu machen.

Man kann die Dichter dieser Zeit in zwey Classen
eintheilen. Ein Theil arbeitete zum Dienst der Re-
ligion, der Philosophie und Politik; ein andrer blos
zu seinem Vergnügen, und diese machten damals
die Classe der Menschen aus, die itzt unter uns den
Namen der witzigen Köpfe, oder wie man sie in
Frankreich nennt, der schönen Geister bekannt sind.
Die erstern sahen die Dichtkunst aus dem edlen Ge-
sichtspunkt, als eine Lehrerin der Menschen an, die
ihnen als Philosophen, oder Menschen, die das
Glük hatten, über sittliche und politische Angelegen-
heiten richtiger als der grosse Haufen zu urtheilen,
und weiter hinaus zu sehen, dienen konnte, Vernunft
und bürgerliche Tugend allgemeiner auszubreiten.
Sie faßten die durch Nachdenken erlangte Weisheit in
Gedichte, die sie, ohne andern Beruf, der Welt mittheil-
ten, wie Hesiodus, Aesopus, Solon, Epimenides, Si-
monides
und andre; oder auf Veranlasung des Staa-
tes, bey feyerlichen Gelegenheiten verfertigten, wie
Aeschylus, Sophokles, Euripides, Pindar und andre.
Diese haben die künstliche Poesie auf den höchsten Gi-
pfel der Vollkommenheit gebracht. Jene witzigen Köpfe
aber, Anakreon, Sappho, Alcäus und viel andre,
haben zuerst die Dichtkunst blos zum Vergnügen, zur
Belustigung der Einbildungskraft und des Witzes
angewendet. Seit der Zeit muß man sich die Dicht-
kunst, so wie die Venus unter zwey Personen, einer
himmlischen und einer irrdischen, vorstellen; jene
von erhabener, diese von buhlerscher Schönheit.

So lange Griechenland seine Freyheit genoß, und
die vorzüglichsten Genie ihren Gedanken und Em-
pfindungen freyen Lauf lassen konuten, erhielt sich
die Dichtkunst auf der Höhe, auf welcher sie allen
Künsten vorzuziehen ist. Als aber mit der Freyheit
auch die grossen Empfindungen der bürgerlichen
Tugend unterdrükt worden, müßte nothwendig auch
die Dichtkunst ihre beste Kraft verlieren. Es war
nun nicht mehr darum zu thun, die Menschen ge-
sittet und tugendhaft zu machen. Durch die Ueppig-
keit der Höfe unter den Nachfolgern Alexanders,
schweiffte man schon über die natürlichen Sitten hin-
aus, und Tugend wurd unnütze oder gar schädlich.
Die Regenten, vornehmlich die Ptolomäer in Aegyp-
ten, beruften die witzigsten Köpfe an ihre Höfe, nicht
mehr wie ehemals, als Barden, auch nicht als

Philo-

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metern) denſelben Jnhalt. Eumolpus faßte die
Geheimniſſe der Ceres in ein Gedicht, und trug da-
rin alles vor, was damals Moral, Politik und Reli-
gion vorzuͤgliches hatten. Thamyris beſang den Krieg
der Titanen, ein allegoriſches Werk uͤber die Schoͤp-
fung. Man kann die Dichter dieſes Zeitpunkts ei-
nigermaaſſen mit den Propheten des juͤdiſchen Volks
vergleichen. Aus dieſer Zeit haben ſich verſchiedene
Werke unter den Griechen lang erhalten, ſind aber
nicht bis zu uns gekommen.

Die dritte Zeit der Dichtkunſt iſt die, da ſie
angefangen, als eine zu einer beſondern Lebens-
art gehoͤrige Kunſt angeſehen zu werden, da die
Saͤnger einen beſondern Stand ausmachten, und
ſonſt nichts, als Saͤnger waren. Man koͤnnte dieſe
Zeit, die Zeit der Barden nennen. Dieſe waren
berufene oder gedungene Saͤnger, die an den Hoͤ-
fen der Haͤupter der damaligen kleinen Voͤlkerſchaf-
ten gehalten wurden, wie Phaͤmius an dem Hofe des
Ulyſſes, und Demodokus an dem Hofe des Alci-
nous.
Sie ſangen bey feſtlichen Zuſammenkuͤnften,
ſowol zum Vergnuͤgen als zum Unterricht der Ge-
ſellſchaften, Lieder von allegoriſchem Jnhalt uͤber
die Goͤtterhiſtorie, oder von Heroiſchem uͤber die
Thaten der Helden. Sie ſcheinen zugleich die Freun-
de und Rathgeber der Groſſen, die ſie unterhielten,
geweſen zu ſeyn. Dergleichen Saͤnger ſollen von
uralten Zeiten her, bis nahe an unſre Tage von den
Haͤuptern der ſchottiſchen Staͤmme unterhalten wor-
den ſeyn. An das End dieſer Zeit, oder allen-
falls an den Anfang der folgenden ſetzen wir den
Homer.

Die vierte Zeit iſt die, da durch Abſchaffung
der koͤniglichen Regierung in den meiſten Staͤm-
men der Griechen, eine mehrere Gleichheit unter
den Menſchen eingefuͤhrt worden, und keine Groſſen
mehr da waren, die Barden oder Saͤnger an ihren
Hoͤfen hielten. Da ſcheinet es abgekommen zu ſeyn,
die Saͤnger als Menſchen von einem beſondern
Stand, oder von beſondrer Lebensart zu betrachten.
Aber die Geſaͤnge der Barden waren noch uͤbrig und
wurden geſungen. Weſſen Genie ſich gegen die Dicht-
kunſt lenkete, der wurd ein Dichter, ohne von je-
mand dazu beſtellt zu ſeyn, und vermuthlich, ohne
die ihm ſonſt gewoͤhnliche Lebensart aufzugeben;
man legte ſich, wie noch itzt unter uns geſchieht, auf
die Dichtkunſt, entweder blos beylaͤufig aus unwi-
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derſtehlichem Trieb des Genies, oder um ſich einen
Namen zu machen.

Man kann die Dichter dieſer Zeit in zwey Claſſen
eintheilen. Ein Theil arbeitete zum Dienſt der Re-
ligion, der Philoſophie und Politik; ein andrer blos
zu ſeinem Vergnuͤgen, und dieſe machten damals
die Claſſe der Menſchen aus, die itzt unter uns den
Namen der witzigen Koͤpfe, oder wie man ſie in
Frankreich nennt, der ſchoͤnen Geiſter bekannt ſind.
Die erſtern ſahen die Dichtkunſt aus dem edlen Ge-
ſichtspunkt, als eine Lehrerin der Menſchen an, die
ihnen als Philoſophen, oder Menſchen, die das
Gluͤk hatten, uͤber ſittliche und politiſche Angelegen-
heiten richtiger als der groſſe Haufen zu urtheilen,
und weiter hinaus zu ſehen, dienen konnte, Vernunft
und buͤrgerliche Tugend allgemeiner auszubreiten.
Sie faßten die durch Nachdenken erlangte Weisheit in
Gedichte, die ſie, ohne andern Beruf, der Welt mittheil-
ten, wie Heſiodus, Aeſopus, Solon, Epimenides, Si-
monides
und andre; oder auf Veranlaſung des Staa-
tes, bey feyerlichen Gelegenheiten verfertigten, wie
Aeſchylus, Sophokles, Euripides, Pindar und andre.
Dieſe haben die kuͤnſtliche Poeſie auf den hoͤchſten Gi-
pfel der Vollkommenheit gebracht. Jene witzigen Koͤpfe
aber, Anakreon, Sappho, Alcaͤus und viel andre,
haben zuerſt die Dichtkunſt blos zum Vergnuͤgen, zur
Beluſtigung der Einbildungskraft und des Witzes
angewendet. Seit der Zeit muß man ſich die Dicht-
kunſt, ſo wie die Venus unter zwey Perſonen, einer
himmliſchen und einer irrdiſchen, vorſtellen; jene
von erhabener, dieſe von buhlerſcher Schoͤnheit.

So lange Griechenland ſeine Freyheit genoß, und
die vorzuͤglichſten Genie ihren Gedanken und Em-
pfindungen freyen Lauf laſſen konuten, erhielt ſich
die Dichtkunſt auf der Hoͤhe, auf welcher ſie allen
Kuͤnſten vorzuziehen iſt. Als aber mit der Freyheit
auch die groſſen Empfindungen der buͤrgerlichen
Tugend unterdruͤkt worden, muͤßte nothwendig auch
die Dichtkunſt ihre beſte Kraft verlieren. Es war
nun nicht mehr darum zu thun, die Menſchen ge-
ſittet und tugendhaft zu machen. Durch die Ueppig-
keit der Hoͤfe unter den Nachfolgern Alexanders,
ſchweiffte man ſchon uͤber die natuͤrlichen Sitten hin-
aus, und Tugend wurd unnuͤtze oder gar ſchaͤdlich.
Die Regenten, vornehmlich die Ptolomaͤer in Aegyp-
ten, beruften die witzigſten Koͤpfe an ihre Hoͤfe, nicht
mehr wie ehemals, als Barden, auch nicht als

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[254/0266] Dic Dic metern) denſelben Jnhalt. Eumolpus faßte die Geheimniſſe der Ceres in ein Gedicht, und trug da- rin alles vor, was damals Moral, Politik und Reli- gion vorzuͤgliches hatten. Thamyris beſang den Krieg der Titanen, ein allegoriſches Werk uͤber die Schoͤp- fung. Man kann die Dichter dieſes Zeitpunkts ei- nigermaaſſen mit den Propheten des juͤdiſchen Volks vergleichen. Aus dieſer Zeit haben ſich verſchiedene Werke unter den Griechen lang erhalten, ſind aber nicht bis zu uns gekommen. Die dritte Zeit der Dichtkunſt iſt die, da ſie angefangen, als eine zu einer beſondern Lebens- art gehoͤrige Kunſt angeſehen zu werden, da die Saͤnger einen beſondern Stand ausmachten, und ſonſt nichts, als Saͤnger waren. Man koͤnnte dieſe Zeit, die Zeit der Barden nennen. Dieſe waren berufene oder gedungene Saͤnger, die an den Hoͤ- fen der Haͤupter der damaligen kleinen Voͤlkerſchaf- ten gehalten wurden, wie Phaͤmius an dem Hofe des Ulyſſes, und Demodokus an dem Hofe des Alci- nous. Sie ſangen bey feſtlichen Zuſammenkuͤnften, ſowol zum Vergnuͤgen als zum Unterricht der Ge- ſellſchaften, Lieder von allegoriſchem Jnhalt uͤber die Goͤtterhiſtorie, oder von Heroiſchem uͤber die Thaten der Helden. Sie ſcheinen zugleich die Freun- de und Rathgeber der Groſſen, die ſie unterhielten, geweſen zu ſeyn. Dergleichen Saͤnger ſollen von uralten Zeiten her, bis nahe an unſre Tage von den Haͤuptern der ſchottiſchen Staͤmme unterhalten wor- den ſeyn. An das End dieſer Zeit, oder allen- falls an den Anfang der folgenden ſetzen wir den Homer. Die vierte Zeit iſt die, da durch Abſchaffung der koͤniglichen Regierung in den meiſten Staͤm- men der Griechen, eine mehrere Gleichheit unter den Menſchen eingefuͤhrt worden, und keine Groſſen mehr da waren, die Barden oder Saͤnger an ihren Hoͤfen hielten. Da ſcheinet es abgekommen zu ſeyn, die Saͤnger als Menſchen von einem beſondern Stand, oder von beſondrer Lebensart zu betrachten. Aber die Geſaͤnge der Barden waren noch uͤbrig und wurden geſungen. Weſſen Genie ſich gegen die Dicht- kunſt lenkete, der wurd ein Dichter, ohne von je- mand dazu beſtellt zu ſeyn, und vermuthlich, ohne die ihm ſonſt gewoͤhnliche Lebensart aufzugeben; man legte ſich, wie noch itzt unter uns geſchieht, auf die Dichtkunſt, entweder blos beylaͤufig aus unwi- derſtehlichem Trieb des Genies, oder um ſich einen Namen zu machen. Man kann die Dichter dieſer Zeit in zwey Claſſen eintheilen. Ein Theil arbeitete zum Dienſt der Re- ligion, der Philoſophie und Politik; ein andrer blos zu ſeinem Vergnuͤgen, und dieſe machten damals die Claſſe der Menſchen aus, die itzt unter uns den Namen der witzigen Koͤpfe, oder wie man ſie in Frankreich nennt, der ſchoͤnen Geiſter bekannt ſind. Die erſtern ſahen die Dichtkunſt aus dem edlen Ge- ſichtspunkt, als eine Lehrerin der Menſchen an, die ihnen als Philoſophen, oder Menſchen, die das Gluͤk hatten, uͤber ſittliche und politiſche Angelegen- heiten richtiger als der groſſe Haufen zu urtheilen, und weiter hinaus zu ſehen, dienen konnte, Vernunft und buͤrgerliche Tugend allgemeiner auszubreiten. Sie faßten die durch Nachdenken erlangte Weisheit in Gedichte, die ſie, ohne andern Beruf, der Welt mittheil- ten, wie Heſiodus, Aeſopus, Solon, Epimenides, Si- monides und andre; oder auf Veranlaſung des Staa- tes, bey feyerlichen Gelegenheiten verfertigten, wie Aeſchylus, Sophokles, Euripides, Pindar und andre. Dieſe haben die kuͤnſtliche Poeſie auf den hoͤchſten Gi- pfel der Vollkommenheit gebracht. Jene witzigen Koͤpfe aber, Anakreon, Sappho, Alcaͤus und viel andre, haben zuerſt die Dichtkunſt blos zum Vergnuͤgen, zur Beluſtigung der Einbildungskraft und des Witzes angewendet. Seit der Zeit muß man ſich die Dicht- kunſt, ſo wie die Venus unter zwey Perſonen, einer himmliſchen und einer irrdiſchen, vorſtellen; jene von erhabener, dieſe von buhlerſcher Schoͤnheit. So lange Griechenland ſeine Freyheit genoß, und die vorzuͤglichſten Genie ihren Gedanken und Em- pfindungen freyen Lauf laſſen konuten, erhielt ſich die Dichtkunſt auf der Hoͤhe, auf welcher ſie allen Kuͤnſten vorzuziehen iſt. Als aber mit der Freyheit auch die groſſen Empfindungen der buͤrgerlichen Tugend unterdruͤkt worden, muͤßte nothwendig auch die Dichtkunſt ihre beſte Kraft verlieren. Es war nun nicht mehr darum zu thun, die Menſchen ge- ſittet und tugendhaft zu machen. Durch die Ueppig- keit der Hoͤfe unter den Nachfolgern Alexanders, ſchweiffte man ſchon uͤber die natuͤrlichen Sitten hin- aus, und Tugend wurd unnuͤtze oder gar ſchaͤdlich. Die Regenten, vornehmlich die Ptolomaͤer in Aegyp- ten, beruften die witzigſten Koͤpfe an ihre Hoͤfe, nicht mehr wie ehemals, als Barden, auch nicht als Philo-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/266>, abgerufen am 24.11.2024.