Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Aen poetica diVinc. Gra- vina Lib. I. c. 28. Ma- crob. Sa- turna[l]. Lib. V. & VI.ihm fehlt, da hilft er sich mit andern griechischen Dichtern. Vielleicht war seine Bescheidenheit zu groß? Man entdeket doch ein Genie in ihm, das stark genug möchte gewesen seyn ein Original zu machen. Die Begebenheiten sind in der schönsten Verbin- Die Charaktere der handelnden Personen entwi- Aen Jm Ausdruk und in der Mechanik der Sprache Seine Schildereyen erheben sich mehr durch die Jedoch kann man dem Virgil das Vermögen sich Eine der vorhergehenden Anmerkungen macht chen; (*) Einige feine Betrachtungen über diesen Dichter, aus einem moralischen Gesichtspunkt, findet man in zwey Tod- [Spaltenumbruch] tengesprächen, welche der neuesten Ausgabe der neuen cri- tischen Briefe des Herrn Bodmers angehängt sind. Erster Theil. C
[Spaltenumbruch] Aen poetica diVinc. Gra- vina Lib. I. c. 28. Ma- crob. Sa- turna[l]. Lib. V. & VI.ihm fehlt, da hilft er ſich mit andern griechiſchen Dichtern. Vielleicht war ſeine Beſcheidenheit zu groß? Man entdeket doch ein Genie in ihm, das ſtark genug moͤchte geweſen ſeyn ein Original zu machen. Die Begebenheiten ſind in der ſchoͤnſten Verbin- Die Charaktere der handelnden Perſonen entwi- Aen Jm Ausdruk und in der Mechanik der Sprache Seine Schildereyen erheben ſich mehr durch die Jedoch kann man dem Virgil das Vermoͤgen ſich Eine der vorhergehenden Anmerkungen macht chen; (*) Einige feine Betrachtungen uͤber dieſen Dichter, aus einem moraliſchen Geſichtspunkt, findet man in zwey Tod- [Spaltenumbruch] tengeſpraͤchen, welche der neueſten Ausgabe der neuen cri- tiſchen Briefe des Herrn Bodmers angehaͤngt ſind. Erſter Theil. C
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Aen
Aen
ihm fehlt, da hilft er ſich mit andern griechiſchen
Dichtern. Vielleicht war ſeine Beſcheidenheit zu
groß? Man entdeket doch ein Genie in ihm,
das ſtark genug moͤchte geweſen ſeyn ein Original
zu machen.
poetica di
Vinc. Gra-
vina Lib. I.
c. 28. Ma-
crob. Sa-
turnal. Lib.
V. & VI.
Die Begebenheiten ſind in der ſchoͤnſten Verbin-
dung, und folgen uͤberall aus einer Quelle, die
der Dichter keinen Augenblik aus dem Geſicht ver-
liehret. Jn dem Plan ſelbſt herrſcht eine ſehr
feine Kunſt. Alles ziehlt auf die Hoheit des roͤ-
miſchen Reichs, auf die Veranſtaltung der Goͤtter,
daßelbe uͤber alle Maͤchte zu erheben, und auf den
beſondern Glanz des Hauſes der Julier ab, welche
beyde Dinge vollkommen vereiniget ſind. Ohne
Zweifel hat der Dichter das ſeinige mit beytragen
wollen, dem roͤmiſchen Volke die Herrſchaft der Caͤ-
ſaren nicht nur ertraͤglich, ſondern angenehm und
verehrungswuͤrdig zu machen. Jn ſo fern hat die-
ſes Gedicht wenig moraliſche Verdienſte, und Vir-
gil konnte auch deßwegen den Roͤmern niemal das
werden, was Homer den Griechen geweſen iſt.
Allein wir beurtheilen hier nicht den Menſchen
(*)
ſondern den Dichter.
Die Charaktere der handelnden Perſonen entwi-
keln ſich in der Aeneis nicht ſonderlich, und bey
weitem nicht ſo, wie in der Jlias; woran zum
Theil die große Weitlaͤuftigkeit der Materie Schuld
iſt. Die, welche ſich am deutlichſten entwiklen, ſe-
tzen uns in keine große Bewundrung oder Bewe-
gung. Wir lernen Menſchen kennen, wie die ſind,
mit denen wir leben, da uns Homer Menſchen
vom Heldengeſchlechte zeiget. Die Reden beſtehen
oft aus etwas allgemeinen Spruͤchen, die ſich fuͤr
andere Perſonen eben ſo gut ſchikten. Schlechte
und gemeine Gedanken ſind zwar nicht da, aber
auch wenig ganz hohe. Man ſieht gar wol, daß
der Dichter ſelbſt das mittelmaͤßige der Charaktere
ſeiner Zeit angenommen, wo das heroiſche der alten
roͤmiſchen Tugend nicht mehr gangbar war. Die
Schwachheiten dieſes Gedichts ſind nicht Schwach-
heiten des Dichters, ſondern ſeiner Zeit. Sehr
ſelten erhebt ſich ein Genie uͤber ſeine Zeit, und
wenn es geſchieht, ſo erlangt er gewiß kei-
nen Beyfall.
Jm Ausdruk und in der Mechanik der Sprache
iſt er unverbeſſerlich, man wuͤnſcht bald jeden
Vers auswendig zu behalten. Er iſt kuͤrzer im
Ausdruk als Homer; ob gleich die lateiniſche
Sprache ſchwieriger war, als die griechiſche, zu
aller der Anmuth und Beugſamkeit erhoben zu wer-
den, die er ihr gegeben hat. Seine Beywoͤrter
ſind immer nachdruͤklich, mahleriſch, und bezeich-
nen die Natur der Sache genau. Die Begriffe
ſind enge zuſammen gepreßt, und man wird ohne
Ruhe fortgeriſſen. Ueberhaupt hat der Dichter
die Poeſie der Sprache im hoͤchſten Grade der
Vollkommenheit beſeſſen.
Seine Schildereyen erheben ſich mehr durch die
Hoͤhe und den Glanz der Farben, als durch die
Wahl der Umſtaͤnde und durch die Hoͤhe der Ge-
danken. Das feinſte und verborgenſte der Kunſt, in
jedem beſondern Theil derſelben, hatte er voͤllig in
ſeiner Gewalt. Dabey blieb er immer bey ſich
ſelbſt, und ſeines Plans eingedenk. Die Hitze des
Genies riß ihn niemals aus ſeiner Bahn weg. Er
iſt der groͤßte Kuͤnſtler, und ſein Genie iſt durch
das Studium zu aller Vollkommenheit erhoben
worden, deren er faͤhig war. Wenn die Aeneis
nicht die erhabenſte und wunderbareſte Epopee iſt,
ſo iſt ſie doch die untadelhafteſte.
Jedoch kann man dem Virgil das Vermoͤgen ſich
bis zum Erhabenen zu ſchwingen keinesweges ab-
ſprechen. Die Schilderey im zweyten Buche, da
die Venus dem Aeneas die unwiderſtehliche Ge-
walt vorſtellt, wodurch Troja ſollte in ihren Un-
tergang geriſſen werden, iſt von ſehr erhabener
Art. Neptun erſchuͤttert in den Tiefen die un-
terſten Fundamente der Stadt; Juno haͤlt mit
Gewalt den Griechen die Tohre offen, und treibet
ſie in einer Art von Wuth von den Schiffen zum
Sturm; Pallas zerſtoͤhrt ſelbſt die feſteſten Schloͤſ-
ſer, und Jupiter reizt Goͤtter und Menſchen zum
Zorn gegen dieſe ungluͤkliche Stadt. Ein großes
und wunderbares Gemaͤlde!
Eine der vorhergehenden Anmerkungen macht
begreiflich, warum dieſes fuͤrtrefliche Gedicht in Rom
nicht zu der Verehrung iſt aufgeſtellt worden, als
die Jlias und die Odyßea in Griechenland.
Homer war der vollkommenſte Dichter fuͤr die Grie-
chen;
(*) Einige feine Betrachtungen uͤber dieſen Dichter, aus
einem moraliſchen Geſichtspunkt, findet man in zwey Tod-
tengeſpraͤchen, welche der neueſten Ausgabe der neuen cri-
tiſchen Briefe des Herrn Bodmers angehaͤngt ſind.
Erſter Theil. C
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