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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aes
chen; aber Virgil war es nicht für die Römer, die
zu seiner Zeit doch noch nicht alle Stärke ihres ehe-
maligen Charakters verlohren hatten. Da er aber
der Dichter aller Menschen von feinem Geschmak
und einem etwas ruhigen Temperament ist, da seine
Materie und seine Charaktere allgemeiner sind, als
die, welche Homer behandelt, so ist auch sein Ruhm
unter den Neuern, deren Art zu denken der seinigen
näher kommt, allgemeiner geworden.

Aeschylus.

Der älteste von den drey griechischen Trauerspiel-
dichtern, von denen einige ganze Stücke übrig ge-
blieben sind. Die Nachrichten von seinem Leben
sind etwas zweifelhaft. Jn der griechischen Lebens-
beschreibung, die seinen Werken insgemein vorge-
setzt wird, heißt es; er sey ein Zeitverwandter des
Pindars gewesen, und in der 40 Olympias geboh-
ren. So viel ist gewiß, daß er zur Zeit des ersten
persischen Krieges gelebt, und als ein tapferer
Bürger bey Marathon für das Vaterland gefoch-
ten hat. Daß er ein Mann von erhabenem Muth,
von einer freyen und kühnen Denkart gewesen,
läßt sich aus seinen Werken nicht undeutlich schlies-
(*) Pausan.
in Attic.
sen. Nach seinem eigenen Vorgeben (*) ist er durch
einen Traum ermuntert worden, ein tragischer Dich-
ter zu werden; denn als er bey Bewachung eines
Weinberges eingeschlafen, hat ihm Bachus im
Traum befohlen, Trauerspiele zu schreiben.

Von seinen Trauerspielen sind sieben ganz übrig
geblieben. Jn allen herrscht, nach dem Geständ-
nis aller alten und neuen Kunstrichter, eine unge-
wöhnliche Größe der Schreibart und der Gedanken.
Phrynichus nennt ihn #-
#, und damit kommen die Urtheile des
Horaz und Quintilians überein. Ersterer sagt
von ihm:

(*) de Arte
280.
Et docuit magnumque loqui nitique Cothurno (*)

und dieser urtheilt er sey sublimis & gravis & gran-
(*) Instit.
Orat. L. X.
diloquus saepe usque ad vitium. (*) Es scheinet, er
habe sich in seinen Trauerspielen zur Regel vor-
geschrieben, was er dem Prometheus in den
Mund legt:

(*) vs. [95]2.
Die Reden
sind voll
Hoheit und
dreister Zu-
versichtlich-
keit.
#
# (*)

Sein Ausdruk ist neu, kühn, voll ungewöhnlicher
Metaphern, und erfodert eine starke und volle Stim-
me. Er kömmt darinn unter allen Griechen der
[Spaltenumbruch]

Aes
Kühnheit der morgenländischen Sprachen am näch-
sten. Seine Ausdrüke sind weder von dem Wiz
noch von der Ueberlegung gewählt; sondern von der
Empfindung eingegeben. Er sucht vielmehr das Ohr
mit starken Schlägen zu erschüttern, als ihm mit
sanften Tönen zu schmeicheln.

Alle seine Trauerspiele sind in dem Plan sehr ein-
fach, vielweniger aus Wahl, als aus der Gewohn-
heit seiner Zeit: wenig Handlung und mäßige Ver-
wiklungen: bisweilen hat er ausser dem Chor nur
drey redende Personen. Mit diesen wenigen An-
stalten reizet er die Aufmerksamkeit, und unterhält
sie vom Anfang bis zum Ende. Man wird weder
im Auftritt auf die Bühne, noch im Weggehen
von derselben, den geringsten Zwang wahrnehmen:
alles geschieht auf die natürlichste und einfacheste
Weise. Da die Menge der Begebenheiten uns
nicht zerstreuet, so wenden wir alle Aufmerksam-
keit auf die Personen.

Die Reden derselben sind allezeit groß und kühn.
Man wird selten denken, daß die Personen in ihren
Umständen und nach ihren Charakteren anders
hätten reden können. Jedes Wort dienet uns für
oder gegen sie, nach der Absicht des Dichters, ein-
zunehmen: darinn verfehlt er seinen Endzwek nie-
mal, und zeiget sich als den stärksten Redner. Er
läßt uns im guten und bösen, nach der Moral seiner
Zeit, nur grosse Charaktere sehen: das zärtliche und
sanft reizende hat er entweder gar nicht gekennt,
oder zum Trauerspiel nicht für schiklich gehalten.
Doch kann man vermuthen, daß er im Stande ge-
wesen wäre, ihm einen eben so hohen Schwung zu
geben, als Shakespear unter den Neuern gethan
hat. Von Liebe ist keine Spuhr in seinen Werken:
er wollte nur Schreken und Bewunderung er-
weken. Die diesen Dichter nicht kennen, mö-
gen aus folgenden Proben sich einigen Begriff von
ihm machen.

Der Charakter seines Prometheus ist groß und
äußerst kühn. Dieser ist der größere Cato unter den
Göttern. Man urtheile hievon aus folgenden Re-
den. Er war bereits an den Caucasus angeschmie-
det, und Merkur mußte ihm noch mit härtern Straf-
fen vom Jupiter drohen, in Hofnung, sein unbe-
zwingbares Herz zu gewinnen. Dabey fallen un-
ter andern folgende Reden vor:

Prom Meinest du etwa, daß ich mich für
diesen neuen Göttern fürchte, oder daß ich

mich

[Spaltenumbruch]

Aeſ
chen; aber Virgil war es nicht fuͤr die Roͤmer, die
zu ſeiner Zeit doch noch nicht alle Staͤrke ihres ehe-
maligen Charakters verlohren hatten. Da er aber
der Dichter aller Menſchen von feinem Geſchmak
und einem etwas ruhigen Temperament iſt, da ſeine
Materie und ſeine Charaktere allgemeiner ſind, als
die, welche Homer behandelt, ſo iſt auch ſein Ruhm
unter den Neuern, deren Art zu denken der ſeinigen
naͤher kommt, allgemeiner geworden.

Aeſchylus.

Der aͤlteſte von den drey griechiſchen Trauerſpiel-
dichtern, von denen einige ganze Stuͤcke uͤbrig ge-
blieben ſind. Die Nachrichten von ſeinem Leben
ſind etwas zweifelhaft. Jn der griechiſchen Lebens-
beſchreibung, die ſeinen Werken insgemein vorge-
ſetzt wird, heißt es; er ſey ein Zeitverwandter des
Pindars geweſen, und in der 40 Olympias geboh-
ren. So viel iſt gewiß, daß er zur Zeit des erſten
perſiſchen Krieges gelebt, und als ein tapferer
Buͤrger bey Marathon fuͤr das Vaterland gefoch-
ten hat. Daß er ein Mann von erhabenem Muth,
von einer freyen und kuͤhnen Denkart geweſen,
laͤßt ſich aus ſeinen Werken nicht undeutlich ſchlieſ-
(*) Pauſan.
in Attic.
ſen. Nach ſeinem eigenen Vorgeben (*) iſt er durch
einen Traum ermuntert worden, ein tragiſcher Dich-
ter zu werden; denn als er bey Bewachung eines
Weinberges eingeſchlafen, hat ihm Bachus im
Traum befohlen, Trauerſpiele zu ſchreiben.

Von ſeinen Trauerſpielen ſind ſieben ganz uͤbrig
geblieben. Jn allen herrſcht, nach dem Geſtaͤnd-
nis aller alten und neuen Kunſtrichter, eine unge-
woͤhnliche Groͤße der Schreibart und der Gedanken.
Phrynichus nennt ihn #-
#, und damit kommen die Urtheile des
Horaz und Quintilians uͤberein. Erſterer ſagt
von ihm:

(*) de Arte
280.
Et docuit magnumque loqui nitique Cothurno (*)

und dieſer urtheilt er ſey ſublimis & gravis & gran-
(*) Inſtit.
Orat. L. X.
diloquus ſaepe usque ad vitium. (*) Es ſcheinet, er
habe ſich in ſeinen Trauerſpielen zur Regel vor-
geſchrieben, was er dem Prometheus in den
Mund legt:

(*) vſ. [95]2.
Die Reden
ſind voll
Hoheit und
dreiſter Zu-
verſichtlich-
keit.
#
# (*)

Sein Ausdruk iſt neu, kuͤhn, voll ungewoͤhnlicher
Metaphern, und erfodert eine ſtarke und volle Stim-
me. Er koͤmmt darinn unter allen Griechen der
[Spaltenumbruch]

Aeſ
Kuͤhnheit der morgenlaͤndiſchen Sprachen am naͤch-
ſten. Seine Ausdruͤke ſind weder von dem Wiz
noch von der Ueberlegung gewaͤhlt; ſondern von der
Empfindung eingegeben. Er ſucht vielmehr das Ohr
mit ſtarken Schlaͤgen zu erſchuͤttern, als ihm mit
ſanften Toͤnen zu ſchmeicheln.

Alle ſeine Trauerſpiele ſind in dem Plan ſehr ein-
fach, vielweniger aus Wahl, als aus der Gewohn-
heit ſeiner Zeit: wenig Handlung und maͤßige Ver-
wiklungen: bisweilen hat er auſſer dem Chor nur
drey redende Perſonen. Mit dieſen wenigen An-
ſtalten reizet er die Aufmerkſamkeit, und unterhaͤlt
ſie vom Anfang bis zum Ende. Man wird weder
im Auftritt auf die Buͤhne, noch im Weggehen
von derſelben, den geringſten Zwang wahrnehmen:
alles geſchieht auf die natuͤrlichſte und einfacheſte
Weiſe. Da die Menge der Begebenheiten uns
nicht zerſtreuet, ſo wenden wir alle Aufmerkſam-
keit auf die Perſonen.

Die Reden derſelben ſind allezeit groß und kuͤhn.
Man wird ſelten denken, daß die Perſonen in ihren
Umſtaͤnden und nach ihren Charakteren anders
haͤtten reden koͤnnen. Jedes Wort dienet uns fuͤr
oder gegen ſie, nach der Abſicht des Dichters, ein-
zunehmen: darinn verfehlt er ſeinen Endzwek nie-
mal, und zeiget ſich als den ſtaͤrkſten Redner. Er
laͤßt uns im guten und boͤſen, nach der Moral ſeiner
Zeit, nur groſſe Charaktere ſehen: das zaͤrtliche und
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oder zum Trauerſpiel nicht fuͤr ſchiklich gehalten.
Doch kann man vermuthen, daß er im Stande ge-
weſen waͤre, ihm einen eben ſo hohen Schwung zu
geben, als Shakeſpear unter den Neuern gethan
hat. Von Liebe iſt keine Spuhr in ſeinen Werken:
er wollte nur Schreken und Bewunderung er-
weken. Die dieſen Dichter nicht kennen, moͤ-
gen aus folgenden Proben ſich einigen Begriff von
ihm machen.

Der Charakter ſeines Prometheus iſt groß und
aͤußerſt kuͤhn. Dieſer iſt der groͤßere Cato unter den
Goͤttern. Man urtheile hievon aus folgenden Re-
den. Er war bereits an den Caucaſus angeſchmie-
det, und Merkur mußte ihm noch mit haͤrtern Straf-
fen vom Jupiter drohen, in Hofnung, ſein unbe-
zwingbares Herz zu gewinnen. Dabey fallen un-
ter andern folgende Reden vor:

Prom Meineſt du etwa, daß ich mich fuͤr
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/30>, abgerufen am 28.03.2024.