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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ein
bestehenden Dinges. Jst er damit zufrieden, so ur-
theilt er, daß auch das Ganze schön sey. Auf diese
Art finder mancher eine Rede schön, weil ihm darin
viel einzele Redensarten und Ausdrüke an und für
sich selbst gefallen; da ein anderer, der einen gänzli-
chen Mangel des Plans im Ganzen entdekt, diese
Rede mit großem Mißfallen anhöret.

Einheiten.
(Dichtkunst.)

Seitdem man angemerkt hat, daß die griechischen
Dichter in ihren scenischen Schauspielen eine drey-
fache Einheit beobachtet haben, nämlich die Einheit
der Handlung, des Orts und der Zeit, ist vielfäl-
tig über diese drey Einheiten in Absicht auf die Voll-
kommenheit des Drama geschrieben worden. Das-
jenige, was in dem vorhergehenden Artikel von der
Einheit überhaupt abgehandelt worden,| wird uns
hinlängliche Grundsätze an die Hand geben, die
Materie von diesen drey Einheiten in ein völliges
Licht zu setzen.

Weil das Drama die Vorstellung einer wichtigen
und lehrreichen Handlung ist, die sich der Einbil-
dungskraft reizend darstellt, so ist die Einheit der
Handlung dabey schlechterdings nothwendig, weil
man ohne dieselbe die Handlung sich weder bestimmt
noch viel weniger reizend vorstellen kann. Wiewol
nun zu jeder Handlung nothwendig Zeit und Ort
erfodert werden, so kann man doch dergestalt das
Gemüth bey der Betrachtung der Handlung von
beyden abziehen, daß man sich weder die eine noch
den andern klar dabey vorstellt. Wenigstens kann es
seyn, daß weder die Länge und Unterbrechung der Zeit,
noch die Verschiedenheit der Oerter, der Einheit der
Handlung nicht den geringsten Schaden thun.

Damit aber wollen wir nicht sagen, daß die zu-
fälligen Einheiten im Drama ganz unnöthig seyen.
Die Handlung des Drama geschieht vor unsern Au-
gen, wir können uns also nicht enthalten, die Zeit
darin sie geschieht, nach dem Maaße der Zeit, in wel-
cher wir zugesehen haben, abzumessen; ein starker
Widerspruch in dieser Abmessung würde uns beleidi-
gen, und unsre Aufmerksamkeit auf die Einheit der
Handlung hindern. Eben dieses bemerken wir von
der Einheit des Orts, den wir mit dem Orte, wo
wir sind, in Vergleichung stellen.

Es verlangen also einige Kunstrichter, daß die
Handlung des Drama, wie Aristoteles fodert, auf
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Ein
die Zeit eines einzigen Tages eingeschränkt seyn soll,
wiewol sie für nothwendig halten, daß diese ganze
Zeit auf ein paar Stunden der wahren Zeit könne
zusammengezogen werden, weil es der Einbildungs-
kraft leicht ist, den Zwischenraum der Aufzüge sich
länger vorzustellen, als er würklich sey. Jn An-
sehung der Einheit des Orts, verlangen sie, daß die
ganze Handlung auf einer Stelle geschehe, so daß
alle handelnden Personen, so ofte sie auftreten, be-
ständig auf demselben Platz erscheinen.

Die Alten haben diese Einheit des Orts bestän-
dig und auf das sorgfältigste beobachtet. Der Platz,
auf welchem die Handlung angefangen, war der,
auf dem alles, was darin sichtbar erscheinet, ist
fortgesetzt und vollführt worden. Sie waren um so
viel mehr an die genaue Einheit des Orts gebun-
den, weil der Chor die ganze Handlung durch auf
der Schaubühne stuhnd. Mithin würde es unge-
reimt gewesen seyn, den Ort der Handlung zu ver-
ändern, da man doch dieselben Personen unbeweg-
lich vor sich gesehen hatte.

Jn Ansehung der Zeit sind sie nicht allemal so
genau gewesen. Bisweilen haben sie das, was kaum
in 24 Stunden geschehen kann, in wenig Minuten
geschehen lassen, wie aus der Hermione des Euri-
pides
erhellet, ingleichen aus den um Hülfe flehen-
den
desselben Dichters.

Es ist indessen gewiß, daß die Alten, insonderheit
in ihren Trauerspielen, so einfache Handlungen ein-
geführt haben, daß die Einheiten der Zeit und des
Orts dabey fast nothwendig geworden. Was ist
z. E. einfacher, als diese Handlung: Ajax der im
Kopf irre geworden, und in der Nacht aus seinem
Zelt einen Ausfall auf eine Heerde Vieh gethan,
die er für das Heer der Griechen gehalten hat, be-
kommt in seinem Zelt einen Zwischenraum von Ver-
stand, erfährt von seiner Beyschläferin, was er in
der Tollheit gethan hat, und bringt sich selbst ums
Leben. Wer ein so fruchthares Genie hat, aus die-
ser einfachen Begebenheit ein Trauerspiel zu machen,
dem wird es nicht schweer ankommen, die Einheiten
der Zeit und des Orts zu beobachten.

Den Neuern muß dieses desto schweerer werden,
weil sie gerne Handlungen von weitem Umfange
mit viel Vorfällen angefüllt zum Grund legen, da
es denn ofte ganz unmöglich ist, alles dem Raum und
der Zeit nach so sehr in die Enge zu zwingen.

Diese

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Ein
beſtehenden Dinges. Jſt er damit zufrieden, ſo ur-
theilt er, daß auch das Ganze ſchoͤn ſey. Auf dieſe
Art finder mancher eine Rede ſchoͤn, weil ihm darin
viel einzele Redensarten und Ausdruͤke an und fuͤr
ſich ſelbſt gefallen; da ein anderer, der einen gaͤnzli-
chen Mangel des Plans im Ganzen entdekt, dieſe
Rede mit großem Mißfallen anhoͤret.

Einheiten.
(Dichtkunſt.)

Seitdem man angemerkt hat, daß die griechiſchen
Dichter in ihren ſceniſchen Schauſpielen eine drey-
fache Einheit beobachtet haben, naͤmlich die Einheit
der Handlung, des Orts und der Zeit, iſt vielfaͤl-
tig uͤber dieſe drey Einheiten in Abſicht auf die Voll-
kommenheit des Drama geſchrieben worden. Das-
jenige, was in dem vorhergehenden Artikel von der
Einheit uͤberhaupt abgehandelt worden,| wird uns
hinlaͤngliche Grundſaͤtze an die Hand geben, die
Materie von dieſen drey Einheiten in ein voͤlliges
Licht zu ſetzen.

Weil das Drama die Vorſtellung einer wichtigen
und lehrreichen Handlung iſt, die ſich der Einbil-
dungskraft reizend darſtellt, ſo iſt die Einheit der
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man ohne dieſelbe die Handlung ſich weder beſtimmt
noch viel weniger reizend vorſtellen kann. Wiewol
nun zu jeder Handlung nothwendig Zeit und Ort
erfodert werden, ſo kann man doch dergeſtalt das
Gemuͤth bey der Betrachtung der Handlung von
beyden abziehen, daß man ſich weder die eine noch
den andern klar dabey vorſtellt. Wenigſtens kann es
ſeyn, daß weder die Laͤnge und Unterbrechung der Zeit,
noch die Verſchiedenheit der Oerter, der Einheit der
Handlung nicht den geringſten Schaden thun.

Damit aber wollen wir nicht ſagen, daß die zu-
faͤlligen Einheiten im Drama ganz unnoͤthig ſeyen.
Die Handlung des Drama geſchieht vor unſern Au-
gen, wir koͤnnen uns alſo nicht enthalten, die Zeit
darin ſie geſchieht, nach dem Maaße der Zeit, in wel-
cher wir zugeſehen haben, abzumeſſen; ein ſtarker
Widerſpruch in dieſer Abmeſſung wuͤrde uns beleidi-
gen, und unſre Aufmerkſamkeit auf die Einheit der
Handlung hindern. Eben dieſes bemerken wir von
der Einheit des Orts, den wir mit dem Orte, wo
wir ſind, in Vergleichung ſtellen.

Es verlangen alſo einige Kunſtrichter, daß die
Handlung des Drama, wie Ariſtoteles fodert, auf
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Ein
die Zeit eines einzigen Tages eingeſchraͤnkt ſeyn ſoll,
wiewol ſie fuͤr nothwendig halten, daß dieſe ganze
Zeit auf ein paar Stunden der wahren Zeit koͤnne
zuſammengezogen werden, weil es der Einbildungs-
kraft leicht iſt, den Zwiſchenraum der Aufzuͤge ſich
laͤnger vorzuſtellen, als er wuͤrklich ſey. Jn An-
ſehung der Einheit des Orts, verlangen ſie, daß die
ganze Handlung auf einer Stelle geſchehe, ſo daß
alle handelnden Perſonen, ſo ofte ſie auftreten, be-
ſtaͤndig auf demſelben Platz erſcheinen.

Die Alten haben dieſe Einheit des Orts beſtaͤn-
dig und auf das ſorgfaͤltigſte beobachtet. Der Platz,
auf welchem die Handlung angefangen, war der,
auf dem alles, was darin ſichtbar erſcheinet, iſt
fortgeſetzt und vollfuͤhrt worden. Sie waren um ſo
viel mehr an die genaue Einheit des Orts gebun-
den, weil der Chor die ganze Handlung durch auf
der Schaubuͤhne ſtuhnd. Mithin wuͤrde es unge-
reimt geweſen ſeyn, den Ort der Handlung zu ver-
aͤndern, da man doch dieſelben Perſonen unbeweg-
lich vor ſich geſehen hatte.

Jn Anſehung der Zeit ſind ſie nicht allemal ſo
genau geweſen. Bisweilen haben ſie das, was kaum
in 24 Stunden geſchehen kann, in wenig Minuten
geſchehen laſſen, wie aus der Hermione des Euri-
pides
erhellet, ingleichen aus den um Huͤlfe flehen-
den
deſſelben Dichters.

Es iſt indeſſen gewiß, daß die Alten, inſonderheit
in ihren Trauerſpielen, ſo einfache Handlungen ein-
gefuͤhrt haben, daß die Einheiten der Zeit und des
Orts dabey faſt nothwendig geworden. Was iſt
z. E. einfacher, als dieſe Handlung: Ajax der im
Kopf irre geworden, und in der Nacht aus ſeinem
Zelt einen Ausfall auf eine Heerde Vieh gethan,
die er fuͤr das Heer der Griechen gehalten hat, be-
kommt in ſeinem Zelt einen Zwiſchenraum von Ver-
ſtand, erfaͤhrt von ſeiner Beyſchlaͤferin, was er in
der Tollheit gethan hat, und bringt ſich ſelbſt ums
Leben. Wer ein ſo fruchthares Genie hat, aus die-
ſer einfachen Begebenheit ein Trauerſpiel zu machen,
dem wird es nicht ſchweer ankommen, die Einheiten
der Zeit und des Orts zu beobachten.

Den Neuern muß dieſes deſto ſchweerer werden,
weil ſie gerne Handlungen von weitem Umfange
mit viel Vorfaͤllen angefuͤllt zum Grund legen, da
es denn ofte ganz unmoͤglich iſt, alles dem Raum und
der Zeit nach ſo ſehr in die Enge zu zwingen.

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[304/0316] Ein Ein beſtehenden Dinges. Jſt er damit zufrieden, ſo ur- theilt er, daß auch das Ganze ſchoͤn ſey. Auf dieſe Art finder mancher eine Rede ſchoͤn, weil ihm darin viel einzele Redensarten und Ausdruͤke an und fuͤr ſich ſelbſt gefallen; da ein anderer, der einen gaͤnzli- chen Mangel des Plans im Ganzen entdekt, dieſe Rede mit großem Mißfallen anhoͤret. Einheiten. (Dichtkunſt.) Seitdem man angemerkt hat, daß die griechiſchen Dichter in ihren ſceniſchen Schauſpielen eine drey- fache Einheit beobachtet haben, naͤmlich die Einheit der Handlung, des Orts und der Zeit, iſt vielfaͤl- tig uͤber dieſe drey Einheiten in Abſicht auf die Voll- kommenheit des Drama geſchrieben worden. Das- jenige, was in dem vorhergehenden Artikel von der Einheit uͤberhaupt abgehandelt worden,| wird uns hinlaͤngliche Grundſaͤtze an die Hand geben, die Materie von dieſen drey Einheiten in ein voͤlliges Licht zu ſetzen. Weil das Drama die Vorſtellung einer wichtigen und lehrreichen Handlung iſt, die ſich der Einbil- dungskraft reizend darſtellt, ſo iſt die Einheit der Handlung dabey ſchlechterdings nothwendig, weil man ohne dieſelbe die Handlung ſich weder beſtimmt noch viel weniger reizend vorſtellen kann. Wiewol nun zu jeder Handlung nothwendig Zeit und Ort erfodert werden, ſo kann man doch dergeſtalt das Gemuͤth bey der Betrachtung der Handlung von beyden abziehen, daß man ſich weder die eine noch den andern klar dabey vorſtellt. Wenigſtens kann es ſeyn, daß weder die Laͤnge und Unterbrechung der Zeit, noch die Verſchiedenheit der Oerter, der Einheit der Handlung nicht den geringſten Schaden thun. Damit aber wollen wir nicht ſagen, daß die zu- faͤlligen Einheiten im Drama ganz unnoͤthig ſeyen. Die Handlung des Drama geſchieht vor unſern Au- gen, wir koͤnnen uns alſo nicht enthalten, die Zeit darin ſie geſchieht, nach dem Maaße der Zeit, in wel- cher wir zugeſehen haben, abzumeſſen; ein ſtarker Widerſpruch in dieſer Abmeſſung wuͤrde uns beleidi- gen, und unſre Aufmerkſamkeit auf die Einheit der Handlung hindern. Eben dieſes bemerken wir von der Einheit des Orts, den wir mit dem Orte, wo wir ſind, in Vergleichung ſtellen. Es verlangen alſo einige Kunſtrichter, daß die Handlung des Drama, wie Ariſtoteles fodert, auf die Zeit eines einzigen Tages eingeſchraͤnkt ſeyn ſoll, wiewol ſie fuͤr nothwendig halten, daß dieſe ganze Zeit auf ein paar Stunden der wahren Zeit koͤnne zuſammengezogen werden, weil es der Einbildungs- kraft leicht iſt, den Zwiſchenraum der Aufzuͤge ſich laͤnger vorzuſtellen, als er wuͤrklich ſey. Jn An- ſehung der Einheit des Orts, verlangen ſie, daß die ganze Handlung auf einer Stelle geſchehe, ſo daß alle handelnden Perſonen, ſo ofte ſie auftreten, be- ſtaͤndig auf demſelben Platz erſcheinen. Die Alten haben dieſe Einheit des Orts beſtaͤn- dig und auf das ſorgfaͤltigſte beobachtet. Der Platz, auf welchem die Handlung angefangen, war der, auf dem alles, was darin ſichtbar erſcheinet, iſt fortgeſetzt und vollfuͤhrt worden. Sie waren um ſo viel mehr an die genaue Einheit des Orts gebun- den, weil der Chor die ganze Handlung durch auf der Schaubuͤhne ſtuhnd. Mithin wuͤrde es unge- reimt geweſen ſeyn, den Ort der Handlung zu ver- aͤndern, da man doch dieſelben Perſonen unbeweg- lich vor ſich geſehen hatte. Jn Anſehung der Zeit ſind ſie nicht allemal ſo genau geweſen. Bisweilen haben ſie das, was kaum in 24 Stunden geſchehen kann, in wenig Minuten geſchehen laſſen, wie aus der Hermione des Euri- pides erhellet, ingleichen aus den um Huͤlfe flehen- den deſſelben Dichters. Es iſt indeſſen gewiß, daß die Alten, inſonderheit in ihren Trauerſpielen, ſo einfache Handlungen ein- gefuͤhrt haben, daß die Einheiten der Zeit und des Orts dabey faſt nothwendig geworden. Was iſt z. E. einfacher, als dieſe Handlung: Ajax der im Kopf irre geworden, und in der Nacht aus ſeinem Zelt einen Ausfall auf eine Heerde Vieh gethan, die er fuͤr das Heer der Griechen gehalten hat, be- kommt in ſeinem Zelt einen Zwiſchenraum von Ver- ſtand, erfaͤhrt von ſeiner Beyſchlaͤferin, was er in der Tollheit gethan hat, und bringt ſich ſelbſt ums Leben. Wer ein ſo fruchthares Genie hat, aus die- ſer einfachen Begebenheit ein Trauerſpiel zu machen, dem wird es nicht ſchweer ankommen, die Einheiten der Zeit und des Orts zu beobachten. Den Neuern muß dieſes deſto ſchweerer werden, weil ſie gerne Handlungen von weitem Umfange mit viel Vorfaͤllen angefuͤllt zum Grund legen, da es denn ofte ganz unmoͤglich iſt, alles dem Raum und der Zeit nach ſo ſehr in die Enge zu zwingen. Dieſe

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/316>, abgerufen am 12.05.2024.