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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ein
nen Gesang hat, die Europäer die einzigen sind, die
Harmonie und Accorde haben, und dieses Gemengsel
der Töne angenehm finden; wenn man ferner er-
wägt, daß durch so viel Jahrhunderte, da die schö-
nen Künste bey verschiedenen Völkern geblüht haben,
keines diese Harmonie gekennt hat; daß weder
die orientalischen Sprachen, die so wolklingend
und zur Musik so schiklich sind, noch das griechische
Ohr, das so fein, so empfindlich und in der Kunst
so sehr geübt gewesen, jene so empfindsamen und
so wollüstigen Völker auf unsre Harmonie geführt
haben; daß ohne sie ihre Musik so bewundrungs-
würdige Würkung gethan hat, da die unsrige der
Harmonie ungeachtet so schwach ist; daß endlich
den nordischen Völkern, deren gröbere Sinnen
mehr von der Stärke und dem Geräusch der Stim-
men, als von der Annehmlichkeit der Accente und
den lieblichen Wendungen der Melodie gerührt
werden, aufbehalten gewesen, diese große Entdekung
zu machen, und sie zum Grundsatz aller Regeln der
Musik zu setzen;
wenn man, sag' ich, dieses alles
bedenkt, so ist es schweer sich der Vermuthung zu
enthalten, daß unsre ganze Harmonie eine gothi-
sche und barbarische Erfindung sey, auf die wir nie-
mal würden gekommen seyn, wenn wir für die
wahren Schönheiten der Kunst, und für die wahre
Musik der Natur mehr Gefühl gehabt hätten."

Es ist aus den mit andrer Schrift gedrukten Wor-
ten dieses etwas verdrießlichen Ausfalles gegen die
Harmonie demlich zu sehen, daß dieser große Ken-
ner sich hier von dem Verdruß über die Prahlereyen
des Rameau weiter habe hinreissen lassen, als ihn
sein Geschmak würde geführt haben. Dieses ist ihm
um so mehr zu verzeihen, da es in der That nicht
möglich ist, bey den ausschweiffenden Lobsprüchen
einiger Franzosen, wenn sie von den vermeinten har-
monischen Entdekungen des Rameau sprechen, die
sie als die Epoche der wahren Musik angeben, bey
kaltem Geblüte zu bleiben.

Jnzwischen wird doch auch kein Liebhaber der Har-
monie in Abrede seyn, daß nicht ein im Einklang
von einem großen Chor vorgetragener Gesang viel
Schönheit haben und große Würkung thun könne.

Einkleidung.
(Redende auch zeichnende Künste.)

Eine Vorstellung einkleiden heißt so viel, als ihr
etwas beyfügen, wodurch sie einigermaassen verstekt
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Ein
wird, damit sie sich desto vortheilhafter zeige. So
wird ein Begriff durch ein Bild ausgedrukt; eine
Wahrheit oder eine Lehre in einer Fabel, oder in
einer Allegorie vorgetragen, und also in etwas sinn-
liches eingekleidet. Das Einkleiden setzt allemal
etwas Bloßes voraus; man kann auch in der That
diejenigen Vorstellungen blos nennen, die durch ab-
gezogene Begriffe und also durch den Verstand müs-
sen gefaßt werden. Diesen Vorstellungen Sinnlich-
keit geben heißt also sie einkleiden.

Die schönen Künste, welche abgezogene oder allge-
meine Vorstellungen erweken können, müssen sie ein-
kleiden, weil sie nicht für den Verstand, sondern für
die Sinnlichkeit arbeiten; also ist die Einkleidung
der Begriffe und der Gedanken eine den schönen
Künsten eigenthümlich zugehörige Arbeit. Nicht
als ob jeder einzele allgemeine Begriff oder Gedan-
ken nothwendig müßte eingekleidet seyn; denn die-
ses würde mehr schaden, als nützen. Es muß nur
bey den Hauptvorstellungen geschehen, von denen
eigentlich die Würkung, die der Künstler im Ganzen
zuerhalten sucht, abhängt.

Die Einkleidung betrift entweder nur einzele Theile,
oder das Ganze. Von ihr bekommt bisweilen im
letztern Fall das ganze Werk seine Form oder seine
Art, und wird zur Allegorie, oder zur Fabel, auch
wol zur Ode, zur Elegie, zum Traum. Denn
bisweilen besteht die Art eines Werks blos in der
Einkleidung.

Einschnitt.
(Redende Künste. Musik.)

Man ist nicht immer sorgfältig genug gewesen,
die Kunstwörter, deren Bedeutungen nahe an einan-
der gränzen, so genau zu bestimmen, daß man völ-
lig sicher seyn könnte, sie nie mit einander zu ver-
wechseln. Die Wörter Einschnitt, Abschnitt, Glied
der Rede, sind in diesem Fall. Jn dem Artikel
Abschnitt ist die Bedeutung dieses Worts auch noch
etwas zu unbestimmt angenommen, daher dort ver-
schiedenes fehlet, was theils hier, theils in dem Art.
Periode, soll nachgeholt werden.

Wir wollen also die verschiedenen Theile einer
Periode, sowol in der Rede, als in der Musik und
im Tanz, mit dem allgemeinen Namen der Glieder
belegen, und die grössern Glieder, die sich durch merk-

liche

[Spaltenumbruch]

Ein
nen Geſang hat, die Europaͤer die einzigen ſind, die
Harmonie und Accorde haben, und dieſes Gemengſel
der Toͤne angenehm finden; wenn man ferner er-
waͤgt, daß durch ſo viel Jahrhunderte, da die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte bey verſchiedenen Voͤlkern gebluͤht haben,
keines dieſe Harmonie gekennt hat; daß weder
die orientaliſchen Sprachen, die ſo wolklingend
und zur Muſik ſo ſchiklich ſind, noch das griechiſche
Ohr, das ſo fein, ſo empfindlich und in der Kunſt
ſo ſehr geuͤbt geweſen, jene ſo empfindſamen und
ſo wolluͤſtigen Voͤlker auf unſre Harmonie gefuͤhrt
haben; daß ohne ſie ihre Muſik ſo bewundrungs-
wuͤrdige Wuͤrkung gethan hat, da die unſrige der
Harmonie ungeachtet ſo ſchwach iſt; daß endlich
den nordiſchen Voͤlkern, deren groͤbere Sinnen
mehr von der Staͤrke und dem Geraͤuſch der Stim-
men, als von der Annehmlichkeit der Accente und
den lieblichen Wendungen der Melodie geruͤhrt
werden, aufbehalten geweſen, dieſe große Entdekung
zu machen, und ſie zum Grundſatz aller Regeln der
Muſik zu ſetzen;
wenn man, ſag’ ich, dieſes alles
bedenkt, ſo iſt es ſchweer ſich der Vermuthung zu
enthalten, daß unſre ganze Harmonie eine gothi-
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mal wuͤrden gekommen ſeyn, wenn wir fuͤr die
wahren Schoͤnheiten der Kunſt, und fuͤr die wahre
Muſik der Natur mehr Gefuͤhl gehabt haͤtten.‟

Es iſt aus den mit andrer Schrift gedrukten Wor-
ten dieſes etwas verdrießlichen Ausfalles gegen die
Harmonie demlich zu ſehen, daß dieſer große Ken-
ner ſich hier von dem Verdruß uͤber die Prahlereyen
des Rameau weiter habe hinreiſſen laſſen, als ihn
ſein Geſchmak wuͤrde gefuͤhrt haben. Dieſes iſt ihm
um ſo mehr zu verzeihen, da es in der That nicht
moͤglich iſt, bey den ausſchweiffenden Lobſpruͤchen
einiger Franzoſen, wenn ſie von den vermeinten har-
moniſchen Entdekungen des Rameau ſprechen, die
ſie als die Epoche der wahren Muſik angeben, bey
kaltem Gebluͤte zu bleiben.

Jnzwiſchen wird doch auch kein Liebhaber der Har-
monie in Abrede ſeyn, daß nicht ein im Einklang
von einem großen Chor vorgetragener Geſang viel
Schoͤnheit haben und große Wuͤrkung thun koͤnne.

Einkleidung.
(Redende auch zeichnende Kuͤnſte.)

Eine Vorſtellung einkleiden heißt ſo viel, als ihr
etwas beyfuͤgen, wodurch ſie einigermaaſſen verſtekt
[Spaltenumbruch]

Ein
wird, damit ſie ſich deſto vortheilhafter zeige. So
wird ein Begriff durch ein Bild ausgedrukt; eine
Wahrheit oder eine Lehre in einer Fabel, oder in
einer Allegorie vorgetragen, und alſo in etwas ſinn-
liches eingekleidet. Das Einkleiden ſetzt allemal
etwas Bloßes voraus; man kann auch in der That
diejenigen Vorſtellungen blos nennen, die durch ab-
gezogene Begriffe und alſo durch den Verſtand muͤſ-
ſen gefaßt werden. Dieſen Vorſtellungen Sinnlich-
keit geben heißt alſo ſie einkleiden.

Die ſchoͤnen Kuͤnſte, welche abgezogene oder allge-
meine Vorſtellungen erweken koͤnnen, muͤſſen ſie ein-
kleiden, weil ſie nicht fuͤr den Verſtand, ſondern fuͤr
die Sinnlichkeit arbeiten; alſo iſt die Einkleidung
der Begriffe und der Gedanken eine den ſchoͤnen
Kuͤnſten eigenthuͤmlich zugehoͤrige Arbeit. Nicht
als ob jeder einzele allgemeine Begriff oder Gedan-
ken nothwendig muͤßte eingekleidet ſeyn; denn die-
ſes wuͤrde mehr ſchaden, als nuͤtzen. Es muß nur
bey den Hauptvorſtellungen geſchehen, von denen
eigentlich die Wuͤrkung, die der Kuͤnſtler im Ganzen
zuerhalten ſucht, abhaͤngt.

Die Einkleidung betrift entweder nur einzele Theile,
oder das Ganze. Von ihr bekommt bisweilen im
letztern Fall das ganze Werk ſeine Form oder ſeine
Art, und wird zur Allegorie, oder zur Fabel, auch
wol zur Ode, zur Elegie, zum Traum. Denn
bisweilen beſteht die Art eines Werks blos in der
Einkleidung.

Einſchnitt.
(Redende Kuͤnſte. Muſik.)

Man iſt nicht immer ſorgfaͤltig genug geweſen,
die Kunſtwoͤrter, deren Bedeutungen nahe an einan-
der graͤnzen, ſo genau zu beſtimmen, daß man voͤl-
lig ſicher ſeyn koͤnnte, ſie nie mit einander zu ver-
wechſeln. Die Woͤrter Einſchnitt, Abſchnitt, Glied
der Rede, ſind in dieſem Fall. Jn dem Artikel
Abſchnitt iſt die Bedeutung dieſes Worts auch noch
etwas zu unbeſtimmt angenommen, daher dort ver-
ſchiedenes fehlet, was theils hier, theils in dem Art.
Periode, ſoll nachgeholt werden.

Wir wollen alſo die verſchiedenen Theile einer
Periode, ſowol in der Rede, als in der Muſik und
im Tanz, mit dem allgemeinen Namen der Glieder
belegen, und die groͤſſern Glieder, die ſich durch merk-

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[306/0318] Ein Ein nen Geſang hat, die Europaͤer die einzigen ſind, die Harmonie und Accorde haben, und dieſes Gemengſel der Toͤne angenehm finden; wenn man ferner er- waͤgt, daß durch ſo viel Jahrhunderte, da die ſchoͤ- nen Kuͤnſte bey verſchiedenen Voͤlkern gebluͤht haben, keines dieſe Harmonie gekennt hat; daß weder die orientaliſchen Sprachen, die ſo wolklingend und zur Muſik ſo ſchiklich ſind, noch das griechiſche Ohr, das ſo fein, ſo empfindlich und in der Kunſt ſo ſehr geuͤbt geweſen, jene ſo empfindſamen und ſo wolluͤſtigen Voͤlker auf unſre Harmonie gefuͤhrt haben; daß ohne ſie ihre Muſik ſo bewundrungs- wuͤrdige Wuͤrkung gethan hat, da die unſrige der Harmonie ungeachtet ſo ſchwach iſt; daß endlich den nordiſchen Voͤlkern, deren groͤbere Sinnen mehr von der Staͤrke und dem Geraͤuſch der Stim- men, als von der Annehmlichkeit der Accente und den lieblichen Wendungen der Melodie geruͤhrt werden, aufbehalten geweſen, dieſe große Entdekung zu machen, und ſie zum Grundſatz aller Regeln der Muſik zu ſetzen; wenn man, ſag’ ich, dieſes alles bedenkt, ſo iſt es ſchweer ſich der Vermuthung zu enthalten, daß unſre ganze Harmonie eine gothi- ſche und barbariſche Erfindung ſey, auf die wir nie- mal wuͤrden gekommen ſeyn, wenn wir fuͤr die wahren Schoͤnheiten der Kunſt, und fuͤr die wahre Muſik der Natur mehr Gefuͤhl gehabt haͤtten.‟ Es iſt aus den mit andrer Schrift gedrukten Wor- ten dieſes etwas verdrießlichen Ausfalles gegen die Harmonie demlich zu ſehen, daß dieſer große Ken- ner ſich hier von dem Verdruß uͤber die Prahlereyen des Rameau weiter habe hinreiſſen laſſen, als ihn ſein Geſchmak wuͤrde gefuͤhrt haben. Dieſes iſt ihm um ſo mehr zu verzeihen, da es in der That nicht moͤglich iſt, bey den ausſchweiffenden Lobſpruͤchen einiger Franzoſen, wenn ſie von den vermeinten har- moniſchen Entdekungen des Rameau ſprechen, die ſie als die Epoche der wahren Muſik angeben, bey kaltem Gebluͤte zu bleiben. Jnzwiſchen wird doch auch kein Liebhaber der Har- monie in Abrede ſeyn, daß nicht ein im Einklang von einem großen Chor vorgetragener Geſang viel Schoͤnheit haben und große Wuͤrkung thun koͤnne. Einkleidung. (Redende auch zeichnende Kuͤnſte.) Eine Vorſtellung einkleiden heißt ſo viel, als ihr etwas beyfuͤgen, wodurch ſie einigermaaſſen verſtekt wird, damit ſie ſich deſto vortheilhafter zeige. So wird ein Begriff durch ein Bild ausgedrukt; eine Wahrheit oder eine Lehre in einer Fabel, oder in einer Allegorie vorgetragen, und alſo in etwas ſinn- liches eingekleidet. Das Einkleiden ſetzt allemal etwas Bloßes voraus; man kann auch in der That diejenigen Vorſtellungen blos nennen, die durch ab- gezogene Begriffe und alſo durch den Verſtand muͤſ- ſen gefaßt werden. Dieſen Vorſtellungen Sinnlich- keit geben heißt alſo ſie einkleiden. Die ſchoͤnen Kuͤnſte, welche abgezogene oder allge- meine Vorſtellungen erweken koͤnnen, muͤſſen ſie ein- kleiden, weil ſie nicht fuͤr den Verſtand, ſondern fuͤr die Sinnlichkeit arbeiten; alſo iſt die Einkleidung der Begriffe und der Gedanken eine den ſchoͤnen Kuͤnſten eigenthuͤmlich zugehoͤrige Arbeit. Nicht als ob jeder einzele allgemeine Begriff oder Gedan- ken nothwendig muͤßte eingekleidet ſeyn; denn die- ſes wuͤrde mehr ſchaden, als nuͤtzen. Es muß nur bey den Hauptvorſtellungen geſchehen, von denen eigentlich die Wuͤrkung, die der Kuͤnſtler im Ganzen zuerhalten ſucht, abhaͤngt. Die Einkleidung betrift entweder nur einzele Theile, oder das Ganze. Von ihr bekommt bisweilen im letztern Fall das ganze Werk ſeine Form oder ſeine Art, und wird zur Allegorie, oder zur Fabel, auch wol zur Ode, zur Elegie, zum Traum. Denn bisweilen beſteht die Art eines Werks blos in der Einkleidung. Einſchnitt. (Redende Kuͤnſte. Muſik.) Man iſt nicht immer ſorgfaͤltig genug geweſen, die Kunſtwoͤrter, deren Bedeutungen nahe an einan- der graͤnzen, ſo genau zu beſtimmen, daß man voͤl- lig ſicher ſeyn koͤnnte, ſie nie mit einander zu ver- wechſeln. Die Woͤrter Einſchnitt, Abſchnitt, Glied der Rede, ſind in dieſem Fall. Jn dem Artikel Abſchnitt iſt die Bedeutung dieſes Worts auch noch etwas zu unbeſtimmt angenommen, daher dort ver- ſchiedenes fehlet, was theils hier, theils in dem Art. Periode, ſoll nachgeholt werden. Wir wollen alſo die verſchiedenen Theile einer Periode, ſowol in der Rede, als in der Muſik und im Tanz, mit dem allgemeinen Namen der Glieder belegen, und die groͤſſern Glieder, die ſich durch merk- liche

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/318>, abgerufen am 21.11.2024.