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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erf
Umgang jedes, was ihm dienen kann. Stößt er
von ohngefehr auf einen comischen Hauptcharakter,
so entsteht gleich die Begierde ihn zu brauchen, und
das Bestreben eine Fabel auszudenken, in die er die-
sen Charakter einweben könnte. Auf diese Weise
hat jeder Künstler, dessen Geist ganz mit seinem Ge-
genstand beschäftiget ist, überall Veranlasungen zur
Erfindung; selbst die unbeträchtlichsten Dinge füh-
ren ihn darauf. So gesteht Leonhard da Vinci,
daß er oft, aus Fleken an alten Mauren und Wän-
den, gute Gedanken erfunden habe. Er hat deswegen
kein Bedenken getragen, unter den wichtigen Beob-
achtungen über die Kunst diese gering scheinende
Sache in einem eigenen Abschnitt vorzutragen.
"Wenn ihr, sagt er, irgendwo eine bestäubte fle-
kigte Mauer, oder bunte Steine mit mannigfaltigen
Adern seht, so werdet ihr bisweilen Dinge daran
finden, die sich sehr gut zu Gemählden schiken; Land-
schaften, Schlachten, Gewölke, kühne Stellungen,
ausserordentliche Kopfstellungen, Gewänder und
mancherley Dinge dieser Art. Diese seltsam durch
einander liegenden Gegenstände sind eine große Hülfe
zur Erfindung, und geben vielerley Zeichnungen und
(*) Traite
de la Point.
Ch. XVI.
neue Einfälle zu Gemählden." (*) Ohne Zweifel
ist dieses der gewöhnlichste Weg zur Erfindung, daß
der Künstler in den, ihm von ohngefehr aufstoßenden
Gegenständen, alles in seiner Kunst brauchbare be-
merket. Man bewundert oft, wie die Künstler
auf gewisse glükliche Erfindungen haben kommen kön-
nen, und man glaubt, sie müssen ein ausserordent-
lich glükliches Genie zum Erfinden gehabt haben,
da doch, wenn man die eigentliche Geschichte der Er-
findung wüßte, sich zeigen würde, daß ein Zufall
sie hervorgebracht hat. Vermuthlich sind die wich-
tigsten Erfindungen nicht auf die erste, vorher be-
schriebene Weise, da man den Hauptgegenstand
sucht, sondern auf diese zweyte Weise entstanden,
da der Hauptgegenstand sich von ohngefehr zeiget,
und dem Künstler, der seine Wichtigkeit einsieht,
Gelegenheit giebt auf einen Jnhalt zu denken, wo
er in seinem rechten Licht könnte gesetzt werden.
So hat ein großer Tonsetzer mir bekannt, daß er
mehr als einmal Dinge, die er irgendwo im Vor-
beygang gehört, zum Thema oder Jnhalt eines
Tonstüks gemacht habe, das er selbst nie so gut wurd
erfunden haben, wenn er sich vorgesetzt hätte, et-
was zu suchen, das gerade den Charakter dieses
Ausdruks haben sollte.

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Erf

Deswegen muß der Künstler unaufhörlich an seine
Kunst denken, und sein Netz beständig, wo er im-
mer sey, ausgespannt halten, um jeden vorkommen-
den Gegenstand, der ihm brauchbar ist, einzufan-
gen und hernach Gebrauch davon zu machen, so
wie es Philopömen in Absicht auf die Kriegskunst
machte. (*) Voltaire, der so reich an glüklichen Ge-(*) S. Ein-
bildungs-
kraft S.
294.

danken ist, hatte beständig seine Schreibtafel bey der
Hand, um jedes dienliche, das er sah und hörte,
wo es immer seyn mochte, sogleich zum künftigen
Gebrauch aufzuschreiben. Eben so machen es viel
Mahler und Zeichner, die beständig Papier und
Bleystift bey sich tragen, da ihnen dann bisweilen
eine Wolke, bisweilen ein Mensch, den kein andrer
würd angesehen haben, zu Erfindung eines guten
Gemähldes Gelegenheit giebt. Auch ein mittel-
mäßiges Genie kann auf diese Weise zu sehr glükli-
chen Erfindungen kommen; wie aus vorhandenen
Beyspielen könnte gezeiget werden.

Dieses sind die zwey Hauptwege zu guten Origi-
nalerfindungen zu kommen: man kann aber auch
auf mehrerley Arten durch Nachahmungen erfinden.
Ein Gegenstand hat oft mehr als eine Seite, nach
der man ihn intressant findet. Wer also bey Be-
trachtung schon vorhandener Werke der Kunst, die
mehrern Seiten des Hauptgegenstandes erforschet,
kann auf Erfindungen kommen, wenn er die ganze
Sache aus einem andern Gesichtspunkt betrachtet.
Wer z. B. ein Gemählde von der Creuzigung Christi
vor sich hat, darin der Mahler zur Hauptabsicht
gehabt, die verschiedenen Eindrüke vorzustellen, die
diese Handlung auf die Freunde des Gekreuzigten
gemacht, so könnte er leicht auf den Einfall kommen,
die ganze Handlung in Absicht auf den Eindruk auf
seine Feinde zu behandeln, und um alles intressan-
ter zu machen, würde er hiezu den Augenblik wäh-
len, da das Wunder des Erdbebens dabey geschieht.
Die Erfindung wäre gut, und blos aus einer Art
der Nachahmung entstanden. Wer durch diesen
Weg erfinden will, der muß sich in den vor ihm lie-
genden Werken bestimmte Begriffe von der Erfin-
dung derselben, und von dem Zwek, dahin alles ab-
zielt, machen, und dann einen andern, wozu dieselbe
Materie mit gewissen Veränderungen sich eben so
gut schiket, entdeken. So geschieht es in der Mu-
sik gar oft, daß dieselben Sätze oder Gedanken, in
einer andern Bewegung oder in anderm Zeitmaaße,
sehr geschikt sind, ganz andre Empfindungen aus-

zudrü-

[Spaltenumbruch]

Erf
Umgang jedes, was ihm dienen kann. Stoͤßt er
von ohngefehr auf einen comiſchen Hauptcharakter,
ſo entſteht gleich die Begierde ihn zu brauchen, und
das Beſtreben eine Fabel auszudenken, in die er die-
ſen Charakter einweben koͤnnte. Auf dieſe Weiſe
hat jeder Kuͤnſtler, deſſen Geiſt ganz mit ſeinem Ge-
genſtand beſchaͤftiget iſt, uͤberall Veranlaſungen zur
Erfindung; ſelbſt die unbetraͤchtlichſten Dinge fuͤh-
ren ihn darauf. So geſteht Leonhard da Vinci,
daß er oft, aus Fleken an alten Mauren und Waͤn-
den, gute Gedanken erfunden habe. Er hat deswegen
kein Bedenken getragen, unter den wichtigen Beob-
achtungen uͤber die Kunſt dieſe gering ſcheinende
Sache in einem eigenen Abſchnitt vorzutragen.
„Wenn ihr, ſagt er, irgendwo eine beſtaͤubte fle-
kigte Mauer, oder bunte Steine mit mannigfaltigen
Adern ſeht, ſo werdet ihr bisweilen Dinge daran
finden, die ſich ſehr gut zu Gemaͤhlden ſchiken; Land-
ſchaften, Schlachten, Gewoͤlke, kuͤhne Stellungen,
auſſerordentliche Kopfſtellungen, Gewaͤnder und
mancherley Dinge dieſer Art. Dieſe ſeltſam durch
einander liegenden Gegenſtaͤnde ſind eine große Huͤlfe
zur Erfindung, und geben vielerley Zeichnungen und
(*) Traité
de la Point.
Ch. XVI.
neue Einfaͤlle zu Gemaͤhlden.‟ (*) Ohne Zweifel
iſt dieſes der gewoͤhnlichſte Weg zur Erfindung, daß
der Kuͤnſtler in den, ihm von ohngefehr aufſtoßenden
Gegenſtaͤnden, alles in ſeiner Kunſt brauchbare be-
merket. Man bewundert oft, wie die Kuͤnſtler
auf gewiſſe gluͤkliche Erfindungen haben kommen koͤn-
nen, und man glaubt, ſie muͤſſen ein auſſerordent-
lich gluͤkliches Genie zum Erfinden gehabt haben,
da doch, wenn man die eigentliche Geſchichte der Er-
findung wuͤßte, ſich zeigen wuͤrde, daß ein Zufall
ſie hervorgebracht hat. Vermuthlich ſind die wich-
tigſten Erfindungen nicht auf die erſte, vorher be-
ſchriebene Weiſe, da man den Hauptgegenſtand
ſucht, ſondern auf dieſe zweyte Weiſe entſtanden,
da der Hauptgegenſtand ſich von ohngefehr zeiget,
und dem Kuͤnſtler, der ſeine Wichtigkeit einſieht,
Gelegenheit giebt auf einen Jnhalt zu denken, wo
er in ſeinem rechten Licht koͤnnte geſetzt werden.
So hat ein großer Tonſetzer mir bekannt, daß er
mehr als einmal Dinge, die er irgendwo im Vor-
beygang gehoͤrt, zum Thema oder Jnhalt eines
Tonſtuͤks gemacht habe, das er ſelbſt nie ſo gut wurd
erfunden haben, wenn er ſich vorgeſetzt haͤtte, et-
was zu ſuchen, das gerade den Charakter dieſes
Ausdruks haben ſollte.

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Erf

Deswegen muß der Kuͤnſtler unaufhoͤrlich an ſeine
Kunſt denken, und ſein Netz beſtaͤndig, wo er im-
mer ſey, ausgeſpannt halten, um jeden vorkommen-
den Gegenſtand, der ihm brauchbar iſt, einzufan-
gen und hernach Gebrauch davon zu machen, ſo
wie es Philopoͤmen in Abſicht auf die Kriegskunſt
machte. (*) Voltaire, der ſo reich an gluͤklichen Ge-(*) S. Ein-
bildungs-
kraft S.
294.

danken iſt, hatte beſtaͤndig ſeine Schreibtafel bey der
Hand, um jedes dienliche, das er ſah und hoͤrte,
wo es immer ſeyn mochte, ſogleich zum kuͤnftigen
Gebrauch aufzuſchreiben. Eben ſo machen es viel
Mahler und Zeichner, die beſtaͤndig Papier und
Bleyſtift bey ſich tragen, da ihnen dann bisweilen
eine Wolke, bisweilen ein Menſch, den kein andrer
wuͤrd angeſehen haben, zu Erfindung eines guten
Gemaͤhldes Gelegenheit giebt. Auch ein mittel-
maͤßiges Genie kann auf dieſe Weiſe zu ſehr gluͤkli-
chen Erfindungen kommen; wie aus vorhandenen
Beyſpielen koͤnnte gezeiget werden.

Dieſes ſind die zwey Hauptwege zu guten Origi-
nalerfindungen zu kommen: man kann aber auch
auf mehrerley Arten durch Nachahmungen erfinden.
Ein Gegenſtand hat oft mehr als eine Seite, nach
der man ihn intreſſant findet. Wer alſo bey Be-
trachtung ſchon vorhandener Werke der Kunſt, die
mehrern Seiten des Hauptgegenſtandes erforſchet,
kann auf Erfindungen kommen, wenn er die ganze
Sache aus einem andern Geſichtspunkt betrachtet.
Wer z. B. ein Gemaͤhlde von der Creuzigung Chriſti
vor ſich hat, darin der Mahler zur Hauptabſicht
gehabt, die verſchiedenen Eindruͤke vorzuſtellen, die
dieſe Handlung auf die Freunde des Gekreuzigten
gemacht, ſo koͤnnte er leicht auf den Einfall kommen,
die ganze Handlung in Abſicht auf den Eindruk auf
ſeine Feinde zu behandeln, und um alles intreſſan-
ter zu machen, wuͤrde er hiezu den Augenblik waͤh-
len, da das Wunder des Erdbebens dabey geſchieht.
Die Erfindung waͤre gut, und blos aus einer Art
der Nachahmung entſtanden. Wer durch dieſen
Weg erfinden will, der muß ſich in den vor ihm lie-
genden Werken beſtimmte Begriffe von der Erfin-
dung derſelben, und von dem Zwek, dahin alles ab-
zielt, machen, und dann einen andern, wozu dieſelbe
Materie mit gewiſſen Veraͤnderungen ſich eben ſo
gut ſchiket, entdeken. So geſchieht es in der Mu-
ſik gar oft, daß dieſelben Saͤtze oder Gedanken, in
einer andern Bewegung oder in anderm Zeitmaaße,
ſehr geſchikt ſind, ganz andre Empfindungen aus-

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[338/0350] Erf Erf Umgang jedes, was ihm dienen kann. Stoͤßt er von ohngefehr auf einen comiſchen Hauptcharakter, ſo entſteht gleich die Begierde ihn zu brauchen, und das Beſtreben eine Fabel auszudenken, in die er die- ſen Charakter einweben koͤnnte. Auf dieſe Weiſe hat jeder Kuͤnſtler, deſſen Geiſt ganz mit ſeinem Ge- genſtand beſchaͤftiget iſt, uͤberall Veranlaſungen zur Erfindung; ſelbſt die unbetraͤchtlichſten Dinge fuͤh- ren ihn darauf. So geſteht Leonhard da Vinci, daß er oft, aus Fleken an alten Mauren und Waͤn- den, gute Gedanken erfunden habe. Er hat deswegen kein Bedenken getragen, unter den wichtigen Beob- achtungen uͤber die Kunſt dieſe gering ſcheinende Sache in einem eigenen Abſchnitt vorzutragen. „Wenn ihr, ſagt er, irgendwo eine beſtaͤubte fle- kigte Mauer, oder bunte Steine mit mannigfaltigen Adern ſeht, ſo werdet ihr bisweilen Dinge daran finden, die ſich ſehr gut zu Gemaͤhlden ſchiken; Land- ſchaften, Schlachten, Gewoͤlke, kuͤhne Stellungen, auſſerordentliche Kopfſtellungen, Gewaͤnder und mancherley Dinge dieſer Art. Dieſe ſeltſam durch einander liegenden Gegenſtaͤnde ſind eine große Huͤlfe zur Erfindung, und geben vielerley Zeichnungen und neue Einfaͤlle zu Gemaͤhlden.‟ (*) Ohne Zweifel iſt dieſes der gewoͤhnlichſte Weg zur Erfindung, daß der Kuͤnſtler in den, ihm von ohngefehr aufſtoßenden Gegenſtaͤnden, alles in ſeiner Kunſt brauchbare be- merket. Man bewundert oft, wie die Kuͤnſtler auf gewiſſe gluͤkliche Erfindungen haben kommen koͤn- nen, und man glaubt, ſie muͤſſen ein auſſerordent- lich gluͤkliches Genie zum Erfinden gehabt haben, da doch, wenn man die eigentliche Geſchichte der Er- findung wuͤßte, ſich zeigen wuͤrde, daß ein Zufall ſie hervorgebracht hat. Vermuthlich ſind die wich- tigſten Erfindungen nicht auf die erſte, vorher be- ſchriebene Weiſe, da man den Hauptgegenſtand ſucht, ſondern auf dieſe zweyte Weiſe entſtanden, da der Hauptgegenſtand ſich von ohngefehr zeiget, und dem Kuͤnſtler, der ſeine Wichtigkeit einſieht, Gelegenheit giebt auf einen Jnhalt zu denken, wo er in ſeinem rechten Licht koͤnnte geſetzt werden. So hat ein großer Tonſetzer mir bekannt, daß er mehr als einmal Dinge, die er irgendwo im Vor- beygang gehoͤrt, zum Thema oder Jnhalt eines Tonſtuͤks gemacht habe, das er ſelbſt nie ſo gut wurd erfunden haben, wenn er ſich vorgeſetzt haͤtte, et- was zu ſuchen, das gerade den Charakter dieſes Ausdruks haben ſollte. (*) Traité de la Point. Ch. XVI. Deswegen muß der Kuͤnſtler unaufhoͤrlich an ſeine Kunſt denken, und ſein Netz beſtaͤndig, wo er im- mer ſey, ausgeſpannt halten, um jeden vorkommen- den Gegenſtand, der ihm brauchbar iſt, einzufan- gen und hernach Gebrauch davon zu machen, ſo wie es Philopoͤmen in Abſicht auf die Kriegskunſt machte. (*) Voltaire, der ſo reich an gluͤklichen Ge- danken iſt, hatte beſtaͤndig ſeine Schreibtafel bey der Hand, um jedes dienliche, das er ſah und hoͤrte, wo es immer ſeyn mochte, ſogleich zum kuͤnftigen Gebrauch aufzuſchreiben. Eben ſo machen es viel Mahler und Zeichner, die beſtaͤndig Papier und Bleyſtift bey ſich tragen, da ihnen dann bisweilen eine Wolke, bisweilen ein Menſch, den kein andrer wuͤrd angeſehen haben, zu Erfindung eines guten Gemaͤhldes Gelegenheit giebt. Auch ein mittel- maͤßiges Genie kann auf dieſe Weiſe zu ſehr gluͤkli- chen Erfindungen kommen; wie aus vorhandenen Beyſpielen koͤnnte gezeiget werden. (*) S. Ein- bildungs- kraft S. 294. Dieſes ſind die zwey Hauptwege zu guten Origi- nalerfindungen zu kommen: man kann aber auch auf mehrerley Arten durch Nachahmungen erfinden. Ein Gegenſtand hat oft mehr als eine Seite, nach der man ihn intreſſant findet. Wer alſo bey Be- trachtung ſchon vorhandener Werke der Kunſt, die mehrern Seiten des Hauptgegenſtandes erforſchet, kann auf Erfindungen kommen, wenn er die ganze Sache aus einem andern Geſichtspunkt betrachtet. Wer z. B. ein Gemaͤhlde von der Creuzigung Chriſti vor ſich hat, darin der Mahler zur Hauptabſicht gehabt, die verſchiedenen Eindruͤke vorzuſtellen, die dieſe Handlung auf die Freunde des Gekreuzigten gemacht, ſo koͤnnte er leicht auf den Einfall kommen, die ganze Handlung in Abſicht auf den Eindruk auf ſeine Feinde zu behandeln, und um alles intreſſan- ter zu machen, wuͤrde er hiezu den Augenblik waͤh- len, da das Wunder des Erdbebens dabey geſchieht. Die Erfindung waͤre gut, und blos aus einer Art der Nachahmung entſtanden. Wer durch dieſen Weg erfinden will, der muß ſich in den vor ihm lie- genden Werken beſtimmte Begriffe von der Erfin- dung derſelben, und von dem Zwek, dahin alles ab- zielt, machen, und dann einen andern, wozu dieſelbe Materie mit gewiſſen Veraͤnderungen ſich eben ſo gut ſchiket, entdeken. So geſchieht es in der Mu- ſik gar oft, daß dieſelben Saͤtze oder Gedanken, in einer andern Bewegung oder in anderm Zeitmaaße, ſehr geſchikt ſind, ganz andre Empfindungen aus- zudruͤ-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/350>, abgerufen am 12.05.2024.