Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Erh die wir mit den alten Griechen und Römern, denfreyesten und in den Aeusserungen der Sinnesart ungehindertsten Völkern, haben, ersetzt werden. Wenn das Genie des Künstlers auf diese Weise Der Ausdruk des Erhabenen erfodert also noch Erh Erhabenen der Leidenschaften nöthig sey, empfindetman. Man vergleiche den Ausdruk in der angezo- genen sapphischen Ode, mit der künstlichen Wendung, die ein Neuerer gebraucht hat, eben dieselbe Leiden- schaft auszudrüken. Die fürtrefliche Scene zwischen Sir Carl Grandison und Miß Byron, die Richard- son im 19 und zwey solgenden Briefen des dritten Theils beschreibet, endiget sich damit, daß Sir Carl in dem Augenblike, da die zärtlichste Liebe zu Miß Byron auf dem Punkt eines völligen Ausbruchs war, plötzlich abbricht, und seine Geliebte verläßt. Jn diesem Augenblike war bey ihr die Liebe auch auf das höchste gestiegen, und dieses beschreibt sie in folgenden Worten. "Als er weg war, sah ich bald hier bald dorthin, als wenn ich mein Herz suchte; und dann verlohr ich auf einige Augenblicke die Be- wegung, als wenn ich es für unwiederbringlich ver- lohren hielte, und ward zur Statue." Man fühlt hier das Erhabene, wie in der Ode der Sappho; aber es wird doch durch das, was der Ausdruk schweeres hat, etwas verdunkelt. Durch hin und hergehende Blike sein Herz suchen, ist eine Me- tapher, die etwas schweeres und hartes hat. Alles was im Ausdruk schweer und gesucht ist, Das Erhabene der Empfindungen wird kräftiger hinein (+) Hoc admonere liceat verae simplicitatis atque natu- ralis pulchritudinis exemplum ex eo (Sapphus Odario) capi posse et debere. Nam prosecto si quis tantum vocabula sin- gula intelligat, nollo eget ad sensum interprete: adeo sunt omnia plana, verbisque ac sormulis in vita communi obviis [Spaltenumbruch] et juxta naturam usurpatis, descripta. Ipsae Metaphorae no- tissimae sunt, sed verba illa vitae communis rem clarissime signisicant; non enim circumloquendo haec tam graviter di- cere potuisset aut ullo modo assequi. Morus in Aunot. ad Long. C. X. §. 2. X x 2
[Spaltenumbruch] Erh die wir mit den alten Griechen und Roͤmern, denfreyeſten und in den Aeuſſerungen der Sinnesart ungehindertſten Voͤlkern, haben, erſetzt werden. Wenn das Genie des Kuͤnſtlers auf dieſe Weiſe Der Ausdruk des Erhabenen erfodert alſo noch Erh Erhabenen der Leidenſchaften noͤthig ſey, empfindetman. Man vergleiche den Ausdruk in der angezo- genen ſapphiſchen Ode, mit der kuͤnſtlichen Wendung, die ein Neuerer gebraucht hat, eben dieſelbe Leiden- ſchaft auszudruͤken. Die fuͤrtrefliche Scene zwiſchen Sir Carl Grandiſon und Miß Byron, die Richard- ſon im 19 und zwey ſolgenden Briefen des dritten Theils beſchreibet, endiget ſich damit, daß Sir Carl in dem Augenblike, da die zaͤrtlichſte Liebe zu Miß Byron auf dem Punkt eines voͤlligen Ausbruchs war, ploͤtzlich abbricht, und ſeine Geliebte verlaͤßt. Jn dieſem Augenblike war bey ihr die Liebe auch auf das hoͤchſte geſtiegen, und dieſes beſchreibt ſie in folgenden Worten. „Als er weg war, ſah ich bald hier bald dorthin, als wenn ich mein Herz ſuchte; und dann verlohr ich auf einige Augenblicke die Be- wegung, als wenn ich es fuͤr unwiederbringlich ver- lohren hielte, und ward zur Statue.‟ Man fuͤhlt hier das Erhabene, wie in der Ode der Sappho; aber es wird doch durch das, was der Ausdruk ſchweeres hat, etwas verdunkelt. Durch hin und hergehende Blike ſein Herz ſuchen, iſt eine Me- tapher, die etwas ſchweeres und hartes hat. Alles was im Ausdruk ſchweer und geſucht iſt, Das Erhabene der Empfindungen wird kraͤftiger hinein (†) Hoc admonere liceat veræ ſimplicitatis atque natu- ralis pulchritudinis exemplum ex eo (Sapphus Odario) capi poſſe et debere. Nam proſecto ſi quis tantum vocabula ſin- gula intelligat, nollo eget ad ſenſum interprete: adeo ſunt omnia plana, verbiſque ac ſormulis in vita communi obviis [Spaltenumbruch] et juxta naturam uſurpatis, deſcripta. Ipſæ Metaphoræ no- tiſſimæ ſunt, ſed verba illa vitæ communis rem clariſſime ſigniſicant; non enim circumloquendo hæc tam graviter di- cere potuiſſet aut ullo modo aſſequi. Morus in Aunot. ad Long. C. X. §. 2. X x 2
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Nur alsdenn, wenn der Kuͤnſtler durch<lb/> die Groͤße ſeiner Materie in Begeiſterung geſetzt<lb/> worden, wird das Erhabene, deſſen er faͤhig iſt, in<lb/> ſeinem Verſtand oder in ſeinem Herzen hervorbre-<lb/> chen. Hat er in dieſen Umſtaͤnden den Ausdruk,<lb/> nach Maaßgebung ſeiner Kunſt, in ſeiner Gewalt;<lb/> beſitzt er als ein Mahler die Zeichnung, als ein<lb/> Tonſetzer Harmonie und Geſang, als ein Redner<lb/> die Sprach, ſo thut alsdenn die Natur das uͤbrige.<lb/> Das wichtigſte iſt Erhaben zu denken und zu fuͤhlen;<lb/> nach dieſem aber muß man ſich auf eine den Sa-<lb/> chen angemeſſene Weiſe ausdruͤken koͤnnen. Es<lb/> kann etwas wuͤrklich Erhaben ſeyn, und durch die Art,<lb/> wie es ſich zeiget, oder durch das ſchwache Licht,<lb/> darin es erſcheint, merklich von ſeiner Groͤße ver-<lb/> lieren. 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Erh
Erh
die wir mit den alten Griechen und Roͤmern, den
freyeſten und in den Aeuſſerungen der Sinnesart
ungehindertſten Voͤlkern, haben, erſetzt werden.
Wenn das Genie des Kuͤnſtlers auf dieſe Weiſe
die Faͤhigkeit, ſich zum Erhabenen empor zuſchwin-
gen, bekommen hat, ſo muͤſſen in den beſondern
Faͤllen auch noch beſondere Urſachen vorhanden ſeyn,
die ihm eine ſtaͤrkere Reizbarkeit geben; denn große
Gedanken und Empfindungen entſtehen nur bey
wichtigen Veranlaſungen. Es iſt nicht moͤglich
uͤber kleine Sachen groß zu denken, noch bey gleich-
guͤltigen oder geringſchaͤtzigen Geſchaͤften groß zu
handeln. Nur alsdenn, wenn der Kuͤnſtler durch
die Groͤße ſeiner Materie in Begeiſterung geſetzt
worden, wird das Erhabene, deſſen er faͤhig iſt, in
ſeinem Verſtand oder in ſeinem Herzen hervorbre-
chen. Hat er in dieſen Umſtaͤnden den Ausdruk,
nach Maaßgebung ſeiner Kunſt, in ſeiner Gewalt;
beſitzt er als ein Mahler die Zeichnung, als ein
Tonſetzer Harmonie und Geſang, als ein Redner
die Sprach, ſo thut alsdenn die Natur das uͤbrige.
Das wichtigſte iſt Erhaben zu denken und zu fuͤhlen;
nach dieſem aber muß man ſich auf eine den Sa-
chen angemeſſene Weiſe ausdruͤken koͤnnen. Es
kann etwas wuͤrklich Erhaben ſeyn, und durch die Art,
wie es ſich zeiget, oder durch das ſchwache Licht,
darin es erſcheint, merklich von ſeiner Groͤße ver-
lieren. So wird in der ſo eben angefuͤhrten Stelle
aus der Medea das erhabene Moi, durch den Zu-
ſatz, Moi, vous dis-je, et c’eſt aſſez, wuͤrklich
geſchwaͤcht.
Der Ausdruk des Erhabenen erfodert alſo noch
eine beſondere Betrachtung. Longinus ſagt, man
erreiche ihn, wenn man von dem was zur Sache
gehoͤrt nur das Nothwendige, oder die weſentlichen
Theile mit guter Wahl ausſuche und wol verbin-
de (*); und ſein neueſter Ausleger hat ſehr gruͤnd-
lich angemerkt, daß der Ausdruk in der ſapphiſchen
Ode, die der griechiſche Kunſtrichter als ein Muſter
des Erhabenen anfuͤhret, durch ſeine Einfalt der
Groͤße der Sache voͤllig angemeſſen ſey. (†) Daß die
hoͤchſte Leichtigkeit und Einfalt des Ausdruks zum
Erhabenen der Leidenſchaften noͤthig ſey, empfindet
man. Man vergleiche den Ausdruk in der angezo-
genen ſapphiſchen Ode, mit der kuͤnſtlichen Wendung,
die ein Neuerer gebraucht hat, eben dieſelbe Leiden-
ſchaft auszudruͤken. Die fuͤrtrefliche Scene zwiſchen
Sir Carl Grandiſon und Miß Byron, die Richard-
ſon im 19 und zwey ſolgenden Briefen des dritten
Theils beſchreibet, endiget ſich damit, daß Sir Carl
in dem Augenblike, da die zaͤrtlichſte Liebe zu Miß
Byron auf dem Punkt eines voͤlligen Ausbruchs
war, ploͤtzlich abbricht, und ſeine Geliebte verlaͤßt.
Jn dieſem Augenblike war bey ihr die Liebe auch
auf das hoͤchſte geſtiegen, und dieſes beſchreibt ſie in
folgenden Worten. „Als er weg war, ſah ich bald
hier bald dorthin, als wenn ich mein Herz ſuchte;
und dann verlohr ich auf einige Augenblicke die Be-
wegung, als wenn ich es fuͤr unwiederbringlich ver-
lohren hielte, und ward zur Statue.‟ Man fuͤhlt
hier das Erhabene, wie in der Ode der Sappho;
aber es wird doch durch das, was der Ausdruk
ſchweeres hat, etwas verdunkelt. Durch hin und
hergehende Blike ſein Herz ſuchen, iſt eine Me-
tapher, die etwas ſchweeres und hartes hat.
(*) im X
Abſch.
Alles was im Ausdruk ſchweer und geſucht iſt,
was Witz und Kunſt verraͤth, iſt dem Erhabenen
entgegen; und wie in den ſittlichen Handlungen die-
jemgen, die groß denken, immer den geradeſten Weg
gehen, da kleinen Seelen liſtige Umwege natuͤrlich
ſind, ſo iſt es auch in den Kuͤnſten, wo das Schlaue
der großen Denkungsart entgegen iſt. Ein Gegen-
ſtand, der in ſeinem Weſen groß iſt, darf nur ge-
nennt, und ohne allen Schmuk in ein klares Licht
geſetzt werden, um einen ſtarken Eindruk zu machen;
wo von ſolchen die Rede iſt, da kann der Ausdruk
nicht einfach genug ſeyn, wie ſchon anderswo mit
mehrerm angemerkt worden. (*) Nur dann, wenn
der Gegenſtand auſſer dem Kreis unſrer klaren Vor-
ſtellungen liegt, muß ein wol uͤberlegter Ausdruk
ihn dem Geſichte naͤher bringen, wie bald ſoll ge-
zeiget werden.
(*) S. den
Art Bey-
wort auf
der 168. S.
Das Erhabene der Empfindungen wird kraͤftiger
ausgedruͤkt, wenn man uns gleichſam in die Seele
hinein
(†) Hoc admonere liceat veræ ſimplicitatis atque natu-
ralis pulchritudinis exemplum ex eo (Sapphus Odario) capi
poſſe et debere. Nam proſecto ſi quis tantum vocabula ſin-
gula intelligat, nollo eget ad ſenſum interprete: adeo ſunt
omnia plana, verbiſque ac ſormulis in vita communi obviis
et juxta naturam uſurpatis, deſcripta. Ipſæ Metaphoræ no-
tiſſimæ ſunt, ſed verba illa vitæ communis rem clariſſime
ſigniſicant; non enim circumloquendo hæc tam graviter di-
cere potuiſſet aut ullo modo aſſequi. Morus in Aunot. ad
Long. C. X. §. 2.
X x 2
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