Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Fab könnte, wie viele Beyspiele; nicht eine vorhandeneSache, die beschrieben wird, wie viele Gleichnisse. Wir wollen uns mit diesen drey Kennzeichen der Daß die Fabel nicht nothwendig einen allgemei- Die Absicht der Fabel ist eben die, die man bey Man weiß, daß Begriffe und Grundsätze bey den Aber die Fabel erwekt das Gefühl der Wahrheit Fab entfernter, reizt also die Aufmerksamkeit stärker, (*)(*) S. im[A]rt. Aehn- lichkeit die 14 Seite. und begleitet den Eindruk mit Vergnügen. Die Aesopische Fabel ist demnach ein Werk, wo- Sie scheinet in allen Absichten das vornehmste Man erzählet von einem Mann, der aus einem Sie
[Spaltenumbruch] Fab koͤnnte, wie viele Beyſpiele; nicht eine vorhandeneSache, die beſchrieben wird, wie viele Gleichniſſe. Wir wollen uns mit dieſen drey Kennzeichen der Daß die Fabel nicht nothwendig einen allgemei- Die Abſicht der Fabel iſt eben die, die man bey Man weiß, daß Begriffe und Grundſaͤtze bey den Aber die Fabel erwekt das Gefuͤhl der Wahrheit Fab entfernter, reizt alſo die Aufmerkſamkeit ſtaͤrker, (*)(*) S. im[A]rt. Aehn- lichkeit die 14 Seite. und begleitet den Eindruk mit Vergnuͤgen. Die Aeſopiſche Fabel iſt demnach ein Werk, wo- Sie ſcheinet in allen Abſichten das vornehmſte Man erzaͤhlet von einem Mann, der aus einem Sie
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Die aͤſopiſche Fabel von<lb/> den Froͤſchen und den Stieren diente blos, um die<lb/> Situation, in welchen ſich geringere Buͤrger befin-<lb/> den, wenn die Maͤchtigen ſich vermehren, recht<lb/> lebhaft abzuſchildern.</p><lb/> <p>Die Abſicht der Fabel iſt eben die, die man bey<lb/> allen Bildern hat; wichtige Begriffe und Vorſtel-<lb/> lungen dem anſchauenden Erkenntnis ſehr lebhaft<lb/> und mit großer aͤſthetiſcher Kraft vorzubilden. Sie<lb/> iſt ein Werk des Genies, das wegen der Aehnlich-<lb/> keit zwiſchen ſinnlichen Gegenſtaͤnden und abgezoge-<lb/><note place="left">(*) S.<lb/> Aehnlich-<lb/> keit. Alle-<lb/><supplied>go</supplied>rie, Bild.</note>nen Vorſtellungen Vergnuͤgen macht, (*) das die-<lb/> ſen Vorſtellungen eine Kraft giebt und das um ſo<lb/> viel ſchaͤtzbarer iſt, je wichtiger die Vorſtellung iſt,<lb/> die dadurch dem Geiſt nicht blos zum Anſchauen vor-<lb/> gehalten, ſondern gleichſam unausloͤſchlich einge-<lb/> praͤget wird.</p><lb/> <p>Man weiß, daß Begriffe und Grundſaͤtze bey den<lb/> Menſchen nicht praktiſch werden, als bis ſie dieſel-<lb/> ben nicht blos erkennen, ſondern fuͤhlen. Man<lb/> fuͤhlt aber die Wahrheit, wenn ſie als eine unmit-<lb/> telbare Wuͤrkung ſinnlicher Eindruͤke, nicht als auf-<lb/> ſer uns erkennt wird, ſondern dem Gemuͤthe gegen-<lb/> waͤrtig iſt. So ließ man in Sparta die Jugend<lb/> fuͤhlen, daß die Trunkenheit den Menſchen ernie-<lb/> driget, indem man ihr betrunkene Selaven vor das<lb/> Geſicht brachte. Auf eine aͤhnliche Weiſe laͤßt die<lb/> Fabel die Wahrheit empfinden.</p><lb/> <p>Aber die Fabel erwekt das Gefuͤhl der Wahrheit<lb/> weit lebhafter, als das Beyſpiel. Die Aehnlichkeit<lb/> zwiſchen dem Bild und dem Gegenbild iſt bey ihr<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Fab</hi></fw><lb/> entfernter, reizt alſo die Aufmerkſamkeit ſtaͤrker, (*)<note place="right">(*) S. im<lb/><supplied>A</supplied>rt. Aehn-<lb/> lichkeit die<lb/> 14 Seite.</note><lb/> und begleitet den Eindruk mit Vergnuͤgen.</p><lb/> <p>Die Aeſopiſche Fabel iſt demnach ein Werk, wo-<lb/> durch der Zwek der Kunſt auf die unmittelbarſte<lb/> und kraͤftigſte Weiſe erreicht wird. Sie iſt keines-<lb/> weges, wie ſie bisweilen vorgeſtellt wird, eine Er-<lb/> findung, Kindern die Wahrheit einzupraͤgen, ſondern<lb/> eine auch dem ſtaͤrkſten maͤnnlichen Geiſt angemeſſene<lb/> Nahrung. Aeſopus war ein Mann, und ſuchte<lb/> Maͤnner durch ſeine Fabeln zu belehren. Sie be-<lb/> ſchaͤftiget ſich nicht blos mit gemeinen Wahrheiten,<lb/> ſondern auch mit ſolchen, die nur durch vorzuͤgliche<lb/> Staͤrke des Verſtandes entdekt werden.</p><lb/> <p>Sie ſcheinet in allen Abſichten das vornehmſte<lb/> Mittel ſowol ſchon bekannte und leichte, als neue und<lb/> ſchweere praktiſche Wahrheiten der Vorſtellungskraft<lb/> einzuverleiben. Denn auſſer den Vortheilen, die ſie<lb/> mit allen Bildern gemein hat, beſitzt ſie noch eigene.<lb/> Durch das ſeltſame, neue und oft wunderbare, wird<lb/> die Aufmerkſamkeit und Neugierde gereizt. Durch<lb/> den fremden und auſſer unſern Angelegenheiten lie-<lb/> genden Geſichtspunkt, woraus wir die Handlung<lb/> ſehen, wird dem Gemuͤthe der Beyfall abgezwungen;<lb/> dem Vorurtheil und dem Selbſtbetrug wird der<lb/> Weg verſperret. Wir ſehen handelnde Weſen von<lb/> einer Art, daß wir weder fuͤr ſie, noch gegen ſie<lb/> eingenommen ſind; wir empfinden blos Neugierde<lb/> zu ſehen, wie ſie handeln, und faͤllen von dem was<lb/> wir ſehen, ein der Wahrheit gemaͤßes Urtheil, noch<lb/> ehe wir die Beziehung der Sachen auf uns ſelbſt<lb/> wahrnehmen. Wir ſehen ein Bild, gegen wel-<lb/> ches wir vollkommen unpartheyiſch ſind, faͤllen<lb/> ein unwiederrufliches Urtheil davon, und merken erſt<lb/> hernach, daß wir ſelbſt der Gegenſtand unſers Ur-<lb/> theils ſind.</p><lb/> <p>Man erzaͤhlet von einem Mann, der aus einem<lb/> ungegruͤndeten Widerwillen gegen ſeine Gemahlin,<lb/> ſie haͤßlich und unausſtehlich gefunden, daß er ploͤtz-<lb/> lich von dieſer Gemuͤthskrankheit geheilet worden,<lb/> nachdem er ſie in einer Geſellſchaft gefunden, wo<lb/> er ſie eine Zeitlang nicht gekennt und ſie ohne Vor-<lb/> urtheil, als eine ihm fremde Perſon beurtheilet hat.<lb/> Unter dieſer fremden Geſtalt fand er ſie ſchoͤn<lb/> und liebenswuͤrdig, und dieſes Urtheil konnt er<lb/> nicht einmal wiederrufen, nachdem er entdekt hatte,<lb/> daß es ſeine eigene Frau war. Dieſe Wuͤrkung<lb/> kann die Fabel ihres allegoriſchen Weſens halber<lb/> auf uns haben.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Sie</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [362/0374]
Fab
Fab
koͤnnte, wie viele Beyſpiele; nicht eine vorhandene
Sache, die beſchrieben wird, wie viele Gleichniſſe.
Wir wollen uns mit dieſen drey Kennzeichen der
Fabel begnuͤgen; da es ohne dem ein vergebliches
Bemuͤhen iſt, wenn man, durch allzu enge Beſtim-
mung der Begriffe von Werken der Kunſt, dem
Genie Schranken zu ſetzen ſucht.
Daß die Fabel nicht nothwendig einen allgemei-
nen Satz, oder eine Lehre enthalten muͤſſe, ſondern,
ohne ihre Natur zu veraͤndern, auch blos die genaue
Beſtimmung eines Begriffs, oder die Beſchaffenheit
einer Handlung ausdruͤke, erhellet hinlaͤnglich aus
dem einzigen Beyſpiel der Fabel, die der Profet Na-
than dem David erzaͤhlt, welche blos dienen ſollte,
dieſem Koͤnig einen ſehr einleuchtenden Begriff von
der ſchaͤndlichen Handlung, die er gegen den Urias
begangen hatte, zu geben. Die aͤſopiſche Fabel von
den Froͤſchen und den Stieren diente blos, um die
Situation, in welchen ſich geringere Buͤrger befin-
den, wenn die Maͤchtigen ſich vermehren, recht
lebhaft abzuſchildern.
Die Abſicht der Fabel iſt eben die, die man bey
allen Bildern hat; wichtige Begriffe und Vorſtel-
lungen dem anſchauenden Erkenntnis ſehr lebhaft
und mit großer aͤſthetiſcher Kraft vorzubilden. Sie
iſt ein Werk des Genies, das wegen der Aehnlich-
keit zwiſchen ſinnlichen Gegenſtaͤnden und abgezoge-
nen Vorſtellungen Vergnuͤgen macht, (*) das die-
ſen Vorſtellungen eine Kraft giebt und das um ſo
viel ſchaͤtzbarer iſt, je wichtiger die Vorſtellung iſt,
die dadurch dem Geiſt nicht blos zum Anſchauen vor-
gehalten, ſondern gleichſam unausloͤſchlich einge-
praͤget wird.
(*) S.
Aehnlich-
keit. Alle-
gorie, Bild.
Man weiß, daß Begriffe und Grundſaͤtze bey den
Menſchen nicht praktiſch werden, als bis ſie dieſel-
ben nicht blos erkennen, ſondern fuͤhlen. Man
fuͤhlt aber die Wahrheit, wenn ſie als eine unmit-
telbare Wuͤrkung ſinnlicher Eindruͤke, nicht als auf-
ſer uns erkennt wird, ſondern dem Gemuͤthe gegen-
waͤrtig iſt. So ließ man in Sparta die Jugend
fuͤhlen, daß die Trunkenheit den Menſchen ernie-
driget, indem man ihr betrunkene Selaven vor das
Geſicht brachte. Auf eine aͤhnliche Weiſe laͤßt die
Fabel die Wahrheit empfinden.
Aber die Fabel erwekt das Gefuͤhl der Wahrheit
weit lebhafter, als das Beyſpiel. Die Aehnlichkeit
zwiſchen dem Bild und dem Gegenbild iſt bey ihr
entfernter, reizt alſo die Aufmerkſamkeit ſtaͤrker, (*)
und begleitet den Eindruk mit Vergnuͤgen.
(*) S. im
Art. Aehn-
lichkeit die
14 Seite.
Die Aeſopiſche Fabel iſt demnach ein Werk, wo-
durch der Zwek der Kunſt auf die unmittelbarſte
und kraͤftigſte Weiſe erreicht wird. Sie iſt keines-
weges, wie ſie bisweilen vorgeſtellt wird, eine Er-
findung, Kindern die Wahrheit einzupraͤgen, ſondern
eine auch dem ſtaͤrkſten maͤnnlichen Geiſt angemeſſene
Nahrung. Aeſopus war ein Mann, und ſuchte
Maͤnner durch ſeine Fabeln zu belehren. Sie be-
ſchaͤftiget ſich nicht blos mit gemeinen Wahrheiten,
ſondern auch mit ſolchen, die nur durch vorzuͤgliche
Staͤrke des Verſtandes entdekt werden.
Sie ſcheinet in allen Abſichten das vornehmſte
Mittel ſowol ſchon bekannte und leichte, als neue und
ſchweere praktiſche Wahrheiten der Vorſtellungskraft
einzuverleiben. Denn auſſer den Vortheilen, die ſie
mit allen Bildern gemein hat, beſitzt ſie noch eigene.
Durch das ſeltſame, neue und oft wunderbare, wird
die Aufmerkſamkeit und Neugierde gereizt. Durch
den fremden und auſſer unſern Angelegenheiten lie-
genden Geſichtspunkt, woraus wir die Handlung
ſehen, wird dem Gemuͤthe der Beyfall abgezwungen;
dem Vorurtheil und dem Selbſtbetrug wird der
Weg verſperret. Wir ſehen handelnde Weſen von
einer Art, daß wir weder fuͤr ſie, noch gegen ſie
eingenommen ſind; wir empfinden blos Neugierde
zu ſehen, wie ſie handeln, und faͤllen von dem was
wir ſehen, ein der Wahrheit gemaͤßes Urtheil, noch
ehe wir die Beziehung der Sachen auf uns ſelbſt
wahrnehmen. Wir ſehen ein Bild, gegen wel-
ches wir vollkommen unpartheyiſch ſind, faͤllen
ein unwiederrufliches Urtheil davon, und merken erſt
hernach, daß wir ſelbſt der Gegenſtand unſers Ur-
theils ſind.
Man erzaͤhlet von einem Mann, der aus einem
ungegruͤndeten Widerwillen gegen ſeine Gemahlin,
ſie haͤßlich und unausſtehlich gefunden, daß er ploͤtz-
lich von dieſer Gemuͤthskrankheit geheilet worden,
nachdem er ſie in einer Geſellſchaft gefunden, wo
er ſie eine Zeitlang nicht gekennt und ſie ohne Vor-
urtheil, als eine ihm fremde Perſon beurtheilet hat.
Unter dieſer fremden Geſtalt fand er ſie ſchoͤn
und liebenswuͤrdig, und dieſes Urtheil konnt er
nicht einmal wiederrufen, nachdem er entdekt hatte,
daß es ſeine eigene Frau war. Dieſe Wuͤrkung
kann die Fabel ihres allegoriſchen Weſens halber
auf uns haben.
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