Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Fab Sie gehört zu den lehrenden Gedichten, und nihmt Aus dem, was von dem Wesen und der Absicht Jn Ansehung der Erfindung ist die Fabel vollkom- Fab Schikliche in der Lebensart abzielen: einige sindnur in Beziehung auf das privat Jntresse der Men- schen wichtig; andre sind wichtige politische Mari- men; einige haben Einfluß auf die äussere Wolfarth der Menschen; andre zielen auf innere Vollkommen- heit und eine Erhöhung des Geistes und des Her- zens ab. Also kann die Fabel in Ansehung ihres Werths auf jeder Stufe der Werke des Geschmaks stehen; von dem untersten Grad der blos belustigen- den bis auf den höchsten Stafel der, dem ganzen menschlichen Geschlecht wichtigen Werke. Die Voll- kommenheit der Erfindung muß aus der Gattung, wozu sie gehört, und aus der Absicht des Dichters beurtheilt werden. Der Fabeldichter hat bisweilen kei- ne höheren Absichten, als der witzige Epigrammatist, da ein andrer sich auf den höchsten Rang des epi- schen oder lyrischen Dichters zu erheben sucht. Die Erfindung oder Festsetzung der Moral der Fabel erfodert bisweilen blos einen witzigen Kopf, andre- male einen gemeinen, aber richtig urtheilenden Mo- ralisten; sie kann aber auch einen sehr tief und groß denkenden Philosophen oder Staatsmann erfodern. 2) Zu einer vollkommenen Erfindung der Fabel Allge- (+) Wem diese Anmerkungen, woraus die große Wich- tigkeit der Fabel einleuchtend soll erkennt werden, noch nicht überzeugend genug sind, den verweisen wir auf zwey Ab- handlungen, die in den Schriften der Königl. Academie der Wissenschaften zu Berlin befindlich sind, wo das, was hier blos angezeiget wird, ausführlicher erklärt worden. [Spaltenumbruch] Man sehe in den Memoires de l'Academie für das Jahr 1758. in der Abhandlung, Analyse de la raison betitelt, die 440 Seite; und in den Memoires für das Jahr 1767. die Ab- handlung sur l'Influenc reciproque du laugage sur la raison et de la raison sur le langage. Z z 2
[Spaltenumbruch]
Fab Sie gehoͤrt zu den lehrenden Gedichten, und nihmt Aus dem, was von dem Weſen und der Abſicht Jn Anſehung der Erfindung iſt die Fabel vollkom- Fab Schikliche in der Lebensart abzielen: einige ſindnur in Beziehung auf das privat Jntreſſe der Men- ſchen wichtig; andre ſind wichtige politiſche Mari- men; einige haben Einfluß auf die aͤuſſere Wolfarth der Menſchen; andre zielen auf innere Vollkommen- heit und eine Erhoͤhung des Geiſtes und des Her- zens ab. Alſo kann die Fabel in Anſehung ihres Werths auf jeder Stufe der Werke des Geſchmaks ſtehen; von dem unterſten Grad der blos beluſtigen- den bis auf den hoͤchſten Stafel der, dem ganzen menſchlichen Geſchlecht wichtigen Werke. Die Voll- kommenheit der Erfindung muß aus der Gattung, wozu ſie gehoͤrt, und aus der Abſicht des Dichters beurtheilt werden. Der Fabeldichter hat bisweilen kei- ne hoͤheren Abſichten, als der witzige Epigrammatiſt, da ein andrer ſich auf den hoͤchſten Rang des epi- ſchen oder lyriſchen Dichters zu erheben ſucht. Die Erfindung oder Feſtſetzung der Moral der Fabel erfodert bisweilen blos einen witzigen Kopf, andre- male einen gemeinen, aber richtig urtheilenden Mo- raliſten; ſie kann aber auch einen ſehr tief und groß denkenden Philoſophen oder Staatsmann erfodern. 2) Zu einer vollkommenen Erfindung der Fabel Allge- (†) Wem dieſe Anmerkungen, woraus die große Wich- tigkeit der Fabel einleuchtend ſoll erkennt werden, noch nicht uͤberzeugend genug ſind, den verweiſen wir auf zwey Ab- handlungen, die in den Schriften der Koͤnigl. Academie der Wiſſenſchaften zu Berlin befindlich ſind, wo das, was hier blos angezeiget wird, ausfuͤhrlicher erklaͤrt worden. [Spaltenumbruch] Man ſehe in den Memoires de l’Academie fuͤr das Jahr 1758. in der Abhandlung, Analyſe de la raiſon betitelt, die 440 Seite; und in den Memoires fuͤr das Jahr 1767. die Ab- handlung ſur l’Influenc reciproque du laugage ſur la raiſon et de la raiſon ſur le langage. Z z 2
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Fab
Fab
Sie gehoͤrt zu den lehrenden Gedichten, und nihmt
unter ihnen einen deſto hoͤhern Rang ein, je wich-
tiger die Wahrheit iſt, die ſie dem Gemuͤth ein-
praͤget. Fabeln von moraliſchem und politiſchem
Jnhalt, die unter einem Volke ſo allgemein be-
kannt waͤren, als die gemeinen Spruͤchwoͤrter ſind,
koͤnnten das Nachdenken und Reden uͤber ſittliche
und politiſche Gegenſtaͤnde ſehr erleichtern und ab-
kuͤrzen. Die bloße Erinnerung an eine Fabel kann
die Stelle einer langen Rede vertreten. So wie
gluͤkliche metaphoriſche Ausdruͤke weitlaͤuftige Be-
ſchreibungen erſparen, ſo kann oft ein Wort, das
uns eine Fabel in den Sinn bringt, die Stelle ei-
ner weitlaͤuftigen Belehrung vertreten. Wenn man
uͤberhaupt bedenkt, wie ſehr viel die Vernunft durch
die Cultur der Sprachen gewinnt,
(†) ſo wird man
auch einleuchtend erkennen, daß dieſe Dichtart der-
ſelben noch weit groͤſſere Vortheile verſchaffen kann,
indem eine Fabel, die an ſich die Stelle einer weit-
laͤuftigen Abhandlung vertreten kann, durch ein ein-
ziges Wort in der Vorſtellungskraft lebhaft erneuert
werden kann,
Aus dem, was von dem Weſen und der Abſicht
der Fabel geſagt worden, laͤßt ſich auch beſtimmen,
wie ſie beſchaffen ſeyn muͤſſe, um vollkommen zu
ſeyn. Dieſes verdienet etwas umſtaͤndlich angezei-
get zu werden.
Jn Anſehung der Erfindung iſt die Fabel vollkom-
men, wenn ſie zwey Eigenſchaften hat. 1) Wenn
die Vorſtellung die ſie erwekt, der Geiſt der Fabel,
der insgemein die Moral derſelben genennt wird, voͤl-
lig beſtimmt, ſehr klar, und denen, fuͤr welche die Fabel
erfunden worden, wichtig iſt. Was ganz beſtimmte
und klare Begriffe oder Saͤtze ſeyen, darf hier nicht
erklaͤrt werden; ihre Wichtigkeit aber iſt aus dem
Einfluß zu beurtheilen, die ſie auf die Handlungen
der Menſchen haben koͤnnen. Es giebt Fabeln,
deren Moral blos beluſtigend iſt, indem ſie gewiſſe
Charaktere oder Handlungen, die laͤcherlich ſind, in
einem recht comiſchen Lichte zeigen; andre enthalten
Wahrheiten, die blos auf das Wolanſtaͤndige und
Schikliche in der Lebensart abzielen: einige ſind
nur in Beziehung auf das privat Jntreſſe der Men-
ſchen wichtig; andre ſind wichtige politiſche Mari-
men; einige haben Einfluß auf die aͤuſſere Wolfarth
der Menſchen; andre zielen auf innere Vollkommen-
heit und eine Erhoͤhung des Geiſtes und des Her-
zens ab. Alſo kann die Fabel in Anſehung ihres
Werths auf jeder Stufe der Werke des Geſchmaks
ſtehen; von dem unterſten Grad der blos beluſtigen-
den bis auf den hoͤchſten Stafel der, dem ganzen
menſchlichen Geſchlecht wichtigen Werke. Die Voll-
kommenheit der Erfindung muß aus der Gattung,
wozu ſie gehoͤrt, und aus der Abſicht des Dichters
beurtheilt werden. Der Fabeldichter hat bisweilen kei-
ne hoͤheren Abſichten, als der witzige Epigrammatiſt,
da ein andrer ſich auf den hoͤchſten Rang des epi-
ſchen oder lyriſchen Dichters zu erheben ſucht. Die
Erfindung oder Feſtſetzung der Moral der Fabel
erfodert bisweilen blos einen witzigen Kopf, andre-
male einen gemeinen, aber richtig urtheilenden Mo-
raliſten; ſie kann aber auch einen ſehr tief und groß
denkenden Philoſophen oder Staatsmann erfodern.
2) Zu einer vollkommenen Erfindung der Fabel
gehoͤrt hiernaͤchſt die voͤllige Aehnlichkeit zwiſchen
dem Bild und dem Gegenbild, das iſt, die Handlung,
welche erzaͤhlt wird, muß die darin liegende Moral
auf das vollkommenſte und beſtimmteſte zu erkennen
geben. Von der voͤlligen Aehnlichkeit des Bildes
und Gegenbildes iſt anderswo hinlaͤnglich geſprochen
worden (*); und aus dem, was dort hieruͤber ge-
ſagt worden iſt, laͤßt ſich auch erkennen, daß die
Erfindung der Fabel das Werk eines gluͤklichen Ge-
nies ſey; daher man ſich nicht wundern darf, daß
vollkommene Fabeln etwas ſelten vorkommen. Bis-
weilen aber iſt es auch, bey der vollkommenſten Aehn-
lichkeit zwiſchen dem Bild und Gegenbild, dennoch
noͤthig, daß die Moral wenigſiens durch einen Wink
angezeiget werde, weil es ſonſt nicht wol moͤglich
iſt, ſie beſtimmt genug zu errathen; zumal wenn
das Gegenbild ſelbſt nur ein beſonderer Fall iſt, aus
welchem denn erſt durch einen zweyten Schritt das
Allge-
(*) in den
Artikeln
Allegorie
und Bild.
(†) Wem dieſe Anmerkungen, woraus die große Wich-
tigkeit der Fabel einleuchtend ſoll erkennt werden, noch nicht
uͤberzeugend genug ſind, den verweiſen wir auf zwey Ab-
handlungen, die in den Schriften der Koͤnigl. Academie
der Wiſſenſchaften zu Berlin befindlich ſind, wo das, was
hier blos angezeiget wird, ausfuͤhrlicher erklaͤrt worden.
Man ſehe in den Memoires de l’Academie fuͤr das Jahr
1758. in der Abhandlung, Analyſe de la raiſon betitelt, die 440
Seite; und in den Memoires fuͤr das Jahr 1767. die Ab-
handlung ſur l’Influenc reciproque du laugage ſur la raiſon
et de la raiſon ſur le langage.
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