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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Fal
ziehen. Die Werke der Kunst stellen uns meisten-
theils Gegenstände, die des Künstlers Phantasie ge-
schaffen hat, als würklich vorhanden dar; die Wür-
kung, die sein Werk auf uns haben soll, kommt
großentheils von der Täuschung her, die uns den
erdichteten Gegenstand als würklich vorstellt: Be-
merken wir hier und da etwas Falsches, so empfin-
den wir, daß der Gegenstand nicht würklich ist.
Der lyrische Dichter bildet uns Empfindungen vor,
die gewiße Gegenstände in ihm rege gemacht haben,
und dadurch reizt er uns, daß wir uns in dieselben
Empfindungen setzen; so bald wir aber etwas Fal-
sches entdecken, es sey in dem Gegenstand oder in
seinen Empfindungen, so verschwindet die Täuschung,
und wir bleiben kalt.

Darum muß in den Werken der Kunst alles wahr,
alles nach unsern Vorstellungen und Empfindungen
möglich, und, wenn es die größte Kraft haben soll,
natürlich, oder gar nothwendig seyn.

Dieses erreicht nur der Künstler, dessen Genie
stark genug, und dessen Kenntnis und Erfahrung
groß genug ist, seinen Vorstellungen und Empfin-
dungen den Grad der Klarheit und der Ausdähnung
zu geben, daß er alles, was zur Beschaffenheit der
Dinge gehört, klar und bestimmt sieht oder em-
pfindet.

Liegt das Falsche in dem Wesentlichen des Werks,
so wird das ganze Werk schlecht und unbrauchbar;
liegt es aber nur in Nebensachen, so bekömmt es
dadurch Flecken und Fehler, die seinen Werth und
den Eindruck, den es machen soll, vermindern.
Das Falsche kömmt entweder aus einem Mangel
des Genies, oder der Aufmerksamkeit her. Wer
nicht vermögend ist, seinen klaren Vorstellungen
eine hinlängliche Ausdähnung zu geben, um das
einzele darin richtig zu sehen, oder wer zu nachläßig
ist, in besondern Fällen dieses zu thun, der läuft
allemal Gefahr, falsch zu fassen, oder falsch zu
empfinden.

Falsch.
(Musik.)

Man nennt im uneigentlichen Sinn einige Jnter-
valle falsch, nicht als ob sie fehlerhaft wären, son-
dern blos deswegen, weil der Name, den sie be-
kommen, sich eigentlich nicht für sie schiket. So
hat man einem gewißen Jntervall den Namen der
falschen Quinte gegeben, weil es, wie die eigentliche
[Spaltenumbruch]

Fal
Quinte, aus vier diatonischen Graden besteht, ob
es gleich keine würkliche Quinte macht, sondern dißo-
nirt. So ist auf unsrer Tonleiter das Jntervall
H-f eine falsche Quinte, weil es nur aus zwey gan-
zen, (dem großen und kleinen) Tönen c-d, d-e,
und zwey halben Tönen, H-c, e-f besteht, da
die wahre Quinte aus drey ganzen und einem hal-
ben Ton zusammengesezt ist.

Das eigentliche Verhältnis der falschen Quinte
ist 45:64, und wird in der Umkehrung (*) zum(*) S. Um-
kehrung.

Tritonus, dessen Verhältnis 32:45 ist.

Auf eine ähnliche Art bekommen auch andre Jn-
tervalle Namen, die ihnen eigentlich nicht zukom-
men, weil sie ihrer Natur nach die wahren Ver-
hältniße der Jntervalle, deren Namen sie tragen,
nicht haben, noch so, wie sie, können gebraucht
werden. So giebt man allen übermäßigen (*)(*) S.
Uebermäs-
siig.

und verminderten Jntervallen, die Namen der rei-
nen Jntervalle, aus denen sie entstehen, und da-
her entstehen falsche Terzen, Quarten, Serten und
Oktaven. Der Tritonus ist eine falsche, oder über-
mäßige Quarte, weil er, ob er gleich auf der vier-
ten Stufe von seinem Fundament steht, wie f-h,
um einen halben Ton höher ist, als die wahre
Quarte.

Gewöhnlich aber giebt man nur der erwähnten
kleinen Quinte den Beynamen falsch, indem man
die andern Jntervalle, die von den reinen abweichen,
durch die Beywörter übermäßig oder vermindert be-
zeichnet. Von dieser falschen Quinte hat auch der
Quint-Serten-Accord, darin sie vorkommt, den
Namen des Accords der falschen Quinte. Dieser
Accord kömmt auf der großen Septime des Tones,
in welchen man schließen will, vor, wie hier:

[Abbildung]

und die Quinte darin tritt immer in der Auflösung
einen Grad unter sich, da der Baß nothwendig in
den nächsten halben Ton über sich schließen muß.
Diese Regel leidet nach der Natur der Sache keine
Ausnahme, weil jedes Subsemitonium auf den
Ton darüber leitet.

Wenn

[Spaltenumbruch]

Fal
ziehen. Die Werke der Kunſt ſtellen uns meiſten-
theils Gegenſtaͤnde, die des Kuͤnſtlers Phantaſie ge-
ſchaffen hat, als wuͤrklich vorhanden dar; die Wuͤr-
kung, die ſein Werk auf uns haben ſoll, kommt
großentheils von der Taͤuſchung her, die uns den
erdichteten Gegenſtand als wuͤrklich vorſtellt: Be-
merken wir hier und da etwas Falſches, ſo empfin-
den wir, daß der Gegenſtand nicht wuͤrklich iſt.
Der lyriſche Dichter bildet uns Empfindungen vor,
die gewiße Gegenſtaͤnde in ihm rege gemacht haben,
und dadurch reizt er uns, daß wir uns in dieſelben
Empfindungen ſetzen; ſo bald wir aber etwas Fal-
ſches entdecken, es ſey in dem Gegenſtand oder in
ſeinen Empfindungen, ſo verſchwindet die Taͤuſchung,
und wir bleiben kalt.

Darum muß in den Werken der Kunſt alles wahr,
alles nach unſern Vorſtellungen und Empfindungen
moͤglich, und, wenn es die groͤßte Kraft haben ſoll,
natuͤrlich, oder gar nothwendig ſeyn.

Dieſes erreicht nur der Kuͤnſtler, deſſen Genie
ſtark genug, und deſſen Kenntnis und Erfahrung
groß genug iſt, ſeinen Vorſtellungen und Empfin-
dungen den Grad der Klarheit und der Ausdaͤhnung
zu geben, daß er alles, was zur Beſchaffenheit der
Dinge gehoͤrt, klar und beſtimmt ſieht oder em-
pfindet.

Liegt das Falſche in dem Weſentlichen des Werks,
ſo wird das ganze Werk ſchlecht und unbrauchbar;
liegt es aber nur in Nebenſachen, ſo bekoͤmmt es
dadurch Flecken und Fehler, die ſeinen Werth und
den Eindruck, den es machen ſoll, vermindern.
Das Falſche koͤmmt entweder aus einem Mangel
des Genies, oder der Aufmerkſamkeit her. Wer
nicht vermoͤgend iſt, ſeinen klaren Vorſtellungen
eine hinlaͤngliche Ausdaͤhnung zu geben, um das
einzele darin richtig zu ſehen, oder wer zu nachlaͤßig
iſt, in beſondern Faͤllen dieſes zu thun, der laͤuft
allemal Gefahr, falſch zu faſſen, oder falſch zu
empfinden.

Falſch.
(Muſik.)

Man nennt im uneigentlichen Sinn einige Jnter-
valle falſch, nicht als ob ſie fehlerhaft waͤren, ſon-
dern blos deswegen, weil der Name, den ſie be-
kommen, ſich eigentlich nicht fuͤr ſie ſchiket. So
hat man einem gewißen Jntervall den Namen der
falſchen Quinte gegeben, weil es, wie die eigentliche
[Spaltenumbruch]

Fal
Quinte, aus vier diatoniſchen Graden beſteht, ob
es gleich keine wuͤrkliche Quinte macht, ſondern dißo-
nirt. So iſt auf unſrer Tonleiter das Jntervall
H-f eine falſche Quinte, weil es nur aus zwey gan-
zen, (dem großen und kleinen) Toͤnen c-d, d-e,
und zwey halben Toͤnen, H-c, e-f beſteht, da
die wahre Quinte aus drey ganzen und einem hal-
ben Ton zuſammengeſezt iſt.

Das eigentliche Verhaͤltnis der falſchen Quinte
iſt 45:64, und wird in der Umkehrung (*) zum(*) S. Um-
kehrung.

Tritonus, deſſen Verhaͤltnis 32:45 iſt.

Auf eine aͤhnliche Art bekommen auch andre Jn-
tervalle Namen, die ihnen eigentlich nicht zukom-
men, weil ſie ihrer Natur nach die wahren Ver-
haͤltniße der Jntervalle, deren Namen ſie tragen,
nicht haben, noch ſo, wie ſie, koͤnnen gebraucht
werden. So giebt man allen uͤbermaͤßigen (*)(*) S.
Uebermaͤſ-
ſiig.

und verminderten Jntervallen, die Namen der rei-
nen Jntervalle, aus denen ſie entſtehen, und da-
her entſtehen falſche Terzen, Quarten, Serten und
Oktaven. Der Tritonus iſt eine falſche, oder uͤber-
maͤßige Quarte, weil er, ob er gleich auf der vier-
ten Stufe von ſeinem Fundament ſteht, wie f-h,
um einen halben Ton hoͤher iſt, als die wahre
Quarte.

Gewoͤhnlich aber giebt man nur der erwaͤhnten
kleinen Quinte den Beynamen falſch, indem man
die andern Jntervalle, die von den reinen abweichen,
durch die Beywoͤrter uͤbermaͤßig oder vermindert be-
zeichnet. Von dieſer falſchen Quinte hat auch der
Quint-Serten-Accord, darin ſie vorkommt, den
Namen des Accords der falſchen Quinte. Dieſer
Accord koͤmmt auf der großen Septime des Tones,
in welchen man ſchließen will, vor, wie hier:

[Abbildung]

und die Quinte darin tritt immer in der Aufloͤſung
einen Grad unter ſich, da der Baß nothwendig in
den naͤchſten halben Ton uͤber ſich ſchließen muß.
Dieſe Regel leidet nach der Natur der Sache keine
Ausnahme, weil jedes Subſemitonium auf den
Ton daruͤber leitet.

Wenn
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[366/0378] Fal Fal ziehen. Die Werke der Kunſt ſtellen uns meiſten- theils Gegenſtaͤnde, die des Kuͤnſtlers Phantaſie ge- ſchaffen hat, als wuͤrklich vorhanden dar; die Wuͤr- kung, die ſein Werk auf uns haben ſoll, kommt großentheils von der Taͤuſchung her, die uns den erdichteten Gegenſtand als wuͤrklich vorſtellt: Be- merken wir hier und da etwas Falſches, ſo empfin- den wir, daß der Gegenſtand nicht wuͤrklich iſt. Der lyriſche Dichter bildet uns Empfindungen vor, die gewiße Gegenſtaͤnde in ihm rege gemacht haben, und dadurch reizt er uns, daß wir uns in dieſelben Empfindungen ſetzen; ſo bald wir aber etwas Fal- ſches entdecken, es ſey in dem Gegenſtand oder in ſeinen Empfindungen, ſo verſchwindet die Taͤuſchung, und wir bleiben kalt. Darum muß in den Werken der Kunſt alles wahr, alles nach unſern Vorſtellungen und Empfindungen moͤglich, und, wenn es die groͤßte Kraft haben ſoll, natuͤrlich, oder gar nothwendig ſeyn. Dieſes erreicht nur der Kuͤnſtler, deſſen Genie ſtark genug, und deſſen Kenntnis und Erfahrung groß genug iſt, ſeinen Vorſtellungen und Empfin- dungen den Grad der Klarheit und der Ausdaͤhnung zu geben, daß er alles, was zur Beſchaffenheit der Dinge gehoͤrt, klar und beſtimmt ſieht oder em- pfindet. Liegt das Falſche in dem Weſentlichen des Werks, ſo wird das ganze Werk ſchlecht und unbrauchbar; liegt es aber nur in Nebenſachen, ſo bekoͤmmt es dadurch Flecken und Fehler, die ſeinen Werth und den Eindruck, den es machen ſoll, vermindern. Das Falſche koͤmmt entweder aus einem Mangel des Genies, oder der Aufmerkſamkeit her. Wer nicht vermoͤgend iſt, ſeinen klaren Vorſtellungen eine hinlaͤngliche Ausdaͤhnung zu geben, um das einzele darin richtig zu ſehen, oder wer zu nachlaͤßig iſt, in beſondern Faͤllen dieſes zu thun, der laͤuft allemal Gefahr, falſch zu faſſen, oder falſch zu empfinden. Falſch. (Muſik.) Man nennt im uneigentlichen Sinn einige Jnter- valle falſch, nicht als ob ſie fehlerhaft waͤren, ſon- dern blos deswegen, weil der Name, den ſie be- kommen, ſich eigentlich nicht fuͤr ſie ſchiket. So hat man einem gewißen Jntervall den Namen der falſchen Quinte gegeben, weil es, wie die eigentliche Quinte, aus vier diatoniſchen Graden beſteht, ob es gleich keine wuͤrkliche Quinte macht, ſondern dißo- nirt. So iſt auf unſrer Tonleiter das Jntervall H-f eine falſche Quinte, weil es nur aus zwey gan- zen, (dem großen und kleinen) Toͤnen c-d, d-e, und zwey halben Toͤnen, H-c, e-f beſteht, da die wahre Quinte aus drey ganzen und einem hal- ben Ton zuſammengeſezt iſt. Das eigentliche Verhaͤltnis der falſchen Quinte iſt 45:64, und wird in der Umkehrung (*) zum Tritonus, deſſen Verhaͤltnis 32:45 iſt. (*) S. Um- kehrung. Auf eine aͤhnliche Art bekommen auch andre Jn- tervalle Namen, die ihnen eigentlich nicht zukom- men, weil ſie ihrer Natur nach die wahren Ver- haͤltniße der Jntervalle, deren Namen ſie tragen, nicht haben, noch ſo, wie ſie, koͤnnen gebraucht werden. So giebt man allen uͤbermaͤßigen (*) und verminderten Jntervallen, die Namen der rei- nen Jntervalle, aus denen ſie entſtehen, und da- her entſtehen falſche Terzen, Quarten, Serten und Oktaven. Der Tritonus iſt eine falſche, oder uͤber- maͤßige Quarte, weil er, ob er gleich auf der vier- ten Stufe von ſeinem Fundament ſteht, wie f-h, um einen halben Ton hoͤher iſt, als die wahre Quarte. (*) S. Uebermaͤſ- ſiig. Gewoͤhnlich aber giebt man nur der erwaͤhnten kleinen Quinte den Beynamen falſch, indem man die andern Jntervalle, die von den reinen abweichen, durch die Beywoͤrter uͤbermaͤßig oder vermindert be- zeichnet. Von dieſer falſchen Quinte hat auch der Quint-Serten-Accord, darin ſie vorkommt, den Namen des Accords der falſchen Quinte. Dieſer Accord koͤmmt auf der großen Septime des Tones, in welchen man ſchließen will, vor, wie hier: [Abbildung] und die Quinte darin tritt immer in der Aufloͤſung einen Grad unter ſich, da der Baß nothwendig in den naͤchſten halben Ton uͤber ſich ſchließen muß. Dieſe Regel leidet nach der Natur der Sache keine Ausnahme, weil jedes Subſemitonium auf den Ton daruͤber leitet. Wenn

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/378>, abgerufen am 22.11.2024.