Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Fab Also ist die Fabel nicht die Erfindung irgend ei- Die späthern Völker scheinen mehr Muth gehabt Fal Falsch. (Schöne Künste.) Da wir hier das Falsche blos in Absicht auf die schö- Falsche Begriffe sind solche, die uns die Beschaf- Wie nun das Wahre große ästhetische Kraft ha- ziehen. (+) Man sehe die Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger, [Spaltenumbruch] die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln. Z z 3
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Fab Alſo iſt die Fabel nicht die Erfindung irgend ei- Die ſpaͤthern Voͤlker ſcheinen mehr Muth gehabt Fal Falſch. (Schoͤne Kuͤnſte.) Da wir hier das Falſche blos in Abſicht auf die ſchoͤ- Falſche Begriffe ſind ſolche, die uns die Beſchaf- Wie nun das Wahre große aͤſthetiſche Kraft ha- ziehen. (†) Man ſehe die Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger, [Spaltenumbruch] die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln. Z z 3
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Die ſo er-<lb/> findungsreichen Griechen haben ſich meiſtentheils<lb/> begnuͤgt, die Fabeln dieſes Mannes in gebundener<lb/><note place="left">(*) S.<lb/> Aeſopus.</note>und ungebundener Rede zu erzaͤhlen, (*) und<lb/> haben ſich ſelten getraut neue zu erfinden. So<lb/> haben es auch die Roͤmer gemacht, deren vornehm-<lb/> ſter Fabeldichter Phaͤdrus, wenig eigene Fabeln er-<lb/> funden hat.</p><lb/> <p>Die ſpaͤthern Voͤlker ſcheinen mehr Muth gehabt<lb/> zu haben ſich in dieſe Laufbahn zu wagen. Die<lb/> Menge der deutſchen Fabeln, die in dem Zeitraum,<lb/> da die alten ſchwaͤbiſchen Dichter gebluͤht haben,<lb/> gedichtet worden, geben einen Beweis davon <cb/> <note place="foot" n="(†)">Man ſehe die Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger,<lb/><cb/> die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln.</note>.<lb/> Jn unſern Zeiten haben mehrere deutſche Dichter<lb/> ſich vorzuͤglich in dieſer Art hervorgethan. 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Ueber-<lb/> haupt wird man auch in dem neunten, zehnten und<lb/> eilften Brief dieſer Sammlung verſchiedene ſehr<lb/> gruͤndliche Anmerkungen uͤber die aͤſopiſche Fabel an-<lb/> treffen. Die bekannten Werke unſrer Kunſtrichter,<lb/> darin von der Natur und Beſchaffenheit der Fabel<lb/> ausfuͤhrlich gehandelt wird, hier anzuzeigen, wuͤrde<lb/> uͤberfluͤßig ſeyn.</p><lb/> <cb/> </div> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Fal</hi> </fw><lb/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Falſch.</hi><lb/> (Schoͤne Kuͤnſte.)</head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>a wir hier das Falſche blos in Abſicht auf die ſchoͤ-<lb/> nen Kuͤnſte betrachten, ſo koͤnnen wir, ohne uns in<lb/> tiefſinnige metaphyſiſche Betrachtungen des Wahren<lb/> und Falſchen einzulaſſen, die Begriffe deſſelben feſt-<lb/> ſetzen. 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Fab
Fal
Alſo iſt die Fabel nicht die Erfindung irgend ei-
nes beſondern Volks oder eines beſondern Weltal-
ters. Man hat um ihren Urſprung aufzuſuchen
nicht noͤthig, wie bisweilen geſchieht, nach Jndien
oder nach Perſien zu gehen; ſie iſt in allen Laͤndern
einheimiſch, ob gleich die Gabe, vollkommene Fabeln
zu machen, eine ſeltene Gabe iſt, und einen ſeltenen,
ſcharfen Verſtand erfodert. Der vollkommenſte Fa-
beldichter, den man kennt, iſt ohne Zweifel der
phrygiſche Philoſoph Aeſopus, von dem wir in ei-
nem beſondern Artikel geſprochen haben. Die ſo er-
findungsreichen Griechen haben ſich meiſtentheils
begnuͤgt, die Fabeln dieſes Mannes in gebundener
und ungebundener Rede zu erzaͤhlen, (*) und
haben ſich ſelten getraut neue zu erfinden. So
haben es auch die Roͤmer gemacht, deren vornehm-
ſter Fabeldichter Phaͤdrus, wenig eigene Fabeln er-
funden hat.
(*) S.
Aeſopus.
Die ſpaͤthern Voͤlker ſcheinen mehr Muth gehabt
zu haben ſich in dieſe Laufbahn zu wagen. Die
Menge der deutſchen Fabeln, die in dem Zeitraum,
da die alten ſchwaͤbiſchen Dichter gebluͤht haben,
gedichtet worden, geben einen Beweis davon
(†).
Jn unſern Zeiten haben mehrere deutſche Dichter
ſich vorzuͤglich in dieſer Art hervorgethan. Unter
dieſen verdient Hagedorn, nicht blos darum, weil er
in dem ſchoͤnſten Zeitalter der deutſchen Dichtkunſt,
der Zeit nach, der erſte geweſen, die oberſte Stelle;
aber Gellert hat den Ruhm der deutſchen Fabel
auch in fremde Laͤnder ausgebreitet. Ein ſcharfſin-
niger Kopf hat eine neue und in gewiſſen Abſichten
ſehr gluͤklich ausgedachte Gattung der Fabel erfunden.
Er hat das Verhaͤltniß des Bildes und Gegenbildes
ganz umgekehrt; er ſezt die Thiere an die Stelle
der Menſchen, und dieſe vertreten bey ihm die Stelle
der Thiere, von deren Handlungen der Stoff zur
Fabel genommen wird. Ein Beyſpiel davon findet
man in den critiſchen Briefen, die 1746 in Zuͤrich
herausgekommen ſind auf der 185 Seite. Ueber-
haupt wird man auch in dem neunten, zehnten und
eilften Brief dieſer Sammlung verſchiedene ſehr
gruͤndliche Anmerkungen uͤber die aͤſopiſche Fabel an-
treffen. Die bekannten Werke unſrer Kunſtrichter,
darin von der Natur und Beſchaffenheit der Fabel
ausfuͤhrlich gehandelt wird, hier anzuzeigen, wuͤrde
uͤberfluͤßig ſeyn.
Falſch.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Da wir hier das Falſche blos in Abſicht auf die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte betrachten, ſo koͤnnen wir, ohne uns in
tiefſinnige metaphyſiſche Betrachtungen des Wahren
und Falſchen einzulaſſen, die Begriffe deſſelben feſt-
ſetzen. Wir nennen nur dasjenige falſch, was uns
als wuͤrklich vorhanden vorgeſtellt wird, ob es gleich
den Empfindungen oder Vorſtellungen, die wir ge-
wiß und ungezweifelt haben, widerſpricht. Die
Dinge, deren Wuͤrklichkeit wir fuͤhlen, ſind ent-
weder Vorſtellungen oder Empfindungen, das iſt,
Begriffe von der Beſchaffenheit der Sache, Urtheile,
die aus den Begriffen entſtehen, oder angenehme
oder unangenehme Eindruͤke, und Zuneigung oder
Abneigung, woraus unſre Entſchlieſſungen folgen.
Hieraus laͤßt ſich jede Art des Falſchen beſtimmen.
Falſche Begriffe ſind ſolche, die uns die Beſchaf-
fenheit einer Sache auf eine Art vorſtellen, die den
Begriffen, die wir wuͤrklich haben, widerſpricht.
Man ſagt von dem Mahler, er habe falſch gezeich-
net, wenn in der Groͤße, oder in den Verhaͤltnißen,
oder in der Form der gezeichneten Dingen etwas iſt,
das den in uns vorhandenen Begriffen widerſpricht;
man ſagt in der Muſik von einem Spieler, er habe
falſch gegriffen, wenn die Toͤne, die er angiebt,
denen, die wir haben erwarten koͤnnen, wider-
ſprechen. Man ſchreibt dem Redner und Dichter
falſchen Witz zu, wenn ſeine Anſpielungen, Ver-
gleichungen und Bilder keine wuͤrkliche Aehnlichkeit
mit den Sachen haben, die er uns dadurch bezeich-
nen will; man ſagt, er habe falſche Begriffe, wenn
er uns Sachen als vorhanden, oder als geſchehen
erzaͤhlt, die dem, was klar in unſrer Vorſtellung
liegt, widerſprechen. Ein falſcher Gedanken iſt ein
Urtheil, das als der Erfolg von ſolchen Begriffen
angegeben wird, die in unſrer Vorſtellung einen ganz
andern Erfolg haben.
Wie nun das Wahre große aͤſthetiſche Kraft ha-
ben kann (*), und alſo ein Gegenſtand der ſchoͤnen
Kuͤnſte iſt, ſo muß das Falſche als etwas, das in
den Kuͤnſten auf das ſorgfaͤltigſte zu vermeiden iſt,
angeſehen werden; denn der Widerſpruch, den wir
bey dem Falſchen fuͤhlen, beleidiget und macht, daß
wir unſre Vorſtellungskraft von dem falſchen Gegen-
ſtand, und dem, was damit verbunden iſt, ab-
ziehen.
(*) S.
Kraft.
(†) Man ſehe die Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger,
die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln.
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