Also ist die Fabel nicht die Erfindung irgend ei- nes besondern Volks oder eines besondern Weltal- ters. Man hat um ihren Ursprung aufzusuchen nicht nöthig, wie bisweilen geschieht, nach Jndien oder nach Persien zu gehen; sie ist in allen Ländern einheimisch, ob gleich die Gabe, vollkommene Fabeln zu machen, eine seltene Gabe ist, und einen seltenen, scharfen Verstand erfodert. Der vollkommenste Fa- beldichter, den man kennt, ist ohne Zweifel der phrygische Philosoph Aesopus, von dem wir in ei- nem besondern Artikel gesprochen haben. Die so er- findungsreichen Griechen haben sich meistentheils begnügt, die Fabeln dieses Mannes in gebundener (*) S. Aesopus.und ungebundener Rede zu erzählen, (*) und haben sich selten getraut neue zu erfinden. So haben es auch die Römer gemacht, deren vornehm- ster Fabeldichter Phädrus, wenig eigene Fabeln er- funden hat.
Die späthern Völker scheinen mehr Muth gehabt zu haben sich in diese Laufbahn zu wagen. Die Menge der deutschen Fabeln, die in dem Zeitraum, da die alten schwäbischen Dichter geblüht haben, gedichtet worden, geben einen Beweis davon [Spaltenumbruch](+). Jn unsern Zeiten haben mehrere deutsche Dichter sich vorzüglich in dieser Art hervorgethan. Unter diesen verdient Hagedorn, nicht blos darum, weil er in dem schönsten Zeitalter der deutschen Dichtkunst, der Zeit nach, der erste gewesen, die oberste Stelle; aber Gellert hat den Ruhm der deutschen Fabel auch in fremde Länder ausgebreitet. Ein scharfsin- niger Kopf hat eine neue und in gewissen Absichten sehr glüklich ausgedachte Gattung der Fabel erfunden. Er hat das Verhältniß des Bildes und Gegenbildes ganz umgekehrt; er sezt die Thiere an die Stelle der Menschen, und diese vertreten bey ihm die Stelle der Thiere, von deren Handlungen der Stoff zur Fabel genommen wird. Ein Beyspiel davon findet man in den critischen Briefen, die 1746 in Zürich herausgekommen sind auf der 185 Seite. Ueber- haupt wird man auch in dem neunten, zehnten und eilften Brief dieser Sammlung verschiedene sehr gründliche Anmerkungen über die äsopische Fabel an- treffen. Die bekannten Werke unsrer Kunstrichter, darin von der Natur und Beschaffenheit der Fabel ausführlich gehandelt wird, hier anzuzeigen, würde überflüßig seyn.
[Spaltenumbruch]
Fal
Falsch. (Schöne Künste.)
Da wir hier das Falsche blos in Absicht auf die schö- nen Künste betrachten, so können wir, ohne uns in tiefsinnige metaphysische Betrachtungen des Wahren und Falschen einzulassen, die Begriffe desselben fest- setzen. Wir nennen nur dasjenige falsch, was uns als würklich vorhanden vorgestellt wird, ob es gleich den Empfindungen oder Vorstellungen, die wir ge- wiß und ungezweifelt haben, widerspricht. Die Dinge, deren Würklichkeit wir fühlen, sind ent- weder Vorstellungen oder Empfindungen, das ist, Begriffe von der Beschaffenheit der Sache, Urtheile, die aus den Begriffen entstehen, oder angenehme oder unangenehme Eindrüke, und Zuneigung oder Abneigung, woraus unsre Entschliessungen folgen. Hieraus läßt sich jede Art des Falschen bestimmen.
Falsche Begriffe sind solche, die uns die Beschaf- fenheit einer Sache auf eine Art vorstellen, die den Begriffen, die wir würklich haben, widerspricht. Man sagt von dem Mahler, er habe falsch gezeich- net, wenn in der Größe, oder in den Verhältnißen, oder in der Form der gezeichneten Dingen etwas ist, das den in uns vorhandenen Begriffen widerspricht; man sagt in der Musik von einem Spieler, er habe falsch gegriffen, wenn die Töne, die er angiebt, denen, die wir haben erwarten können, wider- sprechen. Man schreibt dem Redner und Dichter falschen Witz zu, wenn seine Anspielungen, Ver- gleichungen und Bilder keine würkliche Aehnlichkeit mit den Sachen haben, die er uns dadurch bezeich- nen will; man sagt, er habe falsche Begriffe, wenn er uns Sachen als vorhanden, oder als geschehen erzählt, die dem, was klar in unsrer Vorstellung liegt, widersprechen. Ein falscher Gedanken ist ein Urtheil, das als der Erfolg von solchen Begriffen angegeben wird, die in unsrer Vorstellung einen ganz andern Erfolg haben.
Wie nun das Wahre große ästhetische Kraft ha- ben kann (*), und also ein Gegenstand der schönen(*) S. Kraft. Künste ist, so muß das Falsche als etwas, das in den Künsten auf das sorgfältigste zu vermeiden ist, angesehen werden; denn der Widerspruch, den wir bey dem Falschen fühlen, beleidiget und macht, daß wir unsre Vorstellungskraft von dem falschen Gegen- stand, und dem, was damit verbunden ist, ab-
ziehen.
(+) Man sehe die Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger, [Spaltenumbruch]
die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln.
Z z 3
[Spaltenumbruch]
Fab
Alſo iſt die Fabel nicht die Erfindung irgend ei- nes beſondern Volks oder eines beſondern Weltal- ters. Man hat um ihren Urſprung aufzuſuchen nicht noͤthig, wie bisweilen geſchieht, nach Jndien oder nach Perſien zu gehen; ſie iſt in allen Laͤndern einheimiſch, ob gleich die Gabe, vollkommene Fabeln zu machen, eine ſeltene Gabe iſt, und einen ſeltenen, ſcharfen Verſtand erfodert. Der vollkommenſte Fa- beldichter, den man kennt, iſt ohne Zweifel der phrygiſche Philoſoph Aeſopus, von dem wir in ei- nem beſondern Artikel geſprochen haben. Die ſo er- findungsreichen Griechen haben ſich meiſtentheils begnuͤgt, die Fabeln dieſes Mannes in gebundener (*) S. Aeſopus.und ungebundener Rede zu erzaͤhlen, (*) und haben ſich ſelten getraut neue zu erfinden. So haben es auch die Roͤmer gemacht, deren vornehm- ſter Fabeldichter Phaͤdrus, wenig eigene Fabeln er- funden hat.
Die ſpaͤthern Voͤlker ſcheinen mehr Muth gehabt zu haben ſich in dieſe Laufbahn zu wagen. Die Menge der deutſchen Fabeln, die in dem Zeitraum, da die alten ſchwaͤbiſchen Dichter gebluͤht haben, gedichtet worden, geben einen Beweis davon [Spaltenumbruch](†). Jn unſern Zeiten haben mehrere deutſche Dichter ſich vorzuͤglich in dieſer Art hervorgethan. Unter dieſen verdient Hagedorn, nicht blos darum, weil er in dem ſchoͤnſten Zeitalter der deutſchen Dichtkunſt, der Zeit nach, der erſte geweſen, die oberſte Stelle; aber Gellert hat den Ruhm der deutſchen Fabel auch in fremde Laͤnder ausgebreitet. Ein ſcharfſin- niger Kopf hat eine neue und in gewiſſen Abſichten ſehr gluͤklich ausgedachte Gattung der Fabel erfunden. Er hat das Verhaͤltniß des Bildes und Gegenbildes ganz umgekehrt; er ſezt die Thiere an die Stelle der Menſchen, und dieſe vertreten bey ihm die Stelle der Thiere, von deren Handlungen der Stoff zur Fabel genommen wird. Ein Beyſpiel davon findet man in den critiſchen Briefen, die 1746 in Zuͤrich herausgekommen ſind auf der 185 Seite. Ueber- haupt wird man auch in dem neunten, zehnten und eilften Brief dieſer Sammlung verſchiedene ſehr gruͤndliche Anmerkungen uͤber die aͤſopiſche Fabel an- treffen. Die bekannten Werke unſrer Kunſtrichter, darin von der Natur und Beſchaffenheit der Fabel ausfuͤhrlich gehandelt wird, hier anzuzeigen, wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn.
[Spaltenumbruch]
Fal
Falſch. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Da wir hier das Falſche blos in Abſicht auf die ſchoͤ- nen Kuͤnſte betrachten, ſo koͤnnen wir, ohne uns in tiefſinnige metaphyſiſche Betrachtungen des Wahren und Falſchen einzulaſſen, die Begriffe deſſelben feſt- ſetzen. Wir nennen nur dasjenige falſch, was uns als wuͤrklich vorhanden vorgeſtellt wird, ob es gleich den Empfindungen oder Vorſtellungen, die wir ge- wiß und ungezweifelt haben, widerſpricht. Die Dinge, deren Wuͤrklichkeit wir fuͤhlen, ſind ent- weder Vorſtellungen oder Empfindungen, das iſt, Begriffe von der Beſchaffenheit der Sache, Urtheile, die aus den Begriffen entſtehen, oder angenehme oder unangenehme Eindruͤke, und Zuneigung oder Abneigung, woraus unſre Entſchlieſſungen folgen. Hieraus laͤßt ſich jede Art des Falſchen beſtimmen.
Falſche Begriffe ſind ſolche, die uns die Beſchaf- fenheit einer Sache auf eine Art vorſtellen, die den Begriffen, die wir wuͤrklich haben, widerſpricht. Man ſagt von dem Mahler, er habe falſch gezeich- net, wenn in der Groͤße, oder in den Verhaͤltnißen, oder in der Form der gezeichneten Dingen etwas iſt, das den in uns vorhandenen Begriffen widerſpricht; man ſagt in der Muſik von einem Spieler, er habe falſch gegriffen, wenn die Toͤne, die er angiebt, denen, die wir haben erwarten koͤnnen, wider- ſprechen. Man ſchreibt dem Redner und Dichter falſchen Witz zu, wenn ſeine Anſpielungen, Ver- gleichungen und Bilder keine wuͤrkliche Aehnlichkeit mit den Sachen haben, die er uns dadurch bezeich- nen will; man ſagt, er habe falſche Begriffe, wenn er uns Sachen als vorhanden, oder als geſchehen erzaͤhlt, die dem, was klar in unſrer Vorſtellung liegt, widerſprechen. Ein falſcher Gedanken iſt ein Urtheil, das als der Erfolg von ſolchen Begriffen angegeben wird, die in unſrer Vorſtellung einen ganz andern Erfolg haben.
Wie nun das Wahre große aͤſthetiſche Kraft ha- ben kann (*), und alſo ein Gegenſtand der ſchoͤnen(*) S. Kraft. Kuͤnſte iſt, ſo muß das Falſche als etwas, das in den Kuͤnſten auf das ſorgfaͤltigſte zu vermeiden iſt, angeſehen werden; denn der Widerſpruch, den wir bey dem Falſchen fuͤhlen, beleidiget und macht, daß wir unſre Vorſtellungskraft von dem falſchen Gegen- ſtand, und dem, was damit verbunden iſt, ab-
ziehen.
(†) Man ſehe die Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger, [Spaltenumbruch]
die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln.
Z z 3
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[365/0377]
Fab
Fal
Alſo iſt die Fabel nicht die Erfindung irgend ei-
nes beſondern Volks oder eines beſondern Weltal-
ters. Man hat um ihren Urſprung aufzuſuchen
nicht noͤthig, wie bisweilen geſchieht, nach Jndien
oder nach Perſien zu gehen; ſie iſt in allen Laͤndern
einheimiſch, ob gleich die Gabe, vollkommene Fabeln
zu machen, eine ſeltene Gabe iſt, und einen ſeltenen,
ſcharfen Verſtand erfodert. Der vollkommenſte Fa-
beldichter, den man kennt, iſt ohne Zweifel der
phrygiſche Philoſoph Aeſopus, von dem wir in ei-
nem beſondern Artikel geſprochen haben. Die ſo er-
findungsreichen Griechen haben ſich meiſtentheils
begnuͤgt, die Fabeln dieſes Mannes in gebundener
und ungebundener Rede zu erzaͤhlen, (*) und
haben ſich ſelten getraut neue zu erfinden. So
haben es auch die Roͤmer gemacht, deren vornehm-
ſter Fabeldichter Phaͤdrus, wenig eigene Fabeln er-
funden hat.
(*) S.
Aeſopus.
Die ſpaͤthern Voͤlker ſcheinen mehr Muth gehabt
zu haben ſich in dieſe Laufbahn zu wagen. Die
Menge der deutſchen Fabeln, die in dem Zeitraum,
da die alten ſchwaͤbiſchen Dichter gebluͤht haben,
gedichtet worden, geben einen Beweis davon
(†).
Jn unſern Zeiten haben mehrere deutſche Dichter
ſich vorzuͤglich in dieſer Art hervorgethan. Unter
dieſen verdient Hagedorn, nicht blos darum, weil er
in dem ſchoͤnſten Zeitalter der deutſchen Dichtkunſt,
der Zeit nach, der erſte geweſen, die oberſte Stelle;
aber Gellert hat den Ruhm der deutſchen Fabel
auch in fremde Laͤnder ausgebreitet. Ein ſcharfſin-
niger Kopf hat eine neue und in gewiſſen Abſichten
ſehr gluͤklich ausgedachte Gattung der Fabel erfunden.
Er hat das Verhaͤltniß des Bildes und Gegenbildes
ganz umgekehrt; er ſezt die Thiere an die Stelle
der Menſchen, und dieſe vertreten bey ihm die Stelle
der Thiere, von deren Handlungen der Stoff zur
Fabel genommen wird. Ein Beyſpiel davon findet
man in den critiſchen Briefen, die 1746 in Zuͤrich
herausgekommen ſind auf der 185 Seite. Ueber-
haupt wird man auch in dem neunten, zehnten und
eilften Brief dieſer Sammlung verſchiedene ſehr
gruͤndliche Anmerkungen uͤber die aͤſopiſche Fabel an-
treffen. Die bekannten Werke unſrer Kunſtrichter,
darin von der Natur und Beſchaffenheit der Fabel
ausfuͤhrlich gehandelt wird, hier anzuzeigen, wuͤrde
uͤberfluͤßig ſeyn.
Falſch.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Da wir hier das Falſche blos in Abſicht auf die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte betrachten, ſo koͤnnen wir, ohne uns in
tiefſinnige metaphyſiſche Betrachtungen des Wahren
und Falſchen einzulaſſen, die Begriffe deſſelben feſt-
ſetzen. Wir nennen nur dasjenige falſch, was uns
als wuͤrklich vorhanden vorgeſtellt wird, ob es gleich
den Empfindungen oder Vorſtellungen, die wir ge-
wiß und ungezweifelt haben, widerſpricht. Die
Dinge, deren Wuͤrklichkeit wir fuͤhlen, ſind ent-
weder Vorſtellungen oder Empfindungen, das iſt,
Begriffe von der Beſchaffenheit der Sache, Urtheile,
die aus den Begriffen entſtehen, oder angenehme
oder unangenehme Eindruͤke, und Zuneigung oder
Abneigung, woraus unſre Entſchlieſſungen folgen.
Hieraus laͤßt ſich jede Art des Falſchen beſtimmen.
Falſche Begriffe ſind ſolche, die uns die Beſchaf-
fenheit einer Sache auf eine Art vorſtellen, die den
Begriffen, die wir wuͤrklich haben, widerſpricht.
Man ſagt von dem Mahler, er habe falſch gezeich-
net, wenn in der Groͤße, oder in den Verhaͤltnißen,
oder in der Form der gezeichneten Dingen etwas iſt,
das den in uns vorhandenen Begriffen widerſpricht;
man ſagt in der Muſik von einem Spieler, er habe
falſch gegriffen, wenn die Toͤne, die er angiebt,
denen, die wir haben erwarten koͤnnen, wider-
ſprechen. Man ſchreibt dem Redner und Dichter
falſchen Witz zu, wenn ſeine Anſpielungen, Ver-
gleichungen und Bilder keine wuͤrkliche Aehnlichkeit
mit den Sachen haben, die er uns dadurch bezeich-
nen will; man ſagt, er habe falſche Begriffe, wenn
er uns Sachen als vorhanden, oder als geſchehen
erzaͤhlt, die dem, was klar in unſrer Vorſtellung
liegt, widerſprechen. Ein falſcher Gedanken iſt ein
Urtheil, das als der Erfolg von ſolchen Begriffen
angegeben wird, die in unſrer Vorſtellung einen ganz
andern Erfolg haben.
Wie nun das Wahre große aͤſthetiſche Kraft ha-
ben kann (*), und alſo ein Gegenſtand der ſchoͤnen
Kuͤnſte iſt, ſo muß das Falſche als etwas, das in
den Kuͤnſten auf das ſorgfaͤltigſte zu vermeiden iſt,
angeſehen werden; denn der Widerſpruch, den wir
bey dem Falſchen fuͤhlen, beleidiget und macht, daß
wir unſre Vorſtellungskraft von dem falſchen Gegen-
ſtand, und dem, was damit verbunden iſt, ab-
ziehen.
(*) S.
Kraft.
(†) Man ſehe die Fabeln aus den Zeiten der Minneſinger,
die Bodmer herausgegeben, u. die Vorrede zu Gellerts Fabeln.
Z z 3
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/377>, abgerufen am 16.07.2024.
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