Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
All Diese Verwechslung des Bildes mit seinem Ge- Mach deinen Raupenstand und einen Tropfen Zeit, so drükt er durch diese allegorischen Bilder das, Wir wollen zuerst die Allegorie in den reden- Hier sind dreyerley Dinge zu untersuchen. Die Ueberhaupt liegt in jeder Allegorie ein Bild, aus All sentlichen Eigenschaften der allegorischen Bildermuß die Allegorie noch zwey andre haben: sie muß weder zu weit getrieben, noch einen Zusatz von dem eigentlichen Ausdruk haben. Beydes giebt ihr etwas Ungereimtes. Die Alten haben den menschlichen Körper die kleine Welt (Micro. cosmus) genennt. Die Allegorie ist richtig; wer sie aber so brauchen wollte, daß er die Aehnlichkeit über die wesentlichen Theile der Vergleichung aus- dehnte; wer dieser kleinen Welt ihre Planeten, Berge und Thäler, Einwohner, geben wollte, der würde die Allegorie ins Lächerliche ausdehnen. So könnte man die fürtreffliche Allegorie des Plato, in welcher die Leidenschaften mit Pferden, die vor einen Wagen gespannt sind, die Vernunft aber mit dem Kutscher verglichen werden, durch die weite Ausdehnung gänzlich verderben; denn we- der die Teichsel des Wagens, noch dessen Räder, noch andre in dem Bild vorkommenden Theile ha- ben ihr Gegenbild in der Seele. Es ist demnach bey jeder Allegorie wol in Acht zu nehmen, daß diese Nebensachen, denen im Gegenbild nichts ent- spricht, entweder gar nicht genennt, oder doch nicht mit Nachdruk angezeiget werden. Ein eben so ungeschikter Fehler ist es, wenn Endlich muß das Bild rein, und nicht aus meh- Die (+) Drinck deep or taste not the pierian spring
There snallow draughts intoxicates the brain [Spaltenumbruch] And drincking largely sober us again. Essay on Criticism. v. 218. [Spaltenumbruch]
All Dieſe Verwechslung des Bildes mit ſeinem Ge- Mach deinen Raupenſtand und einen Tropfen Zeit, ſo druͤkt er durch dieſe allegoriſchen Bilder das, Wir wollen zuerſt die Allegorie in den reden- Hier ſind dreyerley Dinge zu unterſuchen. Die Ueberhaupt liegt in jeder Allegorie ein Bild, aus All ſentlichen Eigenſchaften der allegoriſchen Bildermuß die Allegorie noch zwey andre haben: ſie muß weder zu weit getrieben, noch einen Zuſatz von dem eigentlichen Ausdruk haben. Beydes giebt ihr etwas Ungereimtes. Die Alten haben den menſchlichen Koͤrper die kleine Welt (Micro. coſmus) genennt. Die Allegorie iſt richtig; wer ſie aber ſo brauchen wollte, daß er die Aehnlichkeit uͤber die weſentlichen Theile der Vergleichung aus- dehnte; wer dieſer kleinen Welt ihre Planeten, Berge und Thaͤler, Einwohner, geben wollte, der wuͤrde die Allegorie ins Laͤcherliche ausdehnen. So koͤnnte man die fuͤrtreffliche Allegorie des Plato, in welcher die Leidenſchaften mit Pferden, die vor einen Wagen geſpannt ſind, die Vernunft aber mit dem Kutſcher verglichen werden, durch die weite Ausdehnung gaͤnzlich verderben; denn we- der die Teichſel des Wagens, noch deſſen Raͤder, noch andre in dem Bild vorkommenden Theile ha- ben ihr Gegenbild in der Seele. Es iſt demnach bey jeder Allegorie wol in Acht zu nehmen, daß dieſe Nebenſachen, denen im Gegenbild nichts ent- ſpricht, entweder gar nicht genennt, oder doch nicht mit Nachdruk angezeiget werden. Ein eben ſo ungeſchikter Fehler iſt es, wenn Endlich muß das Bild rein, und nicht aus meh- Die (†) Drinck deep or taſte not the pierian ſpring
There ſnallow draughts intoxicates the brain [Spaltenumbruch] And drincking largely ſober us again. Eſſay on Criticiſm. v. 218. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0040" n="28"/> <cb/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">All</hi> </fw><lb/> <p>Dieſe Verwechslung des Bildes mit ſeinem Ge-<lb/> genbild wird auf mancherley Weiſe veranlaſſet.<lb/> Sie geſchieht aus <hi rendition="#fr">Noth,</hi> wenn es nicht moͤglich<lb/> iſt, die bezeichnete Sache ſelbſt darzuſtellen, wie<lb/> in dem Falle, da die zeichnenden Kuͤnſte allgemeine<lb/> Begriffe darſtellen ſollen, die kein Gegenſtand des<lb/> Geſichts ſind: aus <hi rendition="#fr">Vorſichtigkeit,</hi> wenn man ſich<lb/> nicht getraut, die Sache ſelbſt vorzulegen, und ſie<lb/> lieber will errathen laſſen; wie in dem Falle, da<lb/><hi rendition="#fr">Horaz</hi> den Roͤmern einen neuen buͤrgerlichen<lb/> Krieg abrathen will, und aus Vorſichtigkeit blos<lb/> ein Schiff anredet, dem er die Gefahr zu ſchei-<lb/><note place="left">(*) <hi rendition="#aq">Horat.<lb/> Od. L. 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All
All
Dieſe Verwechslung des Bildes mit ſeinem Ge-
genbild wird auf mancherley Weiſe veranlaſſet.
Sie geſchieht aus Noth, wenn es nicht moͤglich
iſt, die bezeichnete Sache ſelbſt darzuſtellen, wie
in dem Falle, da die zeichnenden Kuͤnſte allgemeine
Begriffe darſtellen ſollen, die kein Gegenſtand des
Geſichts ſind: aus Vorſichtigkeit, wenn man ſich
nicht getraut, die Sache ſelbſt vorzulegen, und ſie
lieber will errathen laſſen; wie in dem Falle, da
Horaz den Roͤmern einen neuen buͤrgerlichen
Krieg abrathen will, und aus Vorſichtigkeit blos
ein Schiff anredet, dem er die Gefahr zu ſchei-
tern vorſtellt: (*) aus aͤſthetiſchen Abſichten,
der Vorſtellung vermittelſt des Bildes mehr Klar-
heit, oder mehr Nachdruk, oder uͤberhaupt mehr
aͤſthetiſche Kraft zu geben. Wenn Haller ſagt:
(*) Horat.
Od. L. I.
od. 14.
Mach deinen Raupenſtand und einen Tropfen Zeit,
Den nicht zu deinem Zwek, die nicht zur Ewigkeit;
ſo druͤkt er durch dieſe allegoriſchen Bilder das,
was er von der eigentlichen Beſtimmung und Kuͤrze
des gegenwaͤrtigen Lebens hat ſagen wollen, ſehr
viel kuͤrzer, nachdruͤklicher und ſinnlicher aus, als
es ohne Allegorie haͤtte geſchehen koͤnnen.
Wir wollen zuerſt die Allegorie in den reden-
den Kuͤnſten betrachten.
Hier ſind dreyerley Dinge zu unterſuchen. Die
Beſchaffenheit und Wuͤrkung der Allegorie uͤber-
haupt; ihre verſchiedenen Gattungen, jeder Gat-
tung beſondere Beſchaffenheit und Anwendung;
endlich die Quellen, woraus ſie geſchoͤpft werden.
Ueberhaupt liegt in jeder Allegorie ein Bild, aus
welchem die Sache, die man ſagen will, beſtimmt
und mit Vortheil kann erkennt werden. Beſtimmt
und mit Gewißheit; weil ſonſt die Allegorie ein
Raͤthſel: mit Vortheil; weil ſie ſonſt unnuͤtz waͤre.
Daher entſtehen die zwey weſentlichen Eigenſchaften
der Allegorie: die genaue Aehnlichkeit zwiſchen dem
Bild und dem Gegenbild; damit dieſes durch jenes ſich
dem Verſtande ſogleich darſtelle: und die aͤſthetiſche
Kraft des Bildes, durch deren beſondere Beſchaf-
fenheit die Art der Allegorie beſtimmt wird. Was
hier uͤber die Aehnlichkeit und die aͤſthetiſche Kraft
der Allegorie anzumerken waͤre, iſt bey der allge-
meinen Betrachtung der Bilder angefuͤhrt worden,
und hier nicht zu wiederholen. Außer dieſen we-
ſentlichen Eigenſchaften der allegoriſchen Bilder
muß die Allegorie noch zwey andre haben: ſie
muß weder zu weit getrieben, noch einen Zuſatz
von dem eigentlichen Ausdruk haben. Beydes
giebt ihr etwas Ungereimtes. Die Alten haben
den menſchlichen Koͤrper die kleine Welt (Micro.
coſmus) genennt. Die Allegorie iſt richtig; wer
ſie aber ſo brauchen wollte, daß er die Aehnlichkeit
uͤber die weſentlichen Theile der Vergleichung aus-
dehnte; wer dieſer kleinen Welt ihre Planeten,
Berge und Thaͤler, Einwohner, geben wollte, der
wuͤrde die Allegorie ins Laͤcherliche ausdehnen.
So koͤnnte man die fuͤrtreffliche Allegorie des
Plato, in welcher die Leidenſchaften mit Pferden,
die vor einen Wagen geſpannt ſind, die Vernunft
aber mit dem Kutſcher verglichen werden, durch
die weite Ausdehnung gaͤnzlich verderben; denn we-
der die Teichſel des Wagens, noch deſſen Raͤder,
noch andre in dem Bild vorkommenden Theile ha-
ben ihr Gegenbild in der Seele. Es iſt demnach
bey jeder Allegorie wol in Acht zu nehmen, daß
dieſe Nebenſachen, denen im Gegenbild nichts ent-
ſpricht, entweder gar nicht genennt, oder doch
nicht mit Nachdruk angezeiget werden.
S. Bild.
Ein eben ſo ungeſchikter Fehler iſt es, wenn
die Allegorie nur halb ausgefuͤhrt wird, und ſich
mit dem eigentlichen Ausdruk endiget. Pope
ſagt ganz fuͤrtrefflich: Trinke mit vollen Zuͤgen
aus der Pieriſchen Quelle, oder laſſe ſie un-
gekoſtet. Hier berauſchen ſparſame Zuͤge, und
nur ein ſtarkes Trinken macht wieder nuͤch-
tern.
(†) Wie laͤcherlich waͤre es, wenn man
dieſe Allegorie ſo endigen wollte: Hier berauſchen
ſparſame Zuͤge, aber ein ſtarkes Trinken vol-
endet die Gruͤndlichkeit der Erkenntnis?
Endlich muß das Bild rein, und nicht aus meh-
rern Gegenſtaͤnden zugleich zuſammen geſetzt ſeyn.
Eine Sache koͤnnte durch mehr als ein Bild dem
anſchauenden Erkenntnis vollkommen dargeſtellt
werden; aber die Vermiſchung zwey ſolcher Bilder
in eins macht verwirrt. Man muß nicht, wie
Quintilian (*) ſich ausdruͤkt, mit Sturm anfangen,
und mit Feuerflammen aufhoͤren. Dieſes iſt von
der Beſchaffenheit der Allegorie zu merken.
(*) Inſt.
Or. VIII.
6; 50.
Die
(†) Drinck deep or taſte not the pierian ſpring
There ſnallow draughts intoxicates the brain
And drincking largely ſober us again.
Eſſay on Criticiſm. v. 218.
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