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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Gar
bisweilen einen rauschenden Bach unter der Erde
weg, der das Ohr derer, die an die Stellen,
darunter sie wegströhmen, kommen, mit einem
Geräusche rühret, dessen Ursprung man nicht er-
kennt. Andremal machen sie ein Gemäuer von
Felsen, oder bringen sonst in Gebäuden und andern
in den Garten angebrachten Gegenständen Oefnun-
gen und Ritzen so an, daß die durchstreichende Luft
fremde und seltsame Töne hervorbringt. Für diese
besondere Parthien suchen sie die seltensten Bäume
und Pflanzen aus; auch bringen sie in denselben ver-
schiedene Echo an, und unterhalten darin allerhand
Vögel und seltene Thiere.

Jhre fürchterlichen Scenen bestehen aus überhan-
genden Felsen, dunkeln Grotten und brausenden
Wasserfällen, die von allen Seiten her von Felsen
herunter stürzen. Dahin setzen sie krummgewachsene
Bäume, die vom Sturm zerrissen scheinen. Hier
findet man solche, die umgefallen mitten im Strohm
liegen, und von ihm dahin geschwemmt scheinen.
Dort sieht man andre, die vom Wetter zerschmettert
und versengt scheinen. Einige Gebäude sind einge-
fallen, andre halb abgebrannt, und einige elende
Hütten, hier und da auf Bergen zerstreuet, scheinen
Wohnstellen armseeliger Einwohner zu seyn. Nach
Scenen von dieser Art folgen insgemein wieder
lachende - und die chinesischen Künstler wissen im-
mer schnelle Abwechslungen und Gegensätze sich
wechselsweise erhebender Scenen, so wol in den For-
men als in den Farben, und im Hellen und Dun-
keln zu erhalten. - -

Wenn der Platz von beträchtlicher Größe ist und
eine Mannigfaltigkeit der Scenen erlaubet, so ist
insgemein jede für einen besondern Gesichtspunkt ein-
gerichtet; wenn dieses des engern Raumes halber
nicht angeht, so suchen sie dem Mangel dadurch ab-
zuhelfen, daß die Parthien nach den verschiedenen
Ansichten immer andre Gestalten annehmen. Die-
ses wissen sie so gut zu machen, daß man dieselbe
Parthie aus den verschiedenen Ständen, gar nicht
mehr für dieselbe erkennen kann.

Jn großen Gärten bringet man Scenen, die
sich für jede Tageszeit schiken, an, und führt an
[Spaltenumbruch]

Gar
schiklichen Stellen Gebäude auf, die sich zu den
verschiedenen jeder Tageszeit eigenen Ergötzlichkeiten
schicken.

Weil das Clima in diesem Land sehr heiß ist, so
sucht man viel Wasser in die Gärten zu bringen.
Die kleinen werden, wenn es die Lage zuläßt, ofte
fast ganz unter Wasser gesetzt, daß nur wenig kleine
Jnseln und Felsen hervorstehen. Jn großen Gärten
findet man Seen, Flüsse und Canäle. Nach Anlei-
tung der Natur werden die Ufer der Gewässer ver-
schiedentlich behandelt; bald sind sie sandig und stei-
nig, bald grün und mit Holz bewachsen; bald flach
mit Blumen und kleinen Gesträuchen bekleidet, bald
mit steilen Felsen besetzt, die Hölen und Klüste bil-
den, in die sich das Wasser mit Ungestühm wirst.

Bisweilen trift man darin Fluhren, worauf
zahmes Vieh weidet, an, oder Reisfelder, die
bis in die Seen hineintreten, zwischen denen man
in Kähnen herumfahren kann. An andern Orten
findet man Büsche von Bächen durchschnitten, die
kleine Nachen tragen. Jhre Ufer sind an einigen
Orten dergestalt mit Bäumen bewachsen, daß ihre
Aeste von beyden Ufern sich in einander schlingen, und
gewölbte Deken ausmachen, unter denen man durch-
fährt. Auf einer solchen Fahrt wird man insge-
mein an einen intressanten Ort geleitet, an ein
prächtiges Gebäude, etwa auf einem terraßirten Berg,
an eine einsame Hütte auf einer Jnsel, an einen
Wasserfall, an eine Grotte.

Die Flüsse und Bäche der Gärten nehmen keinen
geraden Lauf, sondern schlängeln sich durch verschie-
dene Krümmungen; sind bald schmal, bald breit, bald
sanft fließend, bald rauschend. Auch wächset Schilf
und anders Wassergras darin. Man trift Mühlen
und hydraulische Maschinen darauf an, deren Be-
wegung den Gegenden ein Leben giebt.

Die Gartenkunst scheinet so alt, als irgend eine
andre der schönen Künste zu seyn. [Spaltenumbruch] (+) Die präch-
tigen Gärten der alten Stadt Babylon sind jedem
bekannt, und Xenophon erwähnet in seiner Geschichte
der zehentausend Griechen öfters der großen Lust-
gärten oder Paradiese, die sie in verschiedenen Pro-
vinzen des persischen Reichs angetroffen haben. Die

Grie-
(+) Antiquitas nihil potius mirata est, quam Hesperi-
dum hortos ac regum Adonis et Alcinoi, itemque penfiles,
[Spaltenumbruch] sive Illos Semiramis, sive Assyriae rex Cyrus secit. Plin.
Hist. Nat. L. XIX. c.
4.

[Spaltenumbruch]

Gar
bisweilen einen rauſchenden Bach unter der Erde
weg, der das Ohr derer, die an die Stellen,
darunter ſie wegſtroͤhmen, kommen, mit einem
Geraͤuſche ruͤhret, deſſen Urſprung man nicht er-
kennt. Andremal machen ſie ein Gemaͤuer von
Felſen, oder bringen ſonſt in Gebaͤuden und andern
in den Garten angebrachten Gegenſtaͤnden Oefnun-
gen und Ritzen ſo an, daß die durchſtreichende Luft
fremde und ſeltſame Toͤne hervorbringt. Fuͤr dieſe
beſondere Parthien ſuchen ſie die ſeltenſten Baͤume
und Pflanzen aus; auch bringen ſie in denſelben ver-
ſchiedene Echo an, und unterhalten darin allerhand
Voͤgel und ſeltene Thiere.

Jhre fuͤrchterlichen Scenen beſtehen aus uͤberhan-
genden Felſen, dunkeln Grotten und brauſenden
Waſſerfaͤllen, die von allen Seiten her von Felſen
herunter ſtuͤrzen. Dahin ſetzen ſie krummgewachſene
Baͤume, die vom Sturm zerriſſen ſcheinen. Hier
findet man ſolche, die umgefallen mitten im Strohm
liegen, und von ihm dahin geſchwemmt ſcheinen.
Dort ſieht man andre, die vom Wetter zerſchmettert
und verſengt ſcheinen. Einige Gebaͤude ſind einge-
fallen, andre halb abgebrannt, und einige elende
Huͤtten, hier und da auf Bergen zerſtreuet, ſcheinen
Wohnſtellen armſeeliger Einwohner zu ſeyn. Nach
Scenen von dieſer Art folgen insgemein wieder
lachende ‒ und die chineſiſchen Kuͤnſtler wiſſen im-
mer ſchnelle Abwechslungen und Gegenſaͤtze ſich
wechſelsweiſe erhebender Scenen, ſo wol in den For-
men als in den Farben, und im Hellen und Dun-
keln zu erhalten. ‒ ‒

Wenn der Platz von betraͤchtlicher Groͤße iſt und
eine Mannigfaltigkeit der Scenen erlaubet, ſo iſt
insgemein jede fuͤr einen beſondern Geſichtspunkt ein-
gerichtet; wenn dieſes des engern Raumes halber
nicht angeht, ſo ſuchen ſie dem Mangel dadurch ab-
zuhelfen, daß die Parthien nach den verſchiedenen
Anſichten immer andre Geſtalten annehmen. Die-
ſes wiſſen ſie ſo gut zu machen, daß man dieſelbe
Parthie aus den verſchiedenen Staͤnden, gar nicht
mehr fuͤr dieſelbe erkennen kann.

Jn großen Gaͤrten bringet man Scenen, die
ſich fuͤr jede Tageszeit ſchiken, an, und fuͤhrt an
[Spaltenumbruch]

Gar
ſchiklichen Stellen Gebaͤude auf, die ſich zu den
verſchiedenen jeder Tageszeit eigenen Ergoͤtzlichkeiten
ſchicken.

Weil das Clima in dieſem Land ſehr heiß iſt, ſo
ſucht man viel Waſſer in die Gaͤrten zu bringen.
Die kleinen werden, wenn es die Lage zulaͤßt, ofte
faſt ganz unter Waſſer geſetzt, daß nur wenig kleine
Jnſeln und Felſen hervorſtehen. Jn großen Gaͤrten
findet man Seen, Fluͤſſe und Canaͤle. Nach Anlei-
tung der Natur werden die Ufer der Gewaͤſſer ver-
ſchiedentlich behandelt; bald ſind ſie ſandig und ſtei-
nig, bald gruͤn und mit Holz bewachſen; bald flach
mit Blumen und kleinen Geſtraͤuchen bekleidet, bald
mit ſteilen Felſen beſetzt, die Hoͤlen und Kluͤſte bil-
den, in die ſich das Waſſer mit Ungeſtuͤhm wirſt.

Bisweilen trift man darin Fluhren, worauf
zahmes Vieh weidet, an, oder Reisfelder, die
bis in die Seen hineintreten, zwiſchen denen man
in Kaͤhnen herumfahren kann. An andern Orten
findet man Buͤſche von Baͤchen durchſchnitten, die
kleine Nachen tragen. Jhre Ufer ſind an einigen
Orten dergeſtalt mit Baͤumen bewachſen, daß ihre
Aeſte von beyden Ufern ſich in einander ſchlingen, und
gewoͤlbte Deken ausmachen, unter denen man durch-
faͤhrt. Auf einer ſolchen Fahrt wird man insge-
mein an einen intreſſanten Ort geleitet, an ein
praͤchtiges Gebaͤude, etwa auf einem terraßirten Berg,
an eine einſame Huͤtte auf einer Jnſel, an einen
Waſſerfall, an eine Grotte.

Die Fluͤſſe und Baͤche der Gaͤrten nehmen keinen
geraden Lauf, ſondern ſchlaͤngeln ſich durch verſchie-
dene Kruͤmmungen; ſind bald ſchmal, bald breit, bald
ſanft fließend, bald rauſchend. Auch waͤchſet Schilf
und anders Waſſergras darin. Man trift Muͤhlen
und hydrauliſche Maſchinen darauf an, deren Be-
wegung den Gegenden ein Leben giebt.

Die Gartenkunſt ſcheinet ſo alt, als irgend eine
andre der ſchoͤnen Kuͤnſte zu ſeyn. [Spaltenumbruch] (†) Die praͤch-
tigen Gaͤrten der alten Stadt Babylon ſind jedem
bekannt, und Xenophon erwaͤhnet in ſeiner Geſchichte
der zehentauſend Griechen oͤfters der großen Luſt-
gaͤrten oder Paradieſe, die ſie in verſchiedenen Pro-
vinzen des perſiſchen Reichs angetroffen haben. Die

Grie-
(†) Antiquitas nihil potius mirata eſt, quam Heſperi-
dum hortos ac regum Adonis et Alcinoi, itemque penfiles,
[Spaltenumbruch] ſive Illos Semiramis, ſive Aſſyriæ rex Cyrus ſecit. Plin.
Hiſt. Nat. L. XIX. c.
4.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/435>, abgerufen am 25.11.2024.