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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ged
was er sieht; oder er hängt nicht so wol dem Ge-
genstand nach, der ihn rühret, als der Würkung,
die er davon empfindet. Jm erstern Fall mahlt der
Dichter den Gegenstand, im andern seine Empfin-
dung darüber. Eine dritte Art des Stoffs zum
Gedicht, kann nicht erdacht werden. Nun müssen
wir das Verfahren des Dichters, und wie er sich
darin von andern Menschen, die auch von seiner
Materie reden würden, unterscheidet, in Betrach-
tung ziehen. Wie er sich im Ausdruk unterscheidet,
ist schon angemerkt worden; also ist noch die ihm
eigene Art, seinen Stoff zu behandeln, anzuzeigen;
denn auch diese giebt dem Gedicht ihren eigenen
Charakter.

Wenn der Dichter sich mit Betrachtung des Ge-
genstandes abgiebt, so ist seine Absicht blos sich den-
selben so vorzustellen, wie er ihn nach seiner Ge-
müthslage am lebhaftesten rühret. Er will weder,
wie der Philosoph, ihn näher kennen lernen, noch
wie der Geschichtschreiber ihn so beschreiben, daß
andre einen richtigen Begriff davon bekommen;
nicht wie der Redner so, daß er unser Urtheil dar-
über zu lenken oder einzunehmen suchen sollte.
Seine Einbildungskraft würkt da mehr, als der
Beobachtungsgeist oder der Verstand. Auch ist dem
Dichter nicht um die genaue Richtigkeit der Vor-
stellung zu thun: er bildet sich den Gegenstand so
aus, wie er ihm am besten gefällt, eignet ihm alles
zu, was er darin zu sehen wünscht, unbekümmert,
ob die Sachen würklich so seyen; denn das Mögliche
ist ihm eben so gut, als das Würkliche. Einiges
vergrößert er, andere Dinge macht er kleiner, bis
das Ganze so ist, wie er es am liebsten zu sehen
wünscht. Darin handelt er wie jeder Mensch, der
sich bey Vorstellung angenehmer Begebenheiten in
süsse Träume der Phantasie einwiegen will. Alles
wird nach seinem Gefallen angeordnet, hier werden
Umstände weggelassen, dort andre hinzugesetzt; jede
Person bekömmt ihre Gestalt und ihr Wesen, so wie
jedes sich nach seiner Einbildung schiket. So macht
es auch der Dichter mit jedem Gegenstand, den er
zum Stoff seines Gefanges gewählt hat. Die Theile
des Gegenstandes, die ihn vorzüglich rühren, sucht
er auch mit vorzüglicher Lebhaftigkeit zu schildern;
er sucht alles hervor, was irgend dienen kann, sie
sichtbar oder hörbar zu machen. Daher entstehen
bisweilen im Gedichte die umständlichsten Beschrei-
bungen, die bis auf die geringsten Kleinigkeiten ge-
[Spaltenumbruch]

Ged
hen, weil solche Beschreibungen am geschicktesten
sind, den Gegenständen in der Einbildungskraft ein
würkliches Leben zu geben.

An dieser Art zu verfahren erkennet man den
Dichter sehr bald, wenn man auch den Ton und
den Ausdruk ganz ändern wollte. Man übersetze
den Homer so schlecht, als man wolle, wenn nur
die Folge seiner Vorstellungen bleibet, so wird man
den Dichter nie verkennen. Dies ist, was Horaz
sagt:

Invenies etiam disjecti membra poetae.

Also muß jedem guten Gedichte, wenn ihm alle
Kennzeichen, die es von der Sprache hat, benom-
men sind, etwas übrig bleiben, das den Dichter
verräth. Was in der schlechtesten Uebersetzung gar
alles Poetische verliert, ist nie ein Gedicht gewesen,
das alle dem Gedichte nöthige Eigenschaften ge-
habt hat.

Hält sich der Dichter nicht so wol bey dem Gegen-
stand, als bey seiner Empfindung auf; so hat er
auch da seinen, ihn bezeichnenden Gang. Biswei-
len sagt er uns deutlich, was ihn in die Laune oder
Leidenschaft gesetzt hat, die er äussert; andremal
müssen wirs errathen: aber in beyden Fällen unter-
scheidet sich seine Rede von der, die nicht poetisch
ist, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung oder der
Laune. Man merkt gar bald, daß der Dichter sich
nicht mehr besitzt; sein Vergnügen und sein Ver-
druß ist seiner Meister worden. Ueberlegung und
Vernunft müssen der Empfindung weichen. Bald
dräht er sich auf denselben Punkt der Empfindung
herum, bald fällt er auf mancherley Nebenvorstellun-
gen, schweift schnell weit aus, und macht uns, durch
die anscheinende Unordnung in seinem Gemüthe, stu-
tzen. Diese Unordnung aber ist immer mit großer
Lebhaftigkeit der Vorstellung begleitet, bringet starke
und kühne Gedanken und sehr lebhafte Bilder her-
vor, die den Zuhörer in Verwundrung setzen.

Dieses sind also die Hauptkennzeichen, wodurch
sich das Gedicht von jeder andern Rede unterscheidet.
Da sie von mancherley Art sind, jede Art aber viel
Grade zuläßt, so entsteht daher eine große Mannig-
faltigkeit in der Form und Beschaffenheit der Ge-
dichte, bey einerley Jnhalt.

Mehr oder weniger Züge von diesem Charakter
müssen sich nothwendig in jedem Gedichte zeigen, das
seinen Ursprung in einer poetischen Gemüthslage des
Dichters hat. Da aber manches Gedicht blos aus

Nach-

[Spaltenumbruch]

Ged
was er ſieht; oder er haͤngt nicht ſo wol dem Ge-
genſtand nach, der ihn ruͤhret, als der Wuͤrkung,
die er davon empfindet. Jm erſtern Fall mahlt der
Dichter den Gegenſtand, im andern ſeine Empfin-
dung daruͤber. Eine dritte Art des Stoffs zum
Gedicht, kann nicht erdacht werden. Nun muͤſſen
wir das Verfahren des Dichters, und wie er ſich
darin von andern Menſchen, die auch von ſeiner
Materie reden wuͤrden, unterſcheidet, in Betrach-
tung ziehen. Wie er ſich im Ausdruk unterſcheidet,
iſt ſchon angemerkt worden; alſo iſt noch die ihm
eigene Art, ſeinen Stoff zu behandeln, anzuzeigen;
denn auch dieſe giebt dem Gedicht ihren eigenen
Charakter.

Wenn der Dichter ſich mit Betrachtung des Ge-
genſtandes abgiebt, ſo iſt ſeine Abſicht blos ſich den-
ſelben ſo vorzuſtellen, wie er ihn nach ſeiner Ge-
muͤthslage am lebhafteſten ruͤhret. Er will weder,
wie der Philoſoph, ihn naͤher kennen lernen, noch
wie der Geſchichtſchreiber ihn ſo beſchreiben, daß
andre einen richtigen Begriff davon bekommen;
nicht wie der Redner ſo, daß er unſer Urtheil dar-
uͤber zu lenken oder einzunehmen ſuchen ſollte.
Seine Einbildungskraft wuͤrkt da mehr, als der
Beobachtungsgeiſt oder der Verſtand. Auch iſt dem
Dichter nicht um die genaue Richtigkeit der Vor-
ſtellung zu thun: er bildet ſich den Gegenſtand ſo
aus, wie er ihm am beſten gefaͤllt, eignet ihm alles
zu, was er darin zu ſehen wuͤnſcht, unbekuͤmmert,
ob die Sachen wuͤrklich ſo ſeyen; denn das Moͤgliche
iſt ihm eben ſo gut, als das Wuͤrkliche. Einiges
vergroͤßert er, andere Dinge macht er kleiner, bis
das Ganze ſo iſt, wie er es am liebſten zu ſehen
wuͤnſcht. Darin handelt er wie jeder Menſch, der
ſich bey Vorſtellung angenehmer Begebenheiten in
ſuͤſſe Traͤume der Phantaſie einwiegen will. Alles
wird nach ſeinem Gefallen angeordnet, hier werden
Umſtaͤnde weggelaſſen, dort andre hinzugeſetzt; jede
Perſon bekoͤmmt ihre Geſtalt und ihr Weſen, ſo wie
jedes ſich nach ſeiner Einbildung ſchiket. So macht
es auch der Dichter mit jedem Gegenſtand, den er
zum Stoff ſeines Gefanges gewaͤhlt hat. Die Theile
des Gegenſtandes, die ihn vorzuͤglich ruͤhren, ſucht
er auch mit vorzuͤglicher Lebhaftigkeit zu ſchildern;
er ſucht alles hervor, was irgend dienen kann, ſie
ſichtbar oder hoͤrbar zu machen. Daher entſtehen
bisweilen im Gedichte die umſtaͤndlichſten Beſchrei-
bungen, die bis auf die geringſten Kleinigkeiten ge-
[Spaltenumbruch]

Ged
hen, weil ſolche Beſchreibungen am geſchickteſten
ſind, den Gegenſtaͤnden in der Einbildungskraft ein
wuͤrkliches Leben zu geben.

An dieſer Art zu verfahren erkennet man den
Dichter ſehr bald, wenn man auch den Ton und
den Ausdruk ganz aͤndern wollte. Man uͤberſetze
den Homer ſo ſchlecht, als man wolle, wenn nur
die Folge ſeiner Vorſtellungen bleibet, ſo wird man
den Dichter nie verkennen. Dies iſt, was Horaz
ſagt:

Invenies etiam disjecti membra poëtæ.

Alſo muß jedem guten Gedichte, wenn ihm alle
Kennzeichen, die es von der Sprache hat, benom-
men ſind, etwas uͤbrig bleiben, das den Dichter
verraͤth. Was in der ſchlechteſten Ueberſetzung gar
alles Poetiſche verliert, iſt nie ein Gedicht geweſen,
das alle dem Gedichte noͤthige Eigenſchaften ge-
habt hat.

Haͤlt ſich der Dichter nicht ſo wol bey dem Gegen-
ſtand, als bey ſeiner Empfindung auf; ſo hat er
auch da ſeinen, ihn bezeichnenden Gang. Biswei-
len ſagt er uns deutlich, was ihn in die Laune oder
Leidenſchaft geſetzt hat, die er aͤuſſert; andremal
muͤſſen wirs errathen: aber in beyden Faͤllen unter-
ſcheidet ſich ſeine Rede von der, die nicht poetiſch
iſt, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung oder der
Laune. Man merkt gar bald, daß der Dichter ſich
nicht mehr beſitzt; ſein Vergnuͤgen und ſein Ver-
druß iſt ſeiner Meiſter worden. Ueberlegung und
Vernunft muͤſſen der Empfindung weichen. Bald
draͤht er ſich auf denſelben Punkt der Empfindung
herum, bald faͤllt er auf mancherley Nebenvorſtellun-
gen, ſchweift ſchnell weit aus, und macht uns, durch
die anſcheinende Unordnung in ſeinem Gemuͤthe, ſtu-
tzen. Dieſe Unordnung aber iſt immer mit großer
Lebhaftigkeit der Vorſtellung begleitet, bringet ſtarke
und kuͤhne Gedanken und ſehr lebhafte Bilder her-
vor, die den Zuhoͤrer in Verwundrung ſetzen.

Dieſes ſind alſo die Hauptkennzeichen, wodurch
ſich das Gedicht von jeder andern Rede unterſcheidet.
Da ſie von mancherley Art ſind, jede Art aber viel
Grade zulaͤßt, ſo entſteht daher eine große Mannig-
faltigkeit in der Form und Beſchaffenheit der Ge-
dichte, bey einerley Jnhalt.

Mehr oder weniger Zuͤge von dieſem Charakter
muͤſſen ſich nothwendig in jedem Gedichte zeigen, das
ſeinen Urſprung in einer poetiſchen Gemuͤthslage des
Dichters hat. Da aber manches Gedicht blos aus

Nach-
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[436/0448] Ged Ged was er ſieht; oder er haͤngt nicht ſo wol dem Ge- genſtand nach, der ihn ruͤhret, als der Wuͤrkung, die er davon empfindet. Jm erſtern Fall mahlt der Dichter den Gegenſtand, im andern ſeine Empfin- dung daruͤber. Eine dritte Art des Stoffs zum Gedicht, kann nicht erdacht werden. Nun muͤſſen wir das Verfahren des Dichters, und wie er ſich darin von andern Menſchen, die auch von ſeiner Materie reden wuͤrden, unterſcheidet, in Betrach- tung ziehen. Wie er ſich im Ausdruk unterſcheidet, iſt ſchon angemerkt worden; alſo iſt noch die ihm eigene Art, ſeinen Stoff zu behandeln, anzuzeigen; denn auch dieſe giebt dem Gedicht ihren eigenen Charakter. Wenn der Dichter ſich mit Betrachtung des Ge- genſtandes abgiebt, ſo iſt ſeine Abſicht blos ſich den- ſelben ſo vorzuſtellen, wie er ihn nach ſeiner Ge- muͤthslage am lebhafteſten ruͤhret. Er will weder, wie der Philoſoph, ihn naͤher kennen lernen, noch wie der Geſchichtſchreiber ihn ſo beſchreiben, daß andre einen richtigen Begriff davon bekommen; nicht wie der Redner ſo, daß er unſer Urtheil dar- uͤber zu lenken oder einzunehmen ſuchen ſollte. Seine Einbildungskraft wuͤrkt da mehr, als der Beobachtungsgeiſt oder der Verſtand. Auch iſt dem Dichter nicht um die genaue Richtigkeit der Vor- ſtellung zu thun: er bildet ſich den Gegenſtand ſo aus, wie er ihm am beſten gefaͤllt, eignet ihm alles zu, was er darin zu ſehen wuͤnſcht, unbekuͤmmert, ob die Sachen wuͤrklich ſo ſeyen; denn das Moͤgliche iſt ihm eben ſo gut, als das Wuͤrkliche. Einiges vergroͤßert er, andere Dinge macht er kleiner, bis das Ganze ſo iſt, wie er es am liebſten zu ſehen wuͤnſcht. Darin handelt er wie jeder Menſch, der ſich bey Vorſtellung angenehmer Begebenheiten in ſuͤſſe Traͤume der Phantaſie einwiegen will. Alles wird nach ſeinem Gefallen angeordnet, hier werden Umſtaͤnde weggelaſſen, dort andre hinzugeſetzt; jede Perſon bekoͤmmt ihre Geſtalt und ihr Weſen, ſo wie jedes ſich nach ſeiner Einbildung ſchiket. So macht es auch der Dichter mit jedem Gegenſtand, den er zum Stoff ſeines Gefanges gewaͤhlt hat. Die Theile des Gegenſtandes, die ihn vorzuͤglich ruͤhren, ſucht er auch mit vorzuͤglicher Lebhaftigkeit zu ſchildern; er ſucht alles hervor, was irgend dienen kann, ſie ſichtbar oder hoͤrbar zu machen. Daher entſtehen bisweilen im Gedichte die umſtaͤndlichſten Beſchrei- bungen, die bis auf die geringſten Kleinigkeiten ge- hen, weil ſolche Beſchreibungen am geſchickteſten ſind, den Gegenſtaͤnden in der Einbildungskraft ein wuͤrkliches Leben zu geben. An dieſer Art zu verfahren erkennet man den Dichter ſehr bald, wenn man auch den Ton und den Ausdruk ganz aͤndern wollte. Man uͤberſetze den Homer ſo ſchlecht, als man wolle, wenn nur die Folge ſeiner Vorſtellungen bleibet, ſo wird man den Dichter nie verkennen. Dies iſt, was Horaz ſagt: Invenies etiam disjecti membra poëtæ. Alſo muß jedem guten Gedichte, wenn ihm alle Kennzeichen, die es von der Sprache hat, benom- men ſind, etwas uͤbrig bleiben, das den Dichter verraͤth. Was in der ſchlechteſten Ueberſetzung gar alles Poetiſche verliert, iſt nie ein Gedicht geweſen, das alle dem Gedichte noͤthige Eigenſchaften ge- habt hat. Haͤlt ſich der Dichter nicht ſo wol bey dem Gegen- ſtand, als bey ſeiner Empfindung auf; ſo hat er auch da ſeinen, ihn bezeichnenden Gang. Biswei- len ſagt er uns deutlich, was ihn in die Laune oder Leidenſchaft geſetzt hat, die er aͤuſſert; andremal muͤſſen wirs errathen: aber in beyden Faͤllen unter- ſcheidet ſich ſeine Rede von der, die nicht poetiſch iſt, durch die Lebhaftigkeit der Empfindung oder der Laune. Man merkt gar bald, daß der Dichter ſich nicht mehr beſitzt; ſein Vergnuͤgen und ſein Ver- druß iſt ſeiner Meiſter worden. Ueberlegung und Vernunft muͤſſen der Empfindung weichen. Bald draͤht er ſich auf denſelben Punkt der Empfindung herum, bald faͤllt er auf mancherley Nebenvorſtellun- gen, ſchweift ſchnell weit aus, und macht uns, durch die anſcheinende Unordnung in ſeinem Gemuͤthe, ſtu- tzen. Dieſe Unordnung aber iſt immer mit großer Lebhaftigkeit der Vorſtellung begleitet, bringet ſtarke und kuͤhne Gedanken und ſehr lebhafte Bilder her- vor, die den Zuhoͤrer in Verwundrung ſetzen. Dieſes ſind alſo die Hauptkennzeichen, wodurch ſich das Gedicht von jeder andern Rede unterſcheidet. Da ſie von mancherley Art ſind, jede Art aber viel Grade zulaͤßt, ſo entſteht daher eine große Mannig- faltigkeit in der Form und Beſchaffenheit der Ge- dichte, bey einerley Jnhalt. Mehr oder weniger Zuͤge von dieſem Charakter muͤſſen ſich nothwendig in jedem Gedichte zeigen, das ſeinen Urſprung in einer poetiſchen Gemuͤthslage des Dichters hat. Da aber manches Gedicht blos aus Nach-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/448>, abgerufen am 22.11.2024.