Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
All Ueber den Gebrauch allegorischer Wesen, als Zu diesem Gebrauche der allegorischen Wesen Diejenigen Kunstrichter, die den Gebrauch der All Solche kurze Handlungen, wie in folgenden Als er mit stillem Gemüthe die große Verheißung durchdenket.(*) Noa- chide VIII. Ges. Und: Unter dem Winseln der Sünder vergaß die Flut nicht zu steigen,(*) Das. IX. Ges. Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht Aber sich lange dabey verweilen, ihre Hand- Man sucht die Sache durch die Nothwendigkeit solcher Erster Theil. E
[Spaltenumbruch]
All Ueber den Gebrauch allegoriſcher Weſen, als Zu dieſem Gebrauche der allegoriſchen Weſen Diejenigen Kunſtrichter, die den Gebrauch der All Solche kurze Handlungen, wie in folgenden Als er mit ſtillem Gemuͤthe die große Verheißung durchdenket.(*) Noa- chide VIII. Geſ. Und: Unter dem Winſeln der Suͤnder vergaß die Flut nicht zu ſteigen,(*) Daſ. IX. Geſ. Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht Aber ſich lange dabey verweilen, ihre Hand- Man ſucht die Sache durch die Nothwendigkeit ſolcher Erſter Theil. E
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Nach ihm hat <hi rendition="#fr">Voltaire</hi> in ſeiner <hi rendition="#fr">Henriade,</hi><lb/> ungeachtet er den engliſchen Dichter einer zu großen<lb/> Kuͤhnheit beſchuldiget, einen noch kuͤhnern Gebrauch<lb/> von der Zwietracht, als einer allegoriſchen Perſon,<lb/> gemacht.</p><lb/> <p>Zu dieſem Gebrauche der allegoriſchen Weſen<lb/> muͤſſen wir auch die Anruffungen an die Muſen<lb/> rechnen, uͤber deren Zulaͤßigkeit man uneinig iſt.</p><lb/> <p>Diejenigen Kunſtrichter, die den Gebrauch der<lb/> zu Perſonen gemachten allegoriſchen Weſen erlau-<lb/><note place="left">(*) S.<lb/> Breitin-<lb/> gers crit.<lb/> Dichtkunſt<lb/> 1. Theil 6.<lb/> Abſchn.</note>ben, aber gar ſehr einſchraͤnken, (*) ſcheinen fuͤr<lb/> beydes hinlaͤngliche Gruͤnde zu haben. Es waͤre<lb/> ungereimt, ſie gaͤnzlich zu verbieten, da ſie ſchon in<lb/> der gemeinen Rede vorkommen. Man ſagt uͤber-<lb/> all: <hi rendition="#fr">der Tod hat ihn uͤbereilt,</hi> und hundert ſol-<lb/> che Ausdruͤke, die daher entſtehen, daß wir auch<lb/> den abgezogenſten Begriffen immer etwas Sinnli-<lb/> ches anhaͤngen. Daher haben kurze Ausdehnungen<lb/> ſolcher Metaphern gar nichts Anſtoͤßiges. 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All
All
Ueber den Gebrauch allegoriſcher Weſen, als
Perſonen, die an den Haupthandlungen Theil neh-
men, ſind die Kunſtrichter nicht einig. Er iſt haupt-
ſaͤchlich durch die Neuern aufgekommen. Wenig-
ſtens findet man nur ſelten Beyſpiele davon bey
den Alten, und ihr Gebrauch iſt gleichſam nur im
Vorbeygehen. Nur Aeſchylus hat die Furien,
als Hauptperſonen im Trauerſpiel aufgefuͤhrt, und
Ariſtophanes den Mars. Da aber dieſe Weſen
in der Religion des Volks wuͤrkliche Weſen waren,
ſo konnte dieſes deſto weniger bedenklich ſeyn. Jn
der Fabel haben die Alten dergleichen Weſen ohne
Bedenken gebraucht, wie wol ein Alter auch davon
als von einer unnatuͤrlichen Sache ſpricht. (*) Es
kann wol ſeyn, daß der barbariſche Geſchmak, der
noch vor zwey Jahrhunderten geherrſcht hat, den
Gebrauch dieſer Weſen eingefuͤhrt hat; da in den
abgeſchmakten dramatiſchen Schauſpielen ſelbiger Zeit
eine Menge allegoriſcher Perſonen handelnd einge-
fuͤhrt werden. Milton hat in ſeinem verlohrnen
Paradies ſich derſelben als ein ſchoͤpferiſcher Geiſt
bedient. Nach ihm hat Voltaire in ſeiner Henriade,
ungeachtet er den engliſchen Dichter einer zu großen
Kuͤhnheit beſchuldiget, einen noch kuͤhnern Gebrauch
von der Zwietracht, als einer allegoriſchen Perſon,
gemacht.
(*) Priſco
illo dicen
di et horri-
do modo.
Liv. L. II.
c. 32.
Zu dieſem Gebrauche der allegoriſchen Weſen
muͤſſen wir auch die Anruffungen an die Muſen
rechnen, uͤber deren Zulaͤßigkeit man uneinig iſt.
Diejenigen Kunſtrichter, die den Gebrauch der
zu Perſonen gemachten allegoriſchen Weſen erlau-
ben, aber gar ſehr einſchraͤnken, (*) ſcheinen fuͤr
beydes hinlaͤngliche Gruͤnde zu haben. Es waͤre
ungereimt, ſie gaͤnzlich zu verbieten, da ſie ſchon in
der gemeinen Rede vorkommen. Man ſagt uͤber-
all: der Tod hat ihn uͤbereilt, und hundert ſol-
che Ausdruͤke, die daher entſtehen, daß wir auch
den abgezogenſten Begriffen immer etwas Sinnli-
ches anhaͤngen. Daher haben kurze Ausdehnungen
ſolcher Metaphern gar nichts Anſtoͤßiges. Aber
die Taͤuſchung, die uns allgemeine Begriffe als
koͤrperliche Gegenſtaͤnde vorſtellt, erhaͤlt ſich nur
in der ſchnellen Fortruͤkung der Gedanken; durch
allzu langes Verweilen wird ſie aufgehoben: als-
denn finden wir das Ungereimte in der Sache.
Daher iſt es ein kluger Rath, daß man ſich nicht
zu lange bey ſolchen allegoriſchen Weſen verweilen
ſolle.
(*) S.
Breitin-
gers crit.
Dichtkunſt
1. Theil 6.
Abſchn.
Solche kurze Handlungen, wie in folgenden
Beyſpielen:
Als er mit ſtillem Gemuͤthe die große Verheißung durchdenket.
— — — — — — —
Siehe! da lauſchte der Tod, im Hinterhalte verborgen,
Sah ihn in ſtiller Betrachtung die Wege des Hoͤchſten
erforſchen:
Einer von ſeinen ſanfteſten Pfeilen, in Balſam getunket,
Trifft ihn ins Herz. (*)
Und:
Unter dem Winſeln der Suͤnder vergaß die Flut nicht zu ſteigen,
Nicht ſie mit ehernen Hoͤrnern zu faſſen und dahin zu reißen,
Wo der Tod ſie mit unerſaͤttlicher Mordluſt erwartet.
Selbigen Tag gelang ihm das Wuͤrgen der Thier’ und der
Menſchen;
Niemals zuvor und niemals hernach gelang es ihm beſſer;
Denn er erwuͤrgt mit jeglichem Streich Myriaden Geſchoͤpfe.
Als er ſie alle gewuͤrgt, ſo ſprach er: wie iſt es ſo wenig. (*)
Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht
Zeit, aus der Tauͤſchung, daß bloße Begriffe han-
delnde Weſen ſeyn, heraus zu kommen. Was der
Dichter ihnen zuſchreibt, kommt mit dem uͤberein,
was wir uns von ihnen einbilden und giebt un-
ſerer Einbildung mehr Lebhaftigkeit.
Aber ſich lange dabey verweilen, ihre Hand-
lung entwikeln, und ſo gar mancherley Nebenum-
ſtaͤnde hereinbringen, die das Gefuͤhl von der Un-
moͤglichkeit der Sache erweken, dieſes macht die
ganze Sache anſtoͤßig. Daher laͤßt ſich begreiffen,
wie ſo viel Perſonen von Geſchmak es unleidlich
finden, daß Voltaire die Zweytracht große Reiſen
thun, und mit der Politik in Unterhandlung tre-
ten laͤßt. Durch ſolche Weitlaͤuftigkeit laͤßt man
dem Leſer Zeit ſich zu beſinnen und aus der hier ſo
nothwendigen Taͤuſchung zu kommen. Es begeg-
net alsdenn jederman, was ſeichten Koͤpfen, deren
Einbildungskraft ohne Lebenswaͤrme iſt, ſchon bey
ungewoͤhnlichen Metaphern begegnet, die bey dem
Ausdruk, Der Tod fraß Menſchen und Vieh,
fragen, ob er denn einen Mund und einen Magen
habe. Freylich wird dem, der das, was die Ein-
bildungskraft im ganzen ſinnlich faßen ſoll, nach-
denklich zergliedern will, auch die gemeinſte Me-
tapher anſtoͤßig. Aber auch der waͤrmſten Ein-
bildungskraft geſchieht dieſes, wenn man ihr die
allegoriſchen Perſonen zu lange im Geſichte laͤßt,
und ſie, durch das umſtaͤndliche in der Vorſtellung,
zwingt nachdenklich zu werden.
Man ſucht die Sache durch die Nothwendigkeit
zu rechtfertigen, die Handlung durch Einmiſchung
ſolcher
Erſter Theil. E
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