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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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All

Ueber den Gebrauch allegorischer Wesen, als
Personen, die an den Haupthandlungen Theil neh-
men, sind die Kunstrichter nicht einig. Er ist haupt-
sächlich durch die Neuern aufgekommen. Wenig-
stens findet man nur selten Beyspiele davon bey
den Alten, und ihr Gebrauch ist gleichsam nur im
Vorbeygehen. Nur Aeschylus hat die Furien,
als Hauptpersonen im Trauerspiel aufgeführt, und
Aristophanes den Mars. Da aber diese Wesen
in der Religion des Volks würkliche Wesen waren,
so konnte dieses desto weniger bedenklich seyn. Jn
der Fabel haben die Alten dergleichen Wesen ohne
Bedenken gebraucht, wie wol ein Alter auch davon
(*) Prisco
illo dicen
di et horri-
do
modo.
Liv. L. II.
c.
32.
als von einer unnatürlichen Sache spricht. (*) Es
kann wol seyn, daß der barbarische Geschmak, der
noch vor zwey Jahrhunderten geherrscht hat, den
Gebrauch dieser Wesen eingeführt hat; da in den
abgeschmakten dramatischen Schauspielen selbiger Zeit
eine Menge allegorischer Personen handelnd einge-
führt werden. Milton hat in seinem verlohrnen
Paradies sich derselben als ein schöpferischer Geist
bedient. Nach ihm hat Voltaire in seiner Henriade,
ungeachtet er den englischen Dichter einer zu großen
Kühnheit beschuldiget, einen noch kühnern Gebrauch
von der Zwietracht, als einer allegorischen Person,
gemacht.

Zu diesem Gebrauche der allegorischen Wesen
müssen wir auch die Anruffungen an die Musen
rechnen, über deren Zuläßigkeit man uneinig ist.

Diejenigen Kunstrichter, die den Gebrauch der
zu Personen gemachten allegorischen Wesen erlau-
(*) S.
Breitin-
gers crit.
Dichtkunst
1. Theil 6.
Abschn.
ben, aber gar sehr einschränken, (*) scheinen für
beydes hinlängliche Gründe zu haben. Es wäre
ungereimt, sie gänzlich zu verbieten, da sie schon in
der gemeinen Rede vorkommen. Man sagt über-
all: der Tod hat ihn übereilt, und hundert sol-
che Ausdrüke, die daher entstehen, daß wir auch
den abgezogensten Begriffen immer etwas Sinnli-
ches anhängen. Daher haben kurze Ausdehnungen
solcher Metaphern gar nichts Anstößiges. Aber
die Täuschung, die uns allgemeine Begriffe als
körperliche Gegenstände vorstellt, erhält sich nur
in der schnellen Fortrükung der Gedanken; durch
allzu langes Verweilen wird sie aufgehoben: als-
denn finden wir das Ungereimte in der Sache.
Daher ist es ein kluger Rath, daß man sich nicht
zu lange bey solchen allegorischen Wesen verweilen
solle.

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All

Solche kurze Handlungen, wie in folgenden
Beyspielen:

Als er mit stillem Gemüthe die große Verheißung durchdenket.
-- -- -- -- -- -- --
Siehe! da lauschte der Tod, im Hinterhalte verborgen,
Sah ihn in stiller Betrachtung die Wege des Höchsten
erforschen:
Einer von seinen sanftesten Pfeilen, in Balsam getunket,
Trifft ihn ins Herz. (*)
(*) Noa-
chide VIII.
Ges.

Und:

Unter dem Winseln der Sünder vergaß die Flut nicht zu steigen,
Nicht sie mit ehernen Hörnern zu fassen und dahin zu reißen,
Wo der Tod sie mit unersättlicher Mordlust erwartet.
Selbigen Tag gelang ihm das Würgen der Thier' und der
Menschen;
Niemals zuvor und niemals hernach gelang es ihm besser;
Denn er erwürgt mit jeglichem Streich Myriaden Geschöpfe.
Als er sie alle gewürgt, so sprach er: wie ist es so wenig. (*)
(*) Das.
IX. Ges.

Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht
Zeit, aus der Taüschung, daß bloße Begriffe han-
delnde Wesen seyn, heraus zu kommen. Was der
Dichter ihnen zuschreibt, kommt mit dem überein,
was wir uns von ihnen einbilden und giebt un-
serer Einbildung mehr Lebhaftigkeit.

Aber sich lange dabey verweilen, ihre Hand-
lung entwikeln, und so gar mancherley Nebenum-
stände hereinbringen, die das Gefühl von der Un-
möglichkeit der Sache erweken, dieses macht die
ganze Sache anstößig. Daher läßt sich begreiffen,
wie so viel Personen von Geschmak es unleidlich
finden, daß Voltaire die Zweytracht große Reisen
thun, und mit der Politik in Unterhandlung tre-
ten läßt. Durch solche Weitläuftigkeit läßt man
dem Leser Zeit sich zu besinnen und aus der hier so
nothwendigen Täuschung zu kommen. Es begeg-
net alsdenn jederman, was seichten Köpfen, deren
Einbildungskraft ohne Lebenswärme ist, schon bey
ungewöhnlichen Metaphern begegnet, die bey dem
Ausdruk, Der Tod fraß Menschen und Vieh,
fragen, ob er denn einen Mund und einen Magen
habe. Freylich wird dem, der das, was die Ein-
bildungskraft im ganzen sinnlich faßen soll, nach-
denklich zergliedern will, auch die gemeinste Me-
tapher anstößig. Aber auch der wärmsten Ein-
bildungskraft geschieht dieses, wenn man ihr die
allegorischen Personen zu lange im Gesichte läßt,
und sie, durch das umständliche in der Vorstellung,
zwingt nachdenklich zu werden.

Man sucht die Sache durch die Nothwendigkeit
zu rechtfertigen, die Handlung durch Einmischung

solcher
Erster Theil. E
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All

Ueber den Gebrauch allegoriſcher Weſen, als
Perſonen, die an den Haupthandlungen Theil neh-
men, ſind die Kunſtrichter nicht einig. Er iſt haupt-
ſaͤchlich durch die Neuern aufgekommen. Wenig-
ſtens findet man nur ſelten Beyſpiele davon bey
den Alten, und ihr Gebrauch iſt gleichſam nur im
Vorbeygehen. Nur Aeſchylus hat die Furien,
als Hauptperſonen im Trauerſpiel aufgefuͤhrt, und
Ariſtophanes den Mars. Da aber dieſe Weſen
in der Religion des Volks wuͤrkliche Weſen waren,
ſo konnte dieſes deſto weniger bedenklich ſeyn. Jn
der Fabel haben die Alten dergleichen Weſen ohne
Bedenken gebraucht, wie wol ein Alter auch davon
(*) Priſco
illo dicen
di et horri-
do
modo.
Liv. L. II.
c.
32.
als von einer unnatuͤrlichen Sache ſpricht. (*) Es
kann wol ſeyn, daß der barbariſche Geſchmak, der
noch vor zwey Jahrhunderten geherrſcht hat, den
Gebrauch dieſer Weſen eingefuͤhrt hat; da in den
abgeſchmakten dramatiſchen Schauſpielen ſelbiger Zeit
eine Menge allegoriſcher Perſonen handelnd einge-
fuͤhrt werden. Milton hat in ſeinem verlohrnen
Paradies ſich derſelben als ein ſchoͤpferiſcher Geiſt
bedient. Nach ihm hat Voltaire in ſeiner Henriade,
ungeachtet er den engliſchen Dichter einer zu großen
Kuͤhnheit beſchuldiget, einen noch kuͤhnern Gebrauch
von der Zwietracht, als einer allegoriſchen Perſon,
gemacht.

Zu dieſem Gebrauche der allegoriſchen Weſen
muͤſſen wir auch die Anruffungen an die Muſen
rechnen, uͤber deren Zulaͤßigkeit man uneinig iſt.

Diejenigen Kunſtrichter, die den Gebrauch der
zu Perſonen gemachten allegoriſchen Weſen erlau-
(*) S.
Breitin-
gers crit.
Dichtkunſt
1. Theil 6.
Abſchn.
ben, aber gar ſehr einſchraͤnken, (*) ſcheinen fuͤr
beydes hinlaͤngliche Gruͤnde zu haben. Es waͤre
ungereimt, ſie gaͤnzlich zu verbieten, da ſie ſchon in
der gemeinen Rede vorkommen. Man ſagt uͤber-
all: der Tod hat ihn uͤbereilt, und hundert ſol-
che Ausdruͤke, die daher entſtehen, daß wir auch
den abgezogenſten Begriffen immer etwas Sinnli-
ches anhaͤngen. Daher haben kurze Ausdehnungen
ſolcher Metaphern gar nichts Anſtoͤßiges. Aber
die Taͤuſchung, die uns allgemeine Begriffe als
koͤrperliche Gegenſtaͤnde vorſtellt, erhaͤlt ſich nur
in der ſchnellen Fortruͤkung der Gedanken; durch
allzu langes Verweilen wird ſie aufgehoben: als-
denn finden wir das Ungereimte in der Sache.
Daher iſt es ein kluger Rath, daß man ſich nicht
zu lange bey ſolchen allegoriſchen Weſen verweilen
ſolle.

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All

Solche kurze Handlungen, wie in folgenden
Beyſpielen:

Als er mit ſtillem Gemuͤthe die große Verheißung durchdenket.
— — — — — — —
Siehe! da lauſchte der Tod, im Hinterhalte verborgen,
Sah ihn in ſtiller Betrachtung die Wege des Hoͤchſten
erforſchen:
Einer von ſeinen ſanfteſten Pfeilen, in Balſam getunket,
Trifft ihn ins Herz. (*)
(*) Noa-
chide VIII.
Geſ.

Und:

Unter dem Winſeln der Suͤnder vergaß die Flut nicht zu ſteigen,
Nicht ſie mit ehernen Hoͤrnern zu faſſen und dahin zu reißen,
Wo der Tod ſie mit unerſaͤttlicher Mordluſt erwartet.
Selbigen Tag gelang ihm das Wuͤrgen der Thier’ und der
Menſchen;
Niemals zuvor und niemals hernach gelang es ihm beſſer;
Denn er erwuͤrgt mit jeglichem Streich Myriaden Geſchoͤpfe.
Als er ſie alle gewuͤrgt, ſo ſprach er: wie iſt es ſo wenig. (*)
(*) Daſ.
IX. Geſ.

Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht
Zeit, aus der Tauͤſchung, daß bloße Begriffe han-
delnde Weſen ſeyn, heraus zu kommen. Was der
Dichter ihnen zuſchreibt, kommt mit dem uͤberein,
was wir uns von ihnen einbilden und giebt un-
ſerer Einbildung mehr Lebhaftigkeit.

Aber ſich lange dabey verweilen, ihre Hand-
lung entwikeln, und ſo gar mancherley Nebenum-
ſtaͤnde hereinbringen, die das Gefuͤhl von der Un-
moͤglichkeit der Sache erweken, dieſes macht die
ganze Sache anſtoͤßig. Daher laͤßt ſich begreiffen,
wie ſo viel Perſonen von Geſchmak es unleidlich
finden, daß Voltaire die Zweytracht große Reiſen
thun, und mit der Politik in Unterhandlung tre-
ten laͤßt. Durch ſolche Weitlaͤuftigkeit laͤßt man
dem Leſer Zeit ſich zu beſinnen und aus der hier ſo
nothwendigen Taͤuſchung zu kommen. Es begeg-
net alsdenn jederman, was ſeichten Koͤpfen, deren
Einbildungskraft ohne Lebenswaͤrme iſt, ſchon bey
ungewoͤhnlichen Metaphern begegnet, die bey dem
Ausdruk, Der Tod fraß Menſchen und Vieh,
fragen, ob er denn einen Mund und einen Magen
habe. Freylich wird dem, der das, was die Ein-
bildungskraft im ganzen ſinnlich faßen ſoll, nach-
denklich zergliedern will, auch die gemeinſte Me-
tapher anſtoͤßig. Aber auch der waͤrmſten Ein-
bildungskraft geſchieht dieſes, wenn man ihr die
allegoriſchen Perſonen zu lange im Geſichte laͤßt,
und ſie, durch das umſtaͤndliche in der Vorſtellung,
zwingt nachdenklich zu werden.

Man ſucht die Sache durch die Nothwendigkeit
zu rechtfertigen, die Handlung durch Einmiſchung

ſolcher
Erſter Theil. E
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[33/0045] All All Ueber den Gebrauch allegoriſcher Weſen, als Perſonen, die an den Haupthandlungen Theil neh- men, ſind die Kunſtrichter nicht einig. Er iſt haupt- ſaͤchlich durch die Neuern aufgekommen. Wenig- ſtens findet man nur ſelten Beyſpiele davon bey den Alten, und ihr Gebrauch iſt gleichſam nur im Vorbeygehen. Nur Aeſchylus hat die Furien, als Hauptperſonen im Trauerſpiel aufgefuͤhrt, und Ariſtophanes den Mars. Da aber dieſe Weſen in der Religion des Volks wuͤrkliche Weſen waren, ſo konnte dieſes deſto weniger bedenklich ſeyn. Jn der Fabel haben die Alten dergleichen Weſen ohne Bedenken gebraucht, wie wol ein Alter auch davon als von einer unnatuͤrlichen Sache ſpricht. (*) Es kann wol ſeyn, daß der barbariſche Geſchmak, der noch vor zwey Jahrhunderten geherrſcht hat, den Gebrauch dieſer Weſen eingefuͤhrt hat; da in den abgeſchmakten dramatiſchen Schauſpielen ſelbiger Zeit eine Menge allegoriſcher Perſonen handelnd einge- fuͤhrt werden. Milton hat in ſeinem verlohrnen Paradies ſich derſelben als ein ſchoͤpferiſcher Geiſt bedient. Nach ihm hat Voltaire in ſeiner Henriade, ungeachtet er den engliſchen Dichter einer zu großen Kuͤhnheit beſchuldiget, einen noch kuͤhnern Gebrauch von der Zwietracht, als einer allegoriſchen Perſon, gemacht. (*) Priſco illo dicen di et horri- do modo. Liv. L. II. c. 32. Zu dieſem Gebrauche der allegoriſchen Weſen muͤſſen wir auch die Anruffungen an die Muſen rechnen, uͤber deren Zulaͤßigkeit man uneinig iſt. Diejenigen Kunſtrichter, die den Gebrauch der zu Perſonen gemachten allegoriſchen Weſen erlau- ben, aber gar ſehr einſchraͤnken, (*) ſcheinen fuͤr beydes hinlaͤngliche Gruͤnde zu haben. Es waͤre ungereimt, ſie gaͤnzlich zu verbieten, da ſie ſchon in der gemeinen Rede vorkommen. Man ſagt uͤber- all: der Tod hat ihn uͤbereilt, und hundert ſol- che Ausdruͤke, die daher entſtehen, daß wir auch den abgezogenſten Begriffen immer etwas Sinnli- ches anhaͤngen. Daher haben kurze Ausdehnungen ſolcher Metaphern gar nichts Anſtoͤßiges. Aber die Taͤuſchung, die uns allgemeine Begriffe als koͤrperliche Gegenſtaͤnde vorſtellt, erhaͤlt ſich nur in der ſchnellen Fortruͤkung der Gedanken; durch allzu langes Verweilen wird ſie aufgehoben: als- denn finden wir das Ungereimte in der Sache. Daher iſt es ein kluger Rath, daß man ſich nicht zu lange bey ſolchen allegoriſchen Weſen verweilen ſolle. (*) S. Breitin- gers crit. Dichtkunſt 1. Theil 6. Abſchn. Solche kurze Handlungen, wie in folgenden Beyſpielen: Als er mit ſtillem Gemuͤthe die große Verheißung durchdenket. — — — — — — — Siehe! da lauſchte der Tod, im Hinterhalte verborgen, Sah ihn in ſtiller Betrachtung die Wege des Hoͤchſten erforſchen: Einer von ſeinen ſanfteſten Pfeilen, in Balſam getunket, Trifft ihn ins Herz. (*) Und: Unter dem Winſeln der Suͤnder vergaß die Flut nicht zu ſteigen, Nicht ſie mit ehernen Hoͤrnern zu faſſen und dahin zu reißen, Wo der Tod ſie mit unerſaͤttlicher Mordluſt erwartet. Selbigen Tag gelang ihm das Wuͤrgen der Thier’ und der Menſchen; Niemals zuvor und niemals hernach gelang es ihm beſſer; Denn er erwuͤrgt mit jeglichem Streich Myriaden Geſchoͤpfe. Als er ſie alle gewuͤrgt, ſo ſprach er: wie iſt es ſo wenig. (*) Dergleichen kurze Handlungen laßen uns nicht Zeit, aus der Tauͤſchung, daß bloße Begriffe han- delnde Weſen ſeyn, heraus zu kommen. Was der Dichter ihnen zuſchreibt, kommt mit dem uͤberein, was wir uns von ihnen einbilden und giebt un- ſerer Einbildung mehr Lebhaftigkeit. Aber ſich lange dabey verweilen, ihre Hand- lung entwikeln, und ſo gar mancherley Nebenum- ſtaͤnde hereinbringen, die das Gefuͤhl von der Un- moͤglichkeit der Sache erweken, dieſes macht die ganze Sache anſtoͤßig. Daher laͤßt ſich begreiffen, wie ſo viel Perſonen von Geſchmak es unleidlich finden, daß Voltaire die Zweytracht große Reiſen thun, und mit der Politik in Unterhandlung tre- ten laͤßt. Durch ſolche Weitlaͤuftigkeit laͤßt man dem Leſer Zeit ſich zu beſinnen und aus der hier ſo nothwendigen Taͤuſchung zu kommen. Es begeg- net alsdenn jederman, was ſeichten Koͤpfen, deren Einbildungskraft ohne Lebenswaͤrme iſt, ſchon bey ungewoͤhnlichen Metaphern begegnet, die bey dem Ausdruk, Der Tod fraß Menſchen und Vieh, fragen, ob er denn einen Mund und einen Magen habe. Freylich wird dem, der das, was die Ein- bildungskraft im ganzen ſinnlich faßen ſoll, nach- denklich zergliedern will, auch die gemeinſte Me- tapher anſtoͤßig. Aber auch der waͤrmſten Ein- bildungskraft geſchieht dieſes, wenn man ihr die allegoriſchen Perſonen zu lange im Geſichte laͤßt, und ſie, durch das umſtaͤndliche in der Vorſtellung, zwingt nachdenklich zu werden. Man ſucht die Sache durch die Nothwendigkeit zu rechtfertigen, die Handlung durch Einmiſchung ſolcher Erſter Theil. E

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/45>, abgerufen am 29.03.2024.