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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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habene durch den Gegensatz beym Virgil, da Neptun
durch ein Wort das gräuliche Brausen der Sturm-
winde legt.

Der Gegensatz ist ein Mittel die Sachen zu ver-
grössern oder zu verkleinern, oder überhaupt ihnen
Nachdruk zu geben. Er kann einen höhern Grad
des Traurigen, und des Lustigen oder Lächerlichen
hervorbringen, und so gar das Erhabene würken.
Dieses fühlt man, wenn Horaz von der Europa
sagt:

Nuper in pratis studiosa florum et
Debitae Nymphis opifex coronae,
Nocte sublustri nihil astra praeter

(*) L. III.
od.
27.
Vidit et undas. (*)

Von dem Nachdruk und der Vergrösserung durch
Gegensätze kann auch folgende Stelle desselben Dich-
(*) Od.
II.
15.
ters (*) uns zum Beyspiel dienen. Er will die
übertriebene Pracht und den unvernünftigen Auf-
wand der Römer, in Absicht auf ihre Landgüter,
Gebäude und Lustgärten lebhaft vorstellen, und be-
würkt den größten Nachdruk durch beständige Ge-
gensätze.

Jam pauca aratro jugera regiae
Moles relinquent. -- -- --
-- -- Platanusque celebs
Evincet ulmos: tum violaria et
Myrtus et omnis copia narium,
Spargent olivetis odorem
Fertilibus domino priori.

Er stellt das Pflügen der fruchtbaren Felder, der
Verderbung derselben durch ungeheuere Gebäude,
das Pflanzen des unnützen und unfruchtbaren Pla-
tanus, dem mit Weinreben beladenen Ulmenbaum,
die bloßen dufthauchenden Gärten, den fruchtba-
ren Baumgärten entgegen, und giebt dadurch sei-
nen Gedanken von der übertriebenen Ueppigkeit ei-
nen großen Nachdruk. Eben so bedienet sich Vir-
gil eines Gegensatzes, um die Hoheit und Würde der
Römer über andre Völker desto lebhafter fühlen
zu machen:

Excudent alii spirantia mollius aera
Credo equidem; vivos ducent de marmore vultus:
Tu regere imperio populos Romane memento;

(*) Aen.
L. VI.
Hae tibi erunt artes. (*)

Wie der Gegensatz das Tragische verstärke, haben
wir schon oben an einigen Beyspielen gesehen: fol-
gende verdienen noch besonders überlegt zu werden.
Jn dem Philoktet des Sophokles merkt der Chor,
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Geg
aus der Nähe einer seufzenden Stimme, daß dieser
unglükliche Held, den er sucht, nicht fern seyn
könne, und sagt deswegen: Er kömmt; aber nicht
wie die Schäfer, deren Ankunft der Ton der Flöte
verkündiget - ihn meldet ein schmerzhaftes Stöhnen,
als wenn er sich an einen Stein gestoßen hätte.

Durch diesen Gegensatz, da dem Philoktet, der eine
einsame Jnsel bewohnte, Schäfer entgegen gestellt
werden, deren freudigen Aufzug man von weitem
durch den lieblichen Ton der Flöte vernimmt, da er
hingegen seine Ankunft durch Seufzen und Stöh-
nen verräth, wird sein Zustand weit trauriger.
Eben diese Würkung zur Vermehrung des Tragi-
schen hat Euripides in der Jphigenia in Aulis,
durch eine ganz besondere Art des Gegensatzes erhal-
ten, da er dem würklichen Elende der Jphigenia,
die es noch nicht wußte, ihre vermeinte Glückse-
ligkeit entgegen setzt. Als Clytemnestra mit ihrer
Tochter in Aulis ankömmt und aus dem Wagen
steigt, wird sie von der Menge glüklich gepriesen.
Der Zuschauer aber ist schon von dem Elend,
das auf sie wartet, unterrichtet, und fühlt es
durch diesen Gegensatz desto lebhafter. Man sieht
die liebenswürdige Jphigenia ankommen, um eine
Stunde hernach ein Schlachtopfer des Ehrgeizes
ihres Vaters zu werden. Der Chor bewillkommet
sie mit folgenden Worten:

O wie herrlich ist das Glük der Großen! Se-
het die fürstliche Jphigenia, meine Königin, und
die Clytemnestra aus dem vornehmsten Geblüte.
Aus was für hohem Stamme beyde entsprossen, und
was für lange daurendem Glüke sie entgegen gehen!

Bey diesem Freudengesang sieht der Zuschauer
schon das Elend dieser so glüklich gepriesenen Perso-
nen, und dieses macht einen sehr hohen Grad des
Tragischen. Wie wunderbar tragisch ist folgende
Vorstellung;

-- -- und andre
Machten Strik' aus ihren goldfarbigten langen Loken,
Doch zu weit anderm Gebrauch, als der Liebe. (*)
(*) Noah.
IX Ges.

Man kann aus diesen Beyspielen hinlänglich sehen,
daß glükliche Gegensätze in leidenschaftlichen Gegen-
ständen die höchste Rührung hervorbringen können.

Durch den Gegensatz aber kann eine Sache auch
Lächerlich und Poßierlich werden; denn die Verglei-
chung des Großen mit dem Kleinen ist eine von den
Quellen des Lächerlichen, wovon wir in seinem
Artikel Beyspiele gegeben haben.

Man

[Spaltenumbruch]

Geg
habene durch den Gegenſatz beym Virgil, da Neptun
durch ein Wort das graͤuliche Brauſen der Sturm-
winde legt.

Der Gegenſatz iſt ein Mittel die Sachen zu ver-
groͤſſern oder zu verkleinern, oder uͤberhaupt ihnen
Nachdruk zu geben. Er kann einen hoͤhern Grad
des Traurigen, und des Luſtigen oder Laͤcherlichen
hervorbringen, und ſo gar das Erhabene wuͤrken.
Dieſes fuͤhlt man, wenn Horaz von der Europa
ſagt:

Nuper in pratis ſtudioſa florum et
Debitæ Nymphis opifex coronæ,
Nocte ſubluſtri nihil aſtra præter

(*) L. III.
od.
27.
Vidit et undas. (*)

Von dem Nachdruk und der Vergroͤſſerung durch
Gegenſaͤtze kann auch folgende Stelle deſſelben Dich-
(*) Od.
II.
15.
ters (*) uns zum Beyſpiel dienen. Er will die
uͤbertriebene Pracht und den unvernuͤnftigen Auf-
wand der Roͤmer, in Abſicht auf ihre Landguͤter,
Gebaͤude und Luſtgaͤrten lebhaft vorſtellen, und be-
wuͤrkt den groͤßten Nachdruk durch beſtaͤndige Ge-
genſaͤtze.

Jam pauca aratro jugera regiae
Moles relinquent. — — —
— — Platanuſque celebs
Evincet ulmos: tum violaria et
Myrtus et omnis copia narium,
Spargent olivetis odorem
Fertilibus domino priori.

Er ſtellt das Pfluͤgen der fruchtbaren Felder, der
Verderbung derſelben durch ungeheuere Gebaͤude,
das Pflanzen des unnuͤtzen und unfruchtbaren Pla-
tanus, dem mit Weinreben beladenen Ulmenbaum,
die bloßen dufthauchenden Gaͤrten, den fruchtba-
ren Baumgaͤrten entgegen, und giebt dadurch ſei-
nen Gedanken von der uͤbertriebenen Ueppigkeit ei-
nen großen Nachdruk. Eben ſo bedienet ſich Vir-
gil eines Gegenſatzes, um die Hoheit und Wuͤrde der
Roͤmer uͤber andre Voͤlker deſto lebhafter fuͤhlen
zu machen:

Excudent alii ſpirantia mollius æra
Credo equidem; vivos ducent de marmore vultus:
Tu regere imperio populos Romane memento;

(*) Aen.
L. VI.
Hæ tibi erunt artes. (*)

Wie der Gegenſatz das Tragiſche verſtaͤrke, haben
wir ſchon oben an einigen Beyſpielen geſehen: fol-
gende verdienen noch beſonders uͤberlegt zu werden.
Jn dem Philoktet des Sophokles merkt der Chor,
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Geg
aus der Naͤhe einer ſeufzenden Stimme, daß dieſer
ungluͤkliche Held, den er ſucht, nicht fern ſeyn
koͤnne, und ſagt deswegen: Er koͤmmt; aber nicht
wie die Schaͤfer, deren Ankunft der Ton der Floͤte
verkuͤndiget ‒ ihn meldet ein ſchmerzhaftes Stoͤhnen,
als wenn er ſich an einen Stein geſtoßen haͤtte.

Durch dieſen Gegenſatz, da dem Philoktet, der eine
einſame Jnſel bewohnte, Schaͤfer entgegen geſtellt
werden, deren freudigen Aufzug man von weitem
durch den lieblichen Ton der Floͤte vernimmt, da er
hingegen ſeine Ankunft durch Seufzen und Stoͤh-
nen verraͤth, wird ſein Zuſtand weit trauriger.
Eben dieſe Wuͤrkung zur Vermehrung des Tragi-
ſchen hat Euripides in der Jphigenia in Aulis,
durch eine ganz beſondere Art des Gegenſatzes erhal-
ten, da er dem wuͤrklichen Elende der Jphigenia,
die es noch nicht wußte, ihre vermeinte Gluͤckſe-
ligkeit entgegen ſetzt. Als Clytemneſtra mit ihrer
Tochter in Aulis ankoͤmmt und aus dem Wagen
ſteigt, wird ſie von der Menge gluͤklich geprieſen.
Der Zuſchauer aber iſt ſchon von dem Elend,
das auf ſie wartet, unterrichtet, und fuͤhlt es
durch dieſen Gegenſatz deſto lebhafter. Man ſieht
die liebenswuͤrdige Jphigenia ankommen, um eine
Stunde hernach ein Schlachtopfer des Ehrgeizes
ihres Vaters zu werden. Der Chor bewillkommet
ſie mit folgenden Worten:

O wie herrlich iſt das Gluͤk der Großen! Se-
het die fuͤrſtliche Jphigenia, meine Koͤnigin, und
die Clytemneſtra aus dem vornehmſten Gebluͤte.
Aus was fuͤr hohem Stamme beyde entſproſſen, und
was fuͤr lange daurendem Gluͤke ſie entgegen gehen!

Bey dieſem Freudengeſang ſieht der Zuſchauer
ſchon das Elend dieſer ſo gluͤklich geprieſenen Perſo-
nen, und dieſes macht einen ſehr hohen Grad des
Tragiſchen. Wie wunderbar tragiſch iſt folgende
Vorſtellung;

— — und andre
Machten Strik’ aus ihren goldfarbigten langen Loken,
Doch zu weit anderm Gebrauch, als der Liebe. (*)
(*) Noah.
IX Geſ.

Man kann aus dieſen Beyſpielen hinlaͤnglich ſehen,
daß gluͤkliche Gegenſaͤtze in leidenſchaftlichen Gegen-
ſtaͤnden die hoͤchſte Ruͤhrung hervorbringen koͤnnen.

Durch den Gegenſatz aber kann eine Sache auch
Laͤcherlich und Poßierlich werden; denn die Verglei-
chung des Großen mit dem Kleinen iſt eine von den
Quellen des Laͤcherlichen, wovon wir in ſeinem
Artikel Beyſpiele gegeben haben.

Man
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[442/0454] Geg Geg habene durch den Gegenſatz beym Virgil, da Neptun durch ein Wort das graͤuliche Brauſen der Sturm- winde legt. Der Gegenſatz iſt ein Mittel die Sachen zu ver- groͤſſern oder zu verkleinern, oder uͤberhaupt ihnen Nachdruk zu geben. Er kann einen hoͤhern Grad des Traurigen, und des Luſtigen oder Laͤcherlichen hervorbringen, und ſo gar das Erhabene wuͤrken. Dieſes fuͤhlt man, wenn Horaz von der Europa ſagt: Nuper in pratis ſtudioſa florum et Debitæ Nymphis opifex coronæ, Nocte ſubluſtri nihil aſtra præter Vidit et undas. (*) Von dem Nachdruk und der Vergroͤſſerung durch Gegenſaͤtze kann auch folgende Stelle deſſelben Dich- ters (*) uns zum Beyſpiel dienen. Er will die uͤbertriebene Pracht und den unvernuͤnftigen Auf- wand der Roͤmer, in Abſicht auf ihre Landguͤter, Gebaͤude und Luſtgaͤrten lebhaft vorſtellen, und be- wuͤrkt den groͤßten Nachdruk durch beſtaͤndige Ge- genſaͤtze. (*) Od. II. 15. Jam pauca aratro jugera regiae Moles relinquent. — — — — — Platanuſque celebs Evincet ulmos: tum violaria et Myrtus et omnis copia narium, Spargent olivetis odorem Fertilibus domino priori. Er ſtellt das Pfluͤgen der fruchtbaren Felder, der Verderbung derſelben durch ungeheuere Gebaͤude, das Pflanzen des unnuͤtzen und unfruchtbaren Pla- tanus, dem mit Weinreben beladenen Ulmenbaum, die bloßen dufthauchenden Gaͤrten, den fruchtba- ren Baumgaͤrten entgegen, und giebt dadurch ſei- nen Gedanken von der uͤbertriebenen Ueppigkeit ei- nen großen Nachdruk. Eben ſo bedienet ſich Vir- gil eines Gegenſatzes, um die Hoheit und Wuͤrde der Roͤmer uͤber andre Voͤlker deſto lebhafter fuͤhlen zu machen: Excudent alii ſpirantia mollius æra Credo equidem; vivos ducent de marmore vultus: Tu regere imperio populos Romane memento; Hæ tibi erunt artes. (*) Wie der Gegenſatz das Tragiſche verſtaͤrke, haben wir ſchon oben an einigen Beyſpielen geſehen: fol- gende verdienen noch beſonders uͤberlegt zu werden. Jn dem Philoktet des Sophokles merkt der Chor, aus der Naͤhe einer ſeufzenden Stimme, daß dieſer ungluͤkliche Held, den er ſucht, nicht fern ſeyn koͤnne, und ſagt deswegen: Er koͤmmt; aber nicht wie die Schaͤfer, deren Ankunft der Ton der Floͤte verkuͤndiget ‒ ihn meldet ein ſchmerzhaftes Stoͤhnen, als wenn er ſich an einen Stein geſtoßen haͤtte. Durch dieſen Gegenſatz, da dem Philoktet, der eine einſame Jnſel bewohnte, Schaͤfer entgegen geſtellt werden, deren freudigen Aufzug man von weitem durch den lieblichen Ton der Floͤte vernimmt, da er hingegen ſeine Ankunft durch Seufzen und Stoͤh- nen verraͤth, wird ſein Zuſtand weit trauriger. Eben dieſe Wuͤrkung zur Vermehrung des Tragi- ſchen hat Euripides in der Jphigenia in Aulis, durch eine ganz beſondere Art des Gegenſatzes erhal- ten, da er dem wuͤrklichen Elende der Jphigenia, die es noch nicht wußte, ihre vermeinte Gluͤckſe- ligkeit entgegen ſetzt. Als Clytemneſtra mit ihrer Tochter in Aulis ankoͤmmt und aus dem Wagen ſteigt, wird ſie von der Menge gluͤklich geprieſen. Der Zuſchauer aber iſt ſchon von dem Elend, das auf ſie wartet, unterrichtet, und fuͤhlt es durch dieſen Gegenſatz deſto lebhafter. Man ſieht die liebenswuͤrdige Jphigenia ankommen, um eine Stunde hernach ein Schlachtopfer des Ehrgeizes ihres Vaters zu werden. Der Chor bewillkommet ſie mit folgenden Worten: O wie herrlich iſt das Gluͤk der Großen! Se- het die fuͤrſtliche Jphigenia, meine Koͤnigin, und die Clytemneſtra aus dem vornehmſten Gebluͤte. Aus was fuͤr hohem Stamme beyde entſproſſen, und was fuͤr lange daurendem Gluͤke ſie entgegen gehen! Bey dieſem Freudengeſang ſieht der Zuſchauer ſchon das Elend dieſer ſo gluͤklich geprieſenen Perſo- nen, und dieſes macht einen ſehr hohen Grad des Tragiſchen. Wie wunderbar tragiſch iſt folgende Vorſtellung; — — und andre Machten Strik’ aus ihren goldfarbigten langen Loken, Doch zu weit anderm Gebrauch, als der Liebe. (*) Man kann aus dieſen Beyſpielen hinlaͤnglich ſehen, daß gluͤkliche Gegenſaͤtze in leidenſchaftlichen Gegen- ſtaͤnden die hoͤchſte Ruͤhrung hervorbringen koͤnnen. Durch den Gegenſatz aber kann eine Sache auch Laͤcherlich und Poßierlich werden; denn die Verglei- chung des Großen mit dem Kleinen iſt eine von den Quellen des Laͤcherlichen, wovon wir in ſeinem Artikel Beyſpiele gegeben haben. Man

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/454>, abgerufen am 22.11.2024.