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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gem

Von den Gattungen der Gemählde, die aus der
Verschiedenheit der Mittel zur Ausführung entste-
hen, ist im Artikel Mahlerey gesprochen worden.

Gemählde.
(Redende Künste.)

Die Dichtkunst hat auch ihre Art zu zeichnen und
ihr Colorit, wie die Mahlerey. Ueberhaupt ist fast
jedes Gedicht ein Gemählde: doch wird diese Benen-
nung nur den einzeln Stellen der Gedichte gegeben,
wo sinnliche und besonders sichtbare Gegenstände,
wie auf dem Vorgrund, näher ans Auge gebracht
und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden.
Ein Gedicht gleicht einer gemahlten Landschaft, auf
welcher der größte Theil der Gegenstände in einer
Entfernung stehet, in der sie nur überhaupt gesehen
werden, und, nur im Ganzen betrachtet, die allge-
meine Vorstellung eines fruchtbaren, oder wilden,
eines reichen oder eines magern, eines einsamen oder
bewohnten Landes, erweken; einige besondere Ge-
genstände aber werden nahe an dem Vorgrund ein-
zeln wol ausgezeichnet, daß man sie groß, wie in
der Nähe sieht, und auch die einzeln Theile daran
unterscheidet. Auf eben diese Weise verfährt auch
der Dichter, der den größten Theil seiner Gegen-
stände etwas allgemein und nur überhaupt bezeich-
net, andre aber so genau und so umständlich, daß
sie uns näher als alles übrige vorkommen, so daß
wir sie gerade und ganz nahe vor uns zu sehen ver-
meinen. Diesen besonders ausgezeichneten einzeln
Theilen geben wir vorzüglich den Namen der Ge-
mählde, ob er gleich auch dem ganzen Gedichte zu-
kömmt.

Jn den Gedichten nehmen sich diese Gemählde so
aus, wie vor einem Wald oder Busch, den man
vor sich sieht, ein einzeler dem Auge nahe stehender
Baum, an dem man jeden Ast und Zweyg, auch so
gar einzele Blätter unterscheidet, da der Wald nur
überhaupt als eine einzige Masse von Bäumen, in
der man nichts, als die allgemeine Form und übrige
Beschaffenheit sieht, ohne einen Baum darin ein-
zeln zu unterscheiden, in die Augen fällt.

Jndem man ein Gedicht, wie die Jlias, Aeneis,
oder andre von dieser Art ließt, bildet man sich ein,
man sehe die Sachen meistentheils in einiger Ent-
fernung, als Sachen von denen man ein bloßer Zu-
schauer ist. Hier und da aber findet man einzele
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Gem
Scenen, die man so zu sehen glaubet, als wenn sie
dichte vor uns lägen, oder als wenn man selbst un-
mittelbar dabey intreßirt sey. Dieses sind die ei-
gentlichen poetischen Gemählde. So sehen wir im
Anfang der Aeneas die Trojaner wie von weitem
auf dem Meer fahren, um einen neuen Wohnplatz
zu suchen; wir vernehmen, daß die Rachsucht An-
schläge gegen diese Abentheurer mache, um sie in
ihrem Vorhaben zu hindern u. s. f. Dieses alles liegt
gleichsam fern von uns, bis der Dichter das lebhafte
Gemählde des Sturms, der sie überfällt, zeichnet.
Da glauben wir mit ihnen auf der See zu seyn, wir
hören das Geschrey der Männer, das Getöse des Win-
des und der Wellen u. s. f. und wir gerathen in
Furcht und Schreken, als wenn wir selbst in dieser
Noth wären.

Dieses ist überhaupt die Beschaffenheit und Wür-
kung einzeler poetischer Gemählde; man befindet
sich in der Nähe der beschriebenen Scene, sieht und
fühlt jedes Einzele darin, und empfindet eine so leb-
hafte Würkung davon, als wenn man sich die Sa-
chen nicht blos in der Phantasie vorstellte, sondern
sie durch die Gliedmaaßen der Sinnen empfände.
Wie sich das Gedicht überhaupt von der gemeinen
Rede dadurch unterscheidet, daß es alles sinnlich
vorstellt, so unterscheiden sich solche Gemählde von
den übrigen Theilen des Gedichtes, daß darin eine
weit größere Lebhaftigkeit herrscht, die uns glauben
macht, daß wir die Gegenstände beynahe würklich em-
pfinden. Also sind diese Gemählde das Höchste der
Dichtkunst, sie haben die Eigenschaften des Gedichts
in einem höhern Grad, als die andern Theile dessel-
ben. Wenn Horaz uns einen im Staate mächtigen,
dabey üppigen und ungerechten Mann beschreibet,
und ihm vorwirft: (*)

(*) Od.
L. II.
18.

Sepulchri
Immemor, struis domos;
Marisque Balis obstrepentis urgues
Summovere littora,
Parum locuples continente ripa.
Quid quod usque proximos
Revellis agri terminos, et ultra
Limites clientium
Salis avarus?

so giebt er uns zwar eine sinnliche und ziemlich
lebhafte Abbildung eines gewaltthätigen Schwelgers:
aber durch das folgende kleine Gemählde,

-- -- pel-
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Gem

Von den Gattungen der Gemaͤhlde, die aus der
Verſchiedenheit der Mittel zur Ausfuͤhrung entſte-
hen, iſt im Artikel Mahlerey geſprochen worden.

Gemaͤhlde.
(Redende Kuͤnſte.)

Die Dichtkunſt hat auch ihre Art zu zeichnen und
ihr Colorit, wie die Mahlerey. Ueberhaupt iſt faſt
jedes Gedicht ein Gemaͤhlde: doch wird dieſe Benen-
nung nur den einzeln Stellen der Gedichte gegeben,
wo ſinnliche und beſonders ſichtbare Gegenſtaͤnde,
wie auf dem Vorgrund, naͤher ans Auge gebracht
und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden.
Ein Gedicht gleicht einer gemahlten Landſchaft, auf
welcher der groͤßte Theil der Gegenſtaͤnde in einer
Entfernung ſtehet, in der ſie nur uͤberhaupt geſehen
werden, und, nur im Ganzen betrachtet, die allge-
meine Vorſtellung eines fruchtbaren, oder wilden,
eines reichen oder eines magern, eines einſamen oder
bewohnten Landes, erweken; einige beſondere Ge-
genſtaͤnde aber werden nahe an dem Vorgrund ein-
zeln wol ausgezeichnet, daß man ſie groß, wie in
der Naͤhe ſieht, und auch die einzeln Theile daran
unterſcheidet. Auf eben dieſe Weiſe verfaͤhrt auch
der Dichter, der den groͤßten Theil ſeiner Gegen-
ſtaͤnde etwas allgemein und nur uͤberhaupt bezeich-
net, andre aber ſo genau und ſo umſtaͤndlich, daß
ſie uns naͤher als alles uͤbrige vorkommen, ſo daß
wir ſie gerade und ganz nahe vor uns zu ſehen ver-
meinen. Dieſen beſonders ausgezeichneten einzeln
Theilen geben wir vorzuͤglich den Namen der Ge-
maͤhlde, ob er gleich auch dem ganzen Gedichte zu-
koͤmmt.

Jn den Gedichten nehmen ſich dieſe Gemaͤhlde ſo
aus, wie vor einem Wald oder Buſch, den man
vor ſich ſieht, ein einzeler dem Auge nahe ſtehender
Baum, an dem man jeden Aſt und Zweyg, auch ſo
gar einzele Blaͤtter unterſcheidet, da der Wald nur
uͤberhaupt als eine einzige Maſſe von Baͤumen, in
der man nichts, als die allgemeine Form und uͤbrige
Beſchaffenheit ſieht, ohne einen Baum darin ein-
zeln zu unterſcheiden, in die Augen faͤllt.

Jndem man ein Gedicht, wie die Jlias, Aeneis,
oder andre von dieſer Art ließt, bildet man ſich ein,
man ſehe die Sachen meiſtentheils in einiger Ent-
fernung, als Sachen von denen man ein bloßer Zu-
ſchauer iſt. Hier und da aber findet man einzele
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Gem
Scenen, die man ſo zu ſehen glaubet, als wenn ſie
dichte vor uns laͤgen, oder als wenn man ſelbſt un-
mittelbar dabey intreßirt ſey. Dieſes ſind die ei-
gentlichen poetiſchen Gemaͤhlde. So ſehen wir im
Anfang der Aeneas die Trojaner wie von weitem
auf dem Meer fahren, um einen neuen Wohnplatz
zu ſuchen; wir vernehmen, daß die Rachſucht An-
ſchlaͤge gegen dieſe Abentheurer mache, um ſie in
ihrem Vorhaben zu hindern u. ſ. f. Dieſes alles liegt
gleichſam fern von uns, bis der Dichter das lebhafte
Gemaͤhlde des Sturms, der ſie uͤberfaͤllt, zeichnet.
Da glauben wir mit ihnen auf der See zu ſeyn, wir
hoͤren das Geſchrey der Maͤnner, das Getoͤſe des Win-
des und der Wellen u. ſ. f. und wir gerathen in
Furcht und Schreken, als wenn wir ſelbſt in dieſer
Noth waͤren.

Dieſes iſt uͤberhaupt die Beſchaffenheit und Wuͤr-
kung einzeler poetiſcher Gemaͤhlde; man befindet
ſich in der Naͤhe der beſchriebenen Scene, ſieht und
fuͤhlt jedes Einzele darin, und empfindet eine ſo leb-
hafte Wuͤrkung davon, als wenn man ſich die Sa-
chen nicht blos in der Phantaſie vorſtellte, ſondern
ſie durch die Gliedmaaßen der Sinnen empfaͤnde.
Wie ſich das Gedicht uͤberhaupt von der gemeinen
Rede dadurch unterſcheidet, daß es alles ſinnlich
vorſtellt, ſo unterſcheiden ſich ſolche Gemaͤhlde von
den uͤbrigen Theilen des Gedichtes, daß darin eine
weit groͤßere Lebhaftigkeit herrſcht, die uns glauben
macht, daß wir die Gegenſtaͤnde beynahe wuͤrklich em-
pfinden. Alſo ſind dieſe Gemaͤhlde das Hoͤchſte der
Dichtkunſt, ſie haben die Eigenſchaften des Gedichts
in einem hoͤhern Grad, als die andern Theile deſſel-
ben. Wenn Horaz uns einen im Staate maͤchtigen,
dabey uͤppigen und ungerechten Mann beſchreibet,
und ihm vorwirft: (*)

(*) Od.
L. II.
18.

Sepulchri
Immemor, ſtruis domos;
Marisque Balis obſtrepentis urgues
Summovere littora,
Parum locuples continente ripa.
Quid quod usque proximos
Revellis agri terminos, et ultra
Limites clientium
Salis avarus?

ſo giebt er uns zwar eine ſinnliche und ziemlich
lebhafte Abbildung eines gewaltthaͤtigen Schwelgers:
aber durch das folgende kleine Gemaͤhlde,

— — pel-
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[452/0464] Gem Gem Von den Gattungen der Gemaͤhlde, die aus der Verſchiedenheit der Mittel zur Ausfuͤhrung entſte- hen, iſt im Artikel Mahlerey geſprochen worden. Gemaͤhlde. (Redende Kuͤnſte.) Die Dichtkunſt hat auch ihre Art zu zeichnen und ihr Colorit, wie die Mahlerey. Ueberhaupt iſt faſt jedes Gedicht ein Gemaͤhlde: doch wird dieſe Benen- nung nur den einzeln Stellen der Gedichte gegeben, wo ſinnliche und beſonders ſichtbare Gegenſtaͤnde, wie auf dem Vorgrund, naͤher ans Auge gebracht und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden. Ein Gedicht gleicht einer gemahlten Landſchaft, auf welcher der groͤßte Theil der Gegenſtaͤnde in einer Entfernung ſtehet, in der ſie nur uͤberhaupt geſehen werden, und, nur im Ganzen betrachtet, die allge- meine Vorſtellung eines fruchtbaren, oder wilden, eines reichen oder eines magern, eines einſamen oder bewohnten Landes, erweken; einige beſondere Ge- genſtaͤnde aber werden nahe an dem Vorgrund ein- zeln wol ausgezeichnet, daß man ſie groß, wie in der Naͤhe ſieht, und auch die einzeln Theile daran unterſcheidet. Auf eben dieſe Weiſe verfaͤhrt auch der Dichter, der den groͤßten Theil ſeiner Gegen- ſtaͤnde etwas allgemein und nur uͤberhaupt bezeich- net, andre aber ſo genau und ſo umſtaͤndlich, daß ſie uns naͤher als alles uͤbrige vorkommen, ſo daß wir ſie gerade und ganz nahe vor uns zu ſehen ver- meinen. Dieſen beſonders ausgezeichneten einzeln Theilen geben wir vorzuͤglich den Namen der Ge- maͤhlde, ob er gleich auch dem ganzen Gedichte zu- koͤmmt. Jn den Gedichten nehmen ſich dieſe Gemaͤhlde ſo aus, wie vor einem Wald oder Buſch, den man vor ſich ſieht, ein einzeler dem Auge nahe ſtehender Baum, an dem man jeden Aſt und Zweyg, auch ſo gar einzele Blaͤtter unterſcheidet, da der Wald nur uͤberhaupt als eine einzige Maſſe von Baͤumen, in der man nichts, als die allgemeine Form und uͤbrige Beſchaffenheit ſieht, ohne einen Baum darin ein- zeln zu unterſcheiden, in die Augen faͤllt. Jndem man ein Gedicht, wie die Jlias, Aeneis, oder andre von dieſer Art ließt, bildet man ſich ein, man ſehe die Sachen meiſtentheils in einiger Ent- fernung, als Sachen von denen man ein bloßer Zu- ſchauer iſt. Hier und da aber findet man einzele Scenen, die man ſo zu ſehen glaubet, als wenn ſie dichte vor uns laͤgen, oder als wenn man ſelbſt un- mittelbar dabey intreßirt ſey. Dieſes ſind die ei- gentlichen poetiſchen Gemaͤhlde. So ſehen wir im Anfang der Aeneas die Trojaner wie von weitem auf dem Meer fahren, um einen neuen Wohnplatz zu ſuchen; wir vernehmen, daß die Rachſucht An- ſchlaͤge gegen dieſe Abentheurer mache, um ſie in ihrem Vorhaben zu hindern u. ſ. f. Dieſes alles liegt gleichſam fern von uns, bis der Dichter das lebhafte Gemaͤhlde des Sturms, der ſie uͤberfaͤllt, zeichnet. Da glauben wir mit ihnen auf der See zu ſeyn, wir hoͤren das Geſchrey der Maͤnner, das Getoͤſe des Win- des und der Wellen u. ſ. f. und wir gerathen in Furcht und Schreken, als wenn wir ſelbſt in dieſer Noth waͤren. Dieſes iſt uͤberhaupt die Beſchaffenheit und Wuͤr- kung einzeler poetiſcher Gemaͤhlde; man befindet ſich in der Naͤhe der beſchriebenen Scene, ſieht und fuͤhlt jedes Einzele darin, und empfindet eine ſo leb- hafte Wuͤrkung davon, als wenn man ſich die Sa- chen nicht blos in der Phantaſie vorſtellte, ſondern ſie durch die Gliedmaaßen der Sinnen empfaͤnde. Wie ſich das Gedicht uͤberhaupt von der gemeinen Rede dadurch unterſcheidet, daß es alles ſinnlich vorſtellt, ſo unterſcheiden ſich ſolche Gemaͤhlde von den uͤbrigen Theilen des Gedichtes, daß darin eine weit groͤßere Lebhaftigkeit herrſcht, die uns glauben macht, daß wir die Gegenſtaͤnde beynahe wuͤrklich em- pfinden. Alſo ſind dieſe Gemaͤhlde das Hoͤchſte der Dichtkunſt, ſie haben die Eigenſchaften des Gedichts in einem hoͤhern Grad, als die andern Theile deſſel- ben. Wenn Horaz uns einen im Staate maͤchtigen, dabey uͤppigen und ungerechten Mann beſchreibet, und ihm vorwirft: (*) Sepulchri Immemor, ſtruis domos; Marisque Balis obſtrepentis urgues Summovere littora, Parum locuples continente ripa. Quid quod usque proximos Revellis agri terminos, et ultra Limites clientium Salis avarus? ſo giebt er uns zwar eine ſinnliche und ziemlich lebhafte Abbildung eines gewaltthaͤtigen Schwelgers: aber durch das folgende kleine Gemaͤhlde, — — pel-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/464>, abgerufen am 14.05.2024.