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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ges
redende Person ansieht, die Umstände und die Lage der
Sachen, aus denen dieses Licht entsteht, von Stük
zu Stük zu zeigen, und ihn genau in den Gesichts-
punkt zu setzen, darin man selbst ist. Was in dem
gewöhnlichen Vortrag bisweilen ein Beyspiel, ein
Gleichnis, eine Fabel zur genauen Faßung einer
Wahrheit thut, wird durch das Gespräch auf eine
noch bestimmtere Weise erhalten; weil es ein sol-
ches Gemähld ist, das auf das genaueste ausgezeich-
net worden. Auf diese Weise können also einfache
Wahrheiten, die man nicht wol anders, als an-
schauend erkennen kann; sittliche und politische
Maximen, Lebensregeln und andre praktische Wahr-
heiten, durch das Gespräch ihre genaueste Bestim-
mung und zugleich ihr höchstes Licht erhalten.

Dieser Vortheile halber ist das lehrende Gespräch
eine höchst schätzbare Gattung der Beredsamkeit, be-
quämer, als irgend eine andre Gattung, die wichtig-
sten Beobachtungen der Vernunft in der höchsten
Einfalt und Deutlichkeit vorzutragen. Dieses ist
gerade das, was der Philosophie noch am meisten
fehlet. Der Reichthum an nützlichen Wahrheiten,
der durch die Cultur der Weltweisheit täglich zu-
nihmt, ist doch von geringem Nutzen, so lange nur
wenig scharfsichtige Philosophen den Besitz derselben
für sich behalten. Wenn der Nutzen der entdekten
Wahrheit sich über ein ganzes Volk ausbreiten soll,
so müssen die wichtigsten Lehren, deren Anwendung
sich weit über Geschäfte und über Unternehmungen
erstreket, auf eine so faßliche und zugleich so ein-
leuchtende Art vorgetragen werden, daß man sich
derselben mit eben der Leichtigkeit bedienen kann,
mit welcher man sich vermittelst der glüklichen me-
taphorischen Ausdrüke einzeler Begriffe bedienet,
die ohne solche Einkleidung schweer zu faßen wären.
Diesen Dienst kann die Philosophie von dem Ge-
spräch erwarten. Nur Schade, daß dieses Feld bis
dahin noch so wenig bearbeitet worden; denn in
der That muß man sich in der Litteratur aller alten
und neuen Völker weit umsehen, um in dieser Art
auch nur hier und da etwas Vollkommenes zu fin-
den, wenn man einige in diese Art einschlagende
Scenen der dramatischen Poesie ausnihmt.

Freylich ist es schweer ein vollkommenes Gespräch
von dieser Art zu machen; denn nicht nur sind die
Gelegenheiten, da man wichtige Wahrheiten in dem
hellen sinnlichen Lichte, das hiezu nöthig ist, siehet,
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Ges
selten, und diese hellen Sonnenblike der Vernunft
schnell vorübergehend; sondern auch die leichtesten
und hellesten Wendungen, die man dem Gespräche
zu geben hat, schweer zu finden. Unter die besten
Werke dieser Art sind die zu zählen, die den Lord
Littleton
zum Verfasser haben, ob sie gleich nicht
alle von gleicher Stärke sind.

Wer in dieser Art zu schreiben glüklich seyn will,
muß eine große Kenntnis des menschlichen Verstan-
des besitzen, und mit scharfen Bliken in alle Tie-
fen desselben eindringen. Er muß nicht nur, wel-
ches schon schweer genug ist, die Gedanken der Men-
schen in allen ihren Wendungen und Krümmungen
verfolgen, sondern das ganze Gemählde derselben
durch wenige meisterhafte Züge in vollem Lichte dar-
stellen. Allem Anschein nach ist dieses in den re-
denden Künsten das allerschweereste.

Dieses lehrende Gespräch kann entweder einzeln
für sich behandelt, oder hier und da im Drama an-
gebracht werden, wo es um so viel vortheilhafter
stehen kann, da die Materie der Unterredung, die
Charaktere der redenden Personen und die besondern
Umstände, darin sie sich befinden, schon ohne dem
sehr hell vor den Augen des Zuschauers liegen.

Das schildernde Gespräch macht die andre Art
dieser Gattung aus. Es hat eine genaue und leb-
hafte Kenntnis des Menschen zur Absicht, und über-
haupt die folgende Form. Eine der unterredenden
Personen ist die Hauptperson des Gespräches, de-
ren Charakter der Dichter sehr bestimmt muß gefaßt
haben. Nun nihmt er sich vor, irgend einen merk-
würdigen Zug dieses Charakters, oder die Art, wie
sich eine Gesinnung durch denselben entfaltet, wie
etwa eine Leidenschaft sich darin äussert, auf das
genaueste und lebhafteste zu schildern. Darum setzet
er die Hauptperson in Umstände, die dazu am vor-
theilhaftesten sind; er nihmt noch eine oder zwey
Personen an, deren Fragen, Einwendungen und
übrige Reden genau abgepaßt sind, jeden Gedanken
der Hauptperson in hellerm Lichte zu zeigen. Das
ganze Gespräch ist so eingerichtet, daß der Leser sich
einbildet, er höre einem Gespräche, da die unterre-
denden Personen ihn in das Jnnerste ihrer Seelen
hinein schauen lassen, ihnen unbemerkt zu.

Es fällt in die Augen, mit was für großem Vor-
theil ein Kenner des menschlichen Herzens sich die-

ser
O o o 2

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Geſ
redende Perſon anſieht, die Umſtaͤnde und die Lage der
Sachen, aus denen dieſes Licht entſteht, von Stuͤk
zu Stuͤk zu zeigen, und ihn genau in den Geſichts-
punkt zu ſetzen, darin man ſelbſt iſt. Was in dem
gewoͤhnlichen Vortrag bisweilen ein Beyſpiel, ein
Gleichnis, eine Fabel zur genauen Faßung einer
Wahrheit thut, wird durch das Geſpraͤch auf eine
noch beſtimmtere Weiſe erhalten; weil es ein ſol-
ches Gemaͤhld iſt, das auf das genaueſte ausgezeich-
net worden. Auf dieſe Weiſe koͤnnen alſo einfache
Wahrheiten, die man nicht wol anders, als an-
ſchauend erkennen kann; ſittliche und politiſche
Maximen, Lebensregeln und andre praktiſche Wahr-
heiten, durch das Geſpraͤch ihre genaueſte Beſtim-
mung und zugleich ihr hoͤchſtes Licht erhalten.

Dieſer Vortheile halber iſt das lehrende Geſpraͤch
eine hoͤchſt ſchaͤtzbare Gattung der Beredſamkeit, be-
quaͤmer, als irgend eine andre Gattung, die wichtig-
ſten Beobachtungen der Vernunft in der hoͤchſten
Einfalt und Deutlichkeit vorzutragen. Dieſes iſt
gerade das, was der Philoſophie noch am meiſten
fehlet. Der Reichthum an nuͤtzlichen Wahrheiten,
der durch die Cultur der Weltweisheit taͤglich zu-
nihmt, iſt doch von geringem Nutzen, ſo lange nur
wenig ſcharfſichtige Philoſophen den Beſitz derſelben
fuͤr ſich behalten. Wenn der Nutzen der entdekten
Wahrheit ſich uͤber ein ganzes Volk ausbreiten ſoll,
ſo muͤſſen die wichtigſten Lehren, deren Anwendung
ſich weit uͤber Geſchaͤfte und uͤber Unternehmungen
erſtreket, auf eine ſo faßliche und zugleich ſo ein-
leuchtende Art vorgetragen werden, daß man ſich
derſelben mit eben der Leichtigkeit bedienen kann,
mit welcher man ſich vermittelſt der gluͤklichen me-
taphoriſchen Ausdruͤke einzeler Begriffe bedienet,
die ohne ſolche Einkleidung ſchweer zu faßen waͤren.
Dieſen Dienſt kann die Philoſophie von dem Ge-
ſpraͤch erwarten. Nur Schade, daß dieſes Feld bis
dahin noch ſo wenig bearbeitet worden; denn in
der That muß man ſich in der Litteratur aller alten
und neuen Voͤlker weit umſehen, um in dieſer Art
auch nur hier und da etwas Vollkommenes zu fin-
den, wenn man einige in dieſe Art einſchlagende
Scenen der dramatiſchen Poeſie ausnihmt.

Freylich iſt es ſchweer ein vollkommenes Geſpraͤch
von dieſer Art zu machen; denn nicht nur ſind die
Gelegenheiten, da man wichtige Wahrheiten in dem
hellen ſinnlichen Lichte, das hiezu noͤthig iſt, ſiehet,
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Geſ
ſelten, und dieſe hellen Sonnenblike der Vernunft
ſchnell voruͤbergehend; ſondern auch die leichteſten
und helleſten Wendungen, die man dem Geſpraͤche
zu geben hat, ſchweer zu finden. Unter die beſten
Werke dieſer Art ſind die zu zaͤhlen, die den Lord
Littleton
zum Verfaſſer haben, ob ſie gleich nicht
alle von gleicher Staͤrke ſind.

Wer in dieſer Art zu ſchreiben gluͤklich ſeyn will,
muß eine große Kenntnis des menſchlichen Verſtan-
des beſitzen, und mit ſcharfen Bliken in alle Tie-
fen deſſelben eindringen. Er muß nicht nur, wel-
ches ſchon ſchweer genug iſt, die Gedanken der Men-
ſchen in allen ihren Wendungen und Kruͤmmungen
verfolgen, ſondern das ganze Gemaͤhlde derſelben
durch wenige meiſterhafte Zuͤge in vollem Lichte dar-
ſtellen. Allem Anſchein nach iſt dieſes in den re-
denden Kuͤnſten das allerſchweereſte.

Dieſes lehrende Geſpraͤch kann entweder einzeln
fuͤr ſich behandelt, oder hier und da im Drama an-
gebracht werden, wo es um ſo viel vortheilhafter
ſtehen kann, da die Materie der Unterredung, die
Charaktere der redenden Perſonen und die beſondern
Umſtaͤnde, darin ſie ſich befinden, ſchon ohne dem
ſehr hell vor den Augen des Zuſchauers liegen.

Das ſchildernde Geſpraͤch macht die andre Art
dieſer Gattung aus. Es hat eine genaue und leb-
hafte Kenntnis des Menſchen zur Abſicht, und uͤber-
haupt die folgende Form. Eine der unterredenden
Perſonen iſt die Hauptperſon des Geſpraͤches, de-
ren Charakter der Dichter ſehr beſtimmt muß gefaßt
haben. Nun nihmt er ſich vor, irgend einen merk-
wuͤrdigen Zug dieſes Charakters, oder die Art, wie
ſich eine Geſinnung durch denſelben entfaltet, wie
etwa eine Leidenſchaft ſich darin aͤuſſert, auf das
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er die Hauptperſon in Umſtaͤnde, die dazu am vor-
theilhafteſten ſind; er nihmt noch eine oder zwey
Perſonen an, deren Fragen, Einwendungen und
uͤbrige Reden genau abgepaßt ſind, jeden Gedanken
der Hauptperſon in hellerm Lichte zu zeigen. Das
ganze Geſpraͤch iſt ſo eingerichtet, daß der Leſer ſich
einbildet, er hoͤre einem Geſpraͤche, da die unterre-
denden Perſonen ihn in das Jnnerſte ihrer Seelen
hinein ſchauen laſſen, ihnen unbemerkt zu.

Es faͤllt in die Augen, mit was fuͤr großem Vor-
theil ein Kenner des menſchlichen Herzens ſich die-

ſer
O o o 2
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[475/0487] Geſ Geſ redende Perſon anſieht, die Umſtaͤnde und die Lage der Sachen, aus denen dieſes Licht entſteht, von Stuͤk zu Stuͤk zu zeigen, und ihn genau in den Geſichts- punkt zu ſetzen, darin man ſelbſt iſt. Was in dem gewoͤhnlichen Vortrag bisweilen ein Beyſpiel, ein Gleichnis, eine Fabel zur genauen Faßung einer Wahrheit thut, wird durch das Geſpraͤch auf eine noch beſtimmtere Weiſe erhalten; weil es ein ſol- ches Gemaͤhld iſt, das auf das genaueſte ausgezeich- net worden. Auf dieſe Weiſe koͤnnen alſo einfache Wahrheiten, die man nicht wol anders, als an- ſchauend erkennen kann; ſittliche und politiſche Maximen, Lebensregeln und andre praktiſche Wahr- heiten, durch das Geſpraͤch ihre genaueſte Beſtim- mung und zugleich ihr hoͤchſtes Licht erhalten. Dieſer Vortheile halber iſt das lehrende Geſpraͤch eine hoͤchſt ſchaͤtzbare Gattung der Beredſamkeit, be- quaͤmer, als irgend eine andre Gattung, die wichtig- ſten Beobachtungen der Vernunft in der hoͤchſten Einfalt und Deutlichkeit vorzutragen. Dieſes iſt gerade das, was der Philoſophie noch am meiſten fehlet. Der Reichthum an nuͤtzlichen Wahrheiten, der durch die Cultur der Weltweisheit taͤglich zu- nihmt, iſt doch von geringem Nutzen, ſo lange nur wenig ſcharfſichtige Philoſophen den Beſitz derſelben fuͤr ſich behalten. Wenn der Nutzen der entdekten Wahrheit ſich uͤber ein ganzes Volk ausbreiten ſoll, ſo muͤſſen die wichtigſten Lehren, deren Anwendung ſich weit uͤber Geſchaͤfte und uͤber Unternehmungen erſtreket, auf eine ſo faßliche und zugleich ſo ein- leuchtende Art vorgetragen werden, daß man ſich derſelben mit eben der Leichtigkeit bedienen kann, mit welcher man ſich vermittelſt der gluͤklichen me- taphoriſchen Ausdruͤke einzeler Begriffe bedienet, die ohne ſolche Einkleidung ſchweer zu faßen waͤren. Dieſen Dienſt kann die Philoſophie von dem Ge- ſpraͤch erwarten. Nur Schade, daß dieſes Feld bis dahin noch ſo wenig bearbeitet worden; denn in der That muß man ſich in der Litteratur aller alten und neuen Voͤlker weit umſehen, um in dieſer Art auch nur hier und da etwas Vollkommenes zu fin- den, wenn man einige in dieſe Art einſchlagende Scenen der dramatiſchen Poeſie ausnihmt. Freylich iſt es ſchweer ein vollkommenes Geſpraͤch von dieſer Art zu machen; denn nicht nur ſind die Gelegenheiten, da man wichtige Wahrheiten in dem hellen ſinnlichen Lichte, das hiezu noͤthig iſt, ſiehet, ſelten, und dieſe hellen Sonnenblike der Vernunft ſchnell voruͤbergehend; ſondern auch die leichteſten und helleſten Wendungen, die man dem Geſpraͤche zu geben hat, ſchweer zu finden. Unter die beſten Werke dieſer Art ſind die zu zaͤhlen, die den Lord Littleton zum Verfaſſer haben, ob ſie gleich nicht alle von gleicher Staͤrke ſind. Wer in dieſer Art zu ſchreiben gluͤklich ſeyn will, muß eine große Kenntnis des menſchlichen Verſtan- des beſitzen, und mit ſcharfen Bliken in alle Tie- fen deſſelben eindringen. Er muß nicht nur, wel- ches ſchon ſchweer genug iſt, die Gedanken der Men- ſchen in allen ihren Wendungen und Kruͤmmungen verfolgen, ſondern das ganze Gemaͤhlde derſelben durch wenige meiſterhafte Zuͤge in vollem Lichte dar- ſtellen. Allem Anſchein nach iſt dieſes in den re- denden Kuͤnſten das allerſchweereſte. Dieſes lehrende Geſpraͤch kann entweder einzeln fuͤr ſich behandelt, oder hier und da im Drama an- gebracht werden, wo es um ſo viel vortheilhafter ſtehen kann, da die Materie der Unterredung, die Charaktere der redenden Perſonen und die beſondern Umſtaͤnde, darin ſie ſich befinden, ſchon ohne dem ſehr hell vor den Augen des Zuſchauers liegen. Das ſchildernde Geſpraͤch macht die andre Art dieſer Gattung aus. Es hat eine genaue und leb- hafte Kenntnis des Menſchen zur Abſicht, und uͤber- haupt die folgende Form. Eine der unterredenden Perſonen iſt die Hauptperſon des Geſpraͤches, de- ren Charakter der Dichter ſehr beſtimmt muß gefaßt haben. Nun nihmt er ſich vor, irgend einen merk- wuͤrdigen Zug dieſes Charakters, oder die Art, wie ſich eine Geſinnung durch denſelben entfaltet, wie etwa eine Leidenſchaft ſich darin aͤuſſert, auf das genaueſte und lebhafteſte zu ſchildern. Darum ſetzet er die Hauptperſon in Umſtaͤnde, die dazu am vor- theilhafteſten ſind; er nihmt noch eine oder zwey Perſonen an, deren Fragen, Einwendungen und uͤbrige Reden genau abgepaßt ſind, jeden Gedanken der Hauptperſon in hellerm Lichte zu zeigen. Das ganze Geſpraͤch iſt ſo eingerichtet, daß der Leſer ſich einbildet, er hoͤre einem Geſpraͤche, da die unterre- denden Perſonen ihn in das Jnnerſte ihrer Seelen hinein ſchauen laſſen, ihnen unbemerkt zu. Es faͤllt in die Augen, mit was fuͤr großem Vor- theil ein Kenner des menſchlichen Herzens ſich die- ſer O o o 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/487>, abgerufen am 22.11.2024.