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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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ser Art zu schreiben bedienen kann. Man kann den
Menschen nicht anders, als aus seinen Gedanken
und Empfindungen kennen; diese sieht der scharfsin-
nige Beobachter in den tiefsten Winkeln des Herzens
und bringet sie durch den Ausdruk der Rede an den
Tag. Dadurch entfaltet er jede Sinnesart und jede
geheime Aeusserung der Empfindung vor unserm Ge-
sichte; zieht dem Heuchler die Larve der Rechtschaf-
fenheit ab, stellt den listigen Sophisten in den krum-
men Jrrwegen seiner List blos; deket auch das lie-
benswürdige Gemüth des Redlichen auf, daß wir es
lieben und verehren. Solche Gespräche sind in dem
eigentlichsten Sinn Schilderungen der Seelen, und
solche Schilderungen, die nicht, wie Gemählde, vor
uns stehen, sondern lebendige Abbildungen, da wir
selbst auf der Scene stehen, wo alles vorgehet. Al-
les was im menschlichen Gemüthe schätzbar und lie-
benswürdig, was verächtlich und abscheulich ist,
wird dadurch fühlbar gemacht.

Wer in dieser Art glüklich seyn will, muß das
menschliche Herz bis auf sein innerstes erforschen,
und dann den Ausdruk und jeden Ton der Rede
völlig in seiner Gewalt haben; zwey sehr schweere
Sachen. Und dennoch hat man in dieser Art un-
gleich mehr vollkommene Muster, als von dem leh-
renden Gespräch. Der Mensch zeiget sich dem schar-
fen Auge des Kenners täglich, aber die Wahrheit
erscheinet auch den Weisesten nur höchst selten in dem
völligen Glanz ihrer einfachen Schönheit. Es ist
leichter alle krummen Gänge des Herzens, als den
einzigen geraden Weg der Wahrheit auszufinden.

So viel Scharfsinnigkeit erfodert wird, die Ge-
danken des Gesprächs zu erfinden, so schweer ist es
auch auf der andern Seite, den wahren Ausdruk,
besonders aber den, jedem Jnhalt genau angemes-
senen, Gang und eigentlichen Ton der Rede zu tref-
fen. Jn keiner Gattung der Rede ist das, was
zum Ausdruk gehört, schweerer, als in dieser.

Außer einer vollkommenen Beugsamkeit des Ge-
nies, das sich schnell in jede Sinnesart und in je-
den Gesichtspunkt zu setzen wisse, wird eine große
Kenntnis der Welt und eine ungemeine Fertigkeit in
dem menschlichen Verstand und Gemüth, jede Kleinig-
keit, nicht nur genau zu bemerken, sondern auch leicht
auszudrüken erfodert. Nur der, welcher durch einen
langen Umgang sich mit allen Arten der Menschen
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bekannt gemacht, wer sie genau studirt, ihnen mit
größter Aufmerksamkeit zugehört hat, und dann
überdem noch die Gabe besitzt, sich vollkommen, leicht
und fließend auszudrüken, kann in diesem Theil
der Kunst glüklich seyn.

Hieraus läßt sich auch abnehmen, daß von den
verschiedenen Zweigen der redenden Kunst die dra-
matische Poesie, an welcher die Kunst des Gesprä-
ches so großen Antheil hat, sich am spätesten ent-
wikle. Wer lebhaft oder groß denket und empfin-
det, der hat schon das Wichtigste, was zu den mei-
sten Werken der Beredsamkeit und Dichtkunst gehört.
Beredte Männer, epische und lyrische Dichter kön-
nen unter einem Volk aufstehen, das in der Cultur
des Genies noch nicht gar weit gekommen ist. Aber
die feine Kunst, den Verstand und das Herz der
Menschen in ihren femesten Aeusserungen durch das
Gespräch zu schildern, hat weit mehr auf sich, und
ist die Frucht eines langen Nachdenkens, und des
feinesten Gefühles. Wie sehr lange hatten nicht die
Griechen ihren Homer, bevor ein Aeschylus, oder
Sophokles aufstuhnd? Das vollkommene Drama
scheinet nicht eher möglich zu seyn, als bis ein ver-
feinerter Geschmak sich ganz über den gefellschaftli-
chen Umgang der Menschen verbreitet hat. Erst
dieser bringet die Genie, die an genauer Beobachtung
der Menschen ihre Lust haben, auf die Gedanken,
sie auf das genaueste zu studiren: und nur dadurch
gelangen sie zu der, ihnen so nothwendigen, Leichtig-
keit und Richtigkeit des Tones, und alles dessen,
was zum Ausdruk gehöret.

Gewand.
(Zeichnende Künste.)

Mit diesem Wort drükt man überhaupt alles aus,
was in zeichnenden Künsten zur Bekleidung so wol
der Figuren, als auch lebloser Dinge gebraucht wird,
und was man in der Kunstsprache gar ofte mit dem
französischen Wort Drapperie bezeichnet. Die gute
Bekleidung der Figuren und die geschikte Behand-
lung der, auch bey leblosen Dingen, angebrachten
Gewänder, macht einen wichtigen und schweeren Theil
der Kunst des Zeichners und des Mahlers aus.
Schon in der Natur selbst trägt das Gewand, so wol
durch seine Form, als durch die Farbe viel zum gu-
ten Ansehen der Sachen bey; aber noch weit mehr
in den Werken der Kunst, wo auf die Gruppirung,

auf

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ſer Art zu ſchreiben bedienen kann. Man kann den
Menſchen nicht anders, als aus ſeinen Gedanken
und Empfindungen kennen; dieſe ſieht der ſcharfſin-
nige Beobachter in den tiefſten Winkeln des Herzens
und bringet ſie durch den Ausdruk der Rede an den
Tag. Dadurch entfaltet er jede Sinnesart und jede
geheime Aeuſſerung der Empfindung vor unſerm Ge-
ſichte; zieht dem Heuchler die Larve der Rechtſchaf-
fenheit ab, ſtellt den liſtigen Sophiſten in den krum-
men Jrrwegen ſeiner Liſt blos; deket auch das lie-
benswuͤrdige Gemuͤth des Redlichen auf, daß wir es
lieben und verehren. Solche Geſpraͤche ſind in dem
eigentlichſten Sinn Schilderungen der Seelen, und
ſolche Schilderungen, die nicht, wie Gemaͤhlde, vor
uns ſtehen, ſondern lebendige Abbildungen, da wir
ſelbſt auf der Scene ſtehen, wo alles vorgehet. Al-
les was im menſchlichen Gemuͤthe ſchaͤtzbar und lie-
benswuͤrdig, was veraͤchtlich und abſcheulich iſt,
wird dadurch fuͤhlbar gemacht.

Wer in dieſer Art gluͤklich ſeyn will, muß das
menſchliche Herz bis auf ſein innerſtes erforſchen,
und dann den Ausdruk und jeden Ton der Rede
voͤllig in ſeiner Gewalt haben; zwey ſehr ſchweere
Sachen. Und dennoch hat man in dieſer Art un-
gleich mehr vollkommene Muſter, als von dem leh-
renden Geſpraͤch. Der Menſch zeiget ſich dem ſchar-
fen Auge des Kenners taͤglich, aber die Wahrheit
erſcheinet auch den Weiſeſten nur hoͤchſt ſelten in dem
voͤlligen Glanz ihrer einfachen Schoͤnheit. Es iſt
leichter alle krummen Gaͤnge des Herzens, als den
einzigen geraden Weg der Wahrheit auszufinden.

So viel Scharfſinnigkeit erfodert wird, die Ge-
danken des Geſpraͤchs zu erfinden, ſo ſchweer iſt es
auch auf der andern Seite, den wahren Ausdruk,
beſonders aber den, jedem Jnhalt genau angemeſ-
ſenen, Gang und eigentlichen Ton der Rede zu tref-
fen. Jn keiner Gattung der Rede iſt das, was
zum Ausdruk gehoͤrt, ſchweerer, als in dieſer.

Außer einer vollkommenen Beugſamkeit des Ge-
nies, das ſich ſchnell in jede Sinnesart und in je-
den Geſichtspunkt zu ſetzen wiſſe, wird eine große
Kenntnis der Welt und eine ungemeine Fertigkeit in
dem menſchlichen Verſtand und Gemuͤth, jede Kleinig-
keit, nicht nur genau zu bemerken, ſondern auch leicht
auszudruͤken erfodert. Nur der, welcher durch einen
langen Umgang ſich mit allen Arten der Menſchen
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Geſ Gew
bekannt gemacht, wer ſie genau ſtudirt, ihnen mit
groͤßter Aufmerkſamkeit zugehoͤrt hat, und dann
uͤberdem noch die Gabe beſitzt, ſich vollkommen, leicht
und fließend auszudruͤken, kann in dieſem Theil
der Kunſt gluͤklich ſeyn.

Hieraus laͤßt ſich auch abnehmen, daß von den
verſchiedenen Zweigen der redenden Kunſt die dra-
matiſche Poeſie, an welcher die Kunſt des Geſpraͤ-
ches ſo großen Antheil hat, ſich am ſpaͤteſten ent-
wikle. Wer lebhaft oder groß denket und empfin-
det, der hat ſchon das Wichtigſte, was zu den mei-
ſten Werken der Beredſamkeit und Dichtkunſt gehoͤrt.
Beredte Maͤnner, epiſche und lyriſche Dichter koͤn-
nen unter einem Volk aufſtehen, das in der Cultur
des Genies noch nicht gar weit gekommen iſt. Aber
die feine Kunſt, den Verſtand und das Herz der
Menſchen in ihren femeſten Aeuſſerungen durch das
Geſpraͤch zu ſchildern, hat weit mehr auf ſich, und
iſt die Frucht eines langen Nachdenkens, und des
feineſten Gefuͤhles. Wie ſehr lange hatten nicht die
Griechen ihren Homer, bevor ein Aeſchylus, oder
Sophokles aufſtuhnd? Das vollkommene Drama
ſcheinet nicht eher moͤglich zu ſeyn, als bis ein ver-
feinerter Geſchmak ſich ganz uͤber den gefellſchaftli-
chen Umgang der Menſchen verbreitet hat. Erſt
dieſer bringet die Genie, die an genauer Beobachtung
der Menſchen ihre Luſt haben, auf die Gedanken,
ſie auf das genaueſte zu ſtudiren: und nur dadurch
gelangen ſie zu der, ihnen ſo nothwendigen, Leichtig-
keit und Richtigkeit des Tones, und alles deſſen,
was zum Ausdruk gehoͤret.

Gewand.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

Mit dieſem Wort druͤkt man uͤberhaupt alles aus,
was in zeichnenden Kuͤnſten zur Bekleidung ſo wol
der Figuren, als auch lebloſer Dinge gebraucht wird,
und was man in der Kunſtſprache gar ofte mit dem
franzoͤſiſchen Wort Drapperie bezeichnet. Die gute
Bekleidung der Figuren und die geſchikte Behand-
lung der, auch bey lebloſen Dingen, angebrachten
Gewaͤnder, macht einen wichtigen und ſchweeren Theil
der Kunſt des Zeichners und des Mahlers aus.
Schon in der Natur ſelbſt traͤgt das Gewand, ſo wol
durch ſeine Form, als durch die Farbe viel zum gu-
ten Anſehen der Sachen bey; aber noch weit mehr
in den Werken der Kunſt, wo auf die Gruppirung,

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[476/0488] Geſ Geſ Gew ſer Art zu ſchreiben bedienen kann. Man kann den Menſchen nicht anders, als aus ſeinen Gedanken und Empfindungen kennen; dieſe ſieht der ſcharfſin- nige Beobachter in den tiefſten Winkeln des Herzens und bringet ſie durch den Ausdruk der Rede an den Tag. Dadurch entfaltet er jede Sinnesart und jede geheime Aeuſſerung der Empfindung vor unſerm Ge- ſichte; zieht dem Heuchler die Larve der Rechtſchaf- fenheit ab, ſtellt den liſtigen Sophiſten in den krum- men Jrrwegen ſeiner Liſt blos; deket auch das lie- benswuͤrdige Gemuͤth des Redlichen auf, daß wir es lieben und verehren. Solche Geſpraͤche ſind in dem eigentlichſten Sinn Schilderungen der Seelen, und ſolche Schilderungen, die nicht, wie Gemaͤhlde, vor uns ſtehen, ſondern lebendige Abbildungen, da wir ſelbſt auf der Scene ſtehen, wo alles vorgehet. Al- les was im menſchlichen Gemuͤthe ſchaͤtzbar und lie- benswuͤrdig, was veraͤchtlich und abſcheulich iſt, wird dadurch fuͤhlbar gemacht. Wer in dieſer Art gluͤklich ſeyn will, muß das menſchliche Herz bis auf ſein innerſtes erforſchen, und dann den Ausdruk und jeden Ton der Rede voͤllig in ſeiner Gewalt haben; zwey ſehr ſchweere Sachen. Und dennoch hat man in dieſer Art un- gleich mehr vollkommene Muſter, als von dem leh- renden Geſpraͤch. Der Menſch zeiget ſich dem ſchar- fen Auge des Kenners taͤglich, aber die Wahrheit erſcheinet auch den Weiſeſten nur hoͤchſt ſelten in dem voͤlligen Glanz ihrer einfachen Schoͤnheit. Es iſt leichter alle krummen Gaͤnge des Herzens, als den einzigen geraden Weg der Wahrheit auszufinden. So viel Scharfſinnigkeit erfodert wird, die Ge- danken des Geſpraͤchs zu erfinden, ſo ſchweer iſt es auch auf der andern Seite, den wahren Ausdruk, beſonders aber den, jedem Jnhalt genau angemeſ- ſenen, Gang und eigentlichen Ton der Rede zu tref- fen. Jn keiner Gattung der Rede iſt das, was zum Ausdruk gehoͤrt, ſchweerer, als in dieſer. Außer einer vollkommenen Beugſamkeit des Ge- nies, das ſich ſchnell in jede Sinnesart und in je- den Geſichtspunkt zu ſetzen wiſſe, wird eine große Kenntnis der Welt und eine ungemeine Fertigkeit in dem menſchlichen Verſtand und Gemuͤth, jede Kleinig- keit, nicht nur genau zu bemerken, ſondern auch leicht auszudruͤken erfodert. Nur der, welcher durch einen langen Umgang ſich mit allen Arten der Menſchen bekannt gemacht, wer ſie genau ſtudirt, ihnen mit groͤßter Aufmerkſamkeit zugehoͤrt hat, und dann uͤberdem noch die Gabe beſitzt, ſich vollkommen, leicht und fließend auszudruͤken, kann in dieſem Theil der Kunſt gluͤklich ſeyn. Hieraus laͤßt ſich auch abnehmen, daß von den verſchiedenen Zweigen der redenden Kunſt die dra- matiſche Poeſie, an welcher die Kunſt des Geſpraͤ- ches ſo großen Antheil hat, ſich am ſpaͤteſten ent- wikle. Wer lebhaft oder groß denket und empfin- det, der hat ſchon das Wichtigſte, was zu den mei- ſten Werken der Beredſamkeit und Dichtkunſt gehoͤrt. Beredte Maͤnner, epiſche und lyriſche Dichter koͤn- nen unter einem Volk aufſtehen, das in der Cultur des Genies noch nicht gar weit gekommen iſt. Aber die feine Kunſt, den Verſtand und das Herz der Menſchen in ihren femeſten Aeuſſerungen durch das Geſpraͤch zu ſchildern, hat weit mehr auf ſich, und iſt die Frucht eines langen Nachdenkens, und des feineſten Gefuͤhles. Wie ſehr lange hatten nicht die Griechen ihren Homer, bevor ein Aeſchylus, oder Sophokles aufſtuhnd? Das vollkommene Drama ſcheinet nicht eher moͤglich zu ſeyn, als bis ein ver- feinerter Geſchmak ſich ganz uͤber den gefellſchaftli- chen Umgang der Menſchen verbreitet hat. Erſt dieſer bringet die Genie, die an genauer Beobachtung der Menſchen ihre Luſt haben, auf die Gedanken, ſie auf das genaueſte zu ſtudiren: und nur dadurch gelangen ſie zu der, ihnen ſo nothwendigen, Leichtig- keit und Richtigkeit des Tones, und alles deſſen, was zum Ausdruk gehoͤret. Gewand. (Zeichnende Kuͤnſte.) Mit dieſem Wort druͤkt man uͤberhaupt alles aus, was in zeichnenden Kuͤnſten zur Bekleidung ſo wol der Figuren, als auch lebloſer Dinge gebraucht wird, und was man in der Kunſtſprache gar ofte mit dem franzoͤſiſchen Wort Drapperie bezeichnet. Die gute Bekleidung der Figuren und die geſchikte Behand- lung der, auch bey lebloſen Dingen, angebrachten Gewaͤnder, macht einen wichtigen und ſchweeren Theil der Kunſt des Zeichners und des Mahlers aus. Schon in der Natur ſelbſt traͤgt das Gewand, ſo wol durch ſeine Form, als durch die Farbe viel zum gu- ten Anſehen der Sachen bey; aber noch weit mehr in den Werken der Kunſt, wo auf die Gruppirung, auf

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/488>, abgerufen am 14.05.2024.