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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gro
chen, die sie sich ernstlich vorsetzen, ihre Absichten
eben so gewiß, als Menschen von großem Verstand;
aber diese beyde Gattungen von Menschen sind da-
rin unterschieden, daß jene durch weite und krumme
Wege sehr langsam zum Zwek kriechen, da diese ge-
radezu und mit wenigen Schritten ihn erreichen.
Wir nennen gewisse Handlungen großmüthig, weil
eine schnelle Erweiterung oder Erhöhung edler Em-
pfindungen dazu erfoderlich scheinet; so bald wir
aber merken, daß der, der diese Handlung gethan
hat, durch unzählig wiederholte Vorstellungen, durch
vieles Bitten und Anhalten gleichsam dazu gezwun-
gen worden, so verliert die Handlung den Charakter
der Größe. So kann auch ein mittelmäßiger Kopf,
durch lang anhaltendes Bestreben, und nach hundert
vergeblichen Bemühungen des Geistes, endlich zur
Entdekung einer wichtigen Wahrheit kommen, die
der Mann von großem Verstande durch ein einzi-
ges und nicht lang anhaltendes Bestreben, erfun-
den hätte.

Diese Betrachtungen über die Größe bringen uns
auf den Weg, die Natur der ästhetischen Größe et-
was näher zu bestimmen. Jn den Werken der schö-
nen Künste legen wir den Charakter der Größe ent-
weder den Sachen selbst zu, nämlich den Gegenstän-
den, die der Künstler uns vorlegt, oder dem Künstler,
und seiner Behandlung des Gegenstandes. Je-
der dieser Fälle verdienet besonders betrachtet zu
werden.

Die ästhetischen Gegenstände beziehen sich entwe-
der auf die Sinnen und die Einbildungskraft, oder
auf den Verstand, oder auf das Herz; und wir
schreiben ihnen Größe zu, wenn wir die bestimmte
Würkung davon empfinden, daß die Phantasie, der
Verstand, oder das Herz, Erweiterung der Kräfte nö-
thig haben, um sie auf einmal zu fassen.

Der Begriff der Größe setzet also voraus, daß
wir den Gegenstand im Ganzen fassen. Man könnte
den ganzen Erdboden umreisen, ohne ihn groß zu
finden. Denn wenn man sich auf einmal immer
nur den Theil desselben vorstellte, auf welchem man
sich befindet, so hätte die Phantasie nicht nöthig sich
auszudähnen: aber wenn man den Raum von hun-
dert und mehr Tagreisen auf einmal übersehen will,
so ist diese Erweiterung nothwendig, und alsdann ent-
stehet auch der Begriff der Größe. Nicht die Viel-
heit, die aus Wiederholung entsteht, sondern die,
welche auf einmal vorschwebt, enthält den Grund
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Gro
berselben. Einheit, oder einfaches Wesen, an des-
sen Theilung man nicht denkt, oder nicht denken
kann, mit Vielheit verbunden, ist hiezu nothwen-
dig. Wo mit wenigem viel ausgerichtet wird, da
ist Größe. Der Gegenstand also, der eine einzige,
unzertrennliche Aeusserung der Vorstellungskraft be-
würkt, wodurch wir vieles zugleich klar fassen, er-
wekt den Begriff der Größe, welcher bey der größ-
ten Menge, der, uns auf einmal klar vorschweben-
den Dinge, nicht entsteht, so bald wir die Aufmerk-
samkeit nur auf eines davon richten.

Man stelle sich in Gedanken an einen Ort,
wo man einen Garten von sehr weitem Umfang
übersehen könnte; man bilde sich diesen Garten in
der Phantasie so, daß er aus unzähligen kleinen
Blumenbeeten, kleinen Büschen von mannigfaltiger
Art, und aus einer Menge kleiner Wasserbehältnisse,
Canäle, Cabinetter, und Gänge bestehe. Alle diese
Mannigfaltigkeit der Dinge übersieht man auf ein-
mal, und doch entstehet hier schweerlich das Gefühl
einer ästhetischen Größe. Es ist gar nichts da, das
uns nöthigte die Phantasie zu erweitern; denn wir
fühlen uns eher geneigt jeden einzeln Theil für sich
zu betrachten; wir empfinden um so viel weniger
Neigung den Gegenstand im Ganzen zu fassen,
da diese einzeln Theile zum Ganzen so gar kein merk-
bares Verhältniß haben; denn jeder verschwindet
oder wird unmerkbar, so bald wir das Ganze fassen
wollen: wir würden in diesem Fall etwas von gros-
sem Umfange sehen, das uns wenig reizt, weil wir
nichts darin unterscheiden. Wenn aber dieser große
Garten aus großen Parthien besteht; hier ein gros-
ser freyer Platz zum Spatzieren, da ein Wald von ho-
hen Bäumen, dort ein großes Wasserbeken u. s. f.
so fassen wir alles in eine Hauptvorstellung zu-
sammen, deren Theile, wegen ihres merklichen Ver-
hältnisses zum Ganzen, uns noch immer klar genug
bleiben, und daher entsteht eben das Gefühl der
Größe.

Hieraus ziehen wir den Schluß, daß ein sichtba-
rer Gegenstand den Charakter der Größe dadurch
bekomme, wenn er aus mannigfaltigen Theilen
besteht, die ein merkliches oder beträchtliches Ver-
hältnis zum Ganzen haben, oder in der eigentlichen
Kunstsprache zu reden, wenn er aus großen, aber
eine Mannigfaltigkeit zeigenden, Parthien besteht, die
so harmonisch zusammen verbunden sind, daß das
Aug immer auf das Ganze geführt wird. So hat

in
Q q q 2

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Gro
chen, die ſie ſich ernſtlich vorſetzen, ihre Abſichten
eben ſo gewiß, als Menſchen von großem Verſtand;
aber dieſe beyde Gattungen von Menſchen ſind da-
rin unterſchieden, daß jene durch weite und krumme
Wege ſehr langſam zum Zwek kriechen, da dieſe ge-
radezu und mit wenigen Schritten ihn erreichen.
Wir nennen gewiſſe Handlungen großmuͤthig, weil
eine ſchnelle Erweiterung oder Erhoͤhung edler Em-
pfindungen dazu erfoderlich ſcheinet; ſo bald wir
aber merken, daß der, der dieſe Handlung gethan
hat, durch unzaͤhlig wiederholte Vorſtellungen, durch
vieles Bitten und Anhalten gleichſam dazu gezwun-
gen worden, ſo verliert die Handlung den Charakter
der Groͤße. So kann auch ein mittelmaͤßiger Kopf,
durch lang anhaltendes Beſtreben, und nach hundert
vergeblichen Bemuͤhungen des Geiſtes, endlich zur
Entdekung einer wichtigen Wahrheit kommen, die
der Mann von großem Verſtande durch ein einzi-
ges und nicht lang anhaltendes Beſtreben, erfun-
den haͤtte.

Dieſe Betrachtungen uͤber die Groͤße bringen uns
auf den Weg, die Natur der aͤſthetiſchen Groͤße et-
was naͤher zu beſtimmen. Jn den Werken der ſchoͤ-
nen Kuͤnſte legen wir den Charakter der Groͤße ent-
weder den Sachen ſelbſt zu, naͤmlich den Gegenſtaͤn-
den, die der Kuͤnſtler uns vorlegt, oder dem Kuͤnſtler,
und ſeiner Behandlung des Gegenſtandes. Je-
der dieſer Faͤlle verdienet beſonders betrachtet zu
werden.

Die aͤſthetiſchen Gegenſtaͤnde beziehen ſich entwe-
der auf die Sinnen und die Einbildungskraft, oder
auf den Verſtand, oder auf das Herz; und wir
ſchreiben ihnen Groͤße zu, wenn wir die beſtimmte
Wuͤrkung davon empfinden, daß die Phantaſie, der
Verſtand, oder das Herz, Erweiterung der Kraͤfte noͤ-
thig haben, um ſie auf einmal zu faſſen.

Der Begriff der Groͤße ſetzet alſo voraus, daß
wir den Gegenſtand im Ganzen faſſen. Man koͤnnte
den ganzen Erdboden umreiſen, ohne ihn groß zu
finden. Denn wenn man ſich auf einmal immer
nur den Theil deſſelben vorſtellte, auf welchem man
ſich befindet, ſo haͤtte die Phantaſie nicht noͤthig ſich
auszudaͤhnen: aber wenn man den Raum von hun-
dert und mehr Tagreiſen auf einmal uͤberſehen will,
ſo iſt dieſe Erweiterung nothwendig, und alsdann ent-
ſtehet auch der Begriff der Groͤße. Nicht die Viel-
heit, die aus Wiederholung entſteht, ſondern die,
welche auf einmal vorſchwebt, enthaͤlt den Grund
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Gro
berſelben. Einheit, oder einfaches Weſen, an deſ-
ſen Theilung man nicht denkt, oder nicht denken
kann, mit Vielheit verbunden, iſt hiezu nothwen-
dig. Wo mit wenigem viel ausgerichtet wird, da
iſt Groͤße. Der Gegenſtand alſo, der eine einzige,
unzertrennliche Aeuſſerung der Vorſtellungskraft be-
wuͤrkt, wodurch wir vieles zugleich klar faſſen, er-
wekt den Begriff der Groͤße, welcher bey der groͤß-
ten Menge, der, uns auf einmal klar vorſchweben-
den Dinge, nicht entſteht, ſo bald wir die Aufmerk-
ſamkeit nur auf eines davon richten.

Man ſtelle ſich in Gedanken an einen Ort,
wo man einen Garten von ſehr weitem Umfang
uͤberſehen koͤnnte; man bilde ſich dieſen Garten in
der Phantaſie ſo, daß er aus unzaͤhligen kleinen
Blumenbeeten, kleinen Buͤſchen von mannigfaltiger
Art, und aus einer Menge kleiner Waſſerbehaͤltniſſe,
Canaͤle, Cabinetter, und Gaͤnge beſtehe. Alle dieſe
Mannigfaltigkeit der Dinge uͤberſieht man auf ein-
mal, und doch entſtehet hier ſchweerlich das Gefuͤhl
einer aͤſthetiſchen Groͤße. Es iſt gar nichts da, das
uns noͤthigte die Phantaſie zu erweitern; denn wir
fuͤhlen uns eher geneigt jeden einzeln Theil fuͤr ſich
zu betrachten; wir empfinden um ſo viel weniger
Neigung den Gegenſtand im Ganzen zu faſſen,
da dieſe einzeln Theile zum Ganzen ſo gar kein merk-
bares Verhaͤltniß haben; denn jeder verſchwindet
oder wird unmerkbar, ſo bald wir das Ganze faſſen
wollen: wir wuͤrden in dieſem Fall etwas von groſ-
ſem Umfange ſehen, das uns wenig reizt, weil wir
nichts darin unterſcheiden. Wenn aber dieſer große
Garten aus großen Parthien beſteht; hier ein groſ-
ſer freyer Platz zum Spatzieren, da ein Wald von ho-
hen Baͤumen, dort ein großes Waſſerbeken u. ſ. f.
ſo faſſen wir alles in eine Hauptvorſtellung zu-
ſammen, deren Theile, wegen ihres merklichen Ver-
haͤltniſſes zum Ganzen, uns noch immer klar genug
bleiben, und daher entſteht eben das Gefuͤhl der
Groͤße.

Hieraus ziehen wir den Schluß, daß ein ſichtba-
rer Gegenſtand den Charakter der Groͤße dadurch
bekomme, wenn er aus mannigfaltigen Theilen
beſteht, die ein merkliches oder betraͤchtliches Ver-
haͤltnis zum Ganzen haben, oder in der eigentlichen
Kunſtſprache zu reden, wenn er aus großen, aber
eine Mannigfaltigkeit zeigenden, Parthien beſteht, die
ſo harmoniſch zuſammen verbunden ſind, daß das
Aug immer auf das Ganze gefuͤhrt wird. So hat

in
Q q q 2
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[491/0503] Gro Gro chen, die ſie ſich ernſtlich vorſetzen, ihre Abſichten eben ſo gewiß, als Menſchen von großem Verſtand; aber dieſe beyde Gattungen von Menſchen ſind da- rin unterſchieden, daß jene durch weite und krumme Wege ſehr langſam zum Zwek kriechen, da dieſe ge- radezu und mit wenigen Schritten ihn erreichen. Wir nennen gewiſſe Handlungen großmuͤthig, weil eine ſchnelle Erweiterung oder Erhoͤhung edler Em- pfindungen dazu erfoderlich ſcheinet; ſo bald wir aber merken, daß der, der dieſe Handlung gethan hat, durch unzaͤhlig wiederholte Vorſtellungen, durch vieles Bitten und Anhalten gleichſam dazu gezwun- gen worden, ſo verliert die Handlung den Charakter der Groͤße. So kann auch ein mittelmaͤßiger Kopf, durch lang anhaltendes Beſtreben, und nach hundert vergeblichen Bemuͤhungen des Geiſtes, endlich zur Entdekung einer wichtigen Wahrheit kommen, die der Mann von großem Verſtande durch ein einzi- ges und nicht lang anhaltendes Beſtreben, erfun- den haͤtte. Dieſe Betrachtungen uͤber die Groͤße bringen uns auf den Weg, die Natur der aͤſthetiſchen Groͤße et- was naͤher zu beſtimmen. Jn den Werken der ſchoͤ- nen Kuͤnſte legen wir den Charakter der Groͤße ent- weder den Sachen ſelbſt zu, naͤmlich den Gegenſtaͤn- den, die der Kuͤnſtler uns vorlegt, oder dem Kuͤnſtler, und ſeiner Behandlung des Gegenſtandes. Je- der dieſer Faͤlle verdienet beſonders betrachtet zu werden. Die aͤſthetiſchen Gegenſtaͤnde beziehen ſich entwe- der auf die Sinnen und die Einbildungskraft, oder auf den Verſtand, oder auf das Herz; und wir ſchreiben ihnen Groͤße zu, wenn wir die beſtimmte Wuͤrkung davon empfinden, daß die Phantaſie, der Verſtand, oder das Herz, Erweiterung der Kraͤfte noͤ- thig haben, um ſie auf einmal zu faſſen. Der Begriff der Groͤße ſetzet alſo voraus, daß wir den Gegenſtand im Ganzen faſſen. Man koͤnnte den ganzen Erdboden umreiſen, ohne ihn groß zu finden. Denn wenn man ſich auf einmal immer nur den Theil deſſelben vorſtellte, auf welchem man ſich befindet, ſo haͤtte die Phantaſie nicht noͤthig ſich auszudaͤhnen: aber wenn man den Raum von hun- dert und mehr Tagreiſen auf einmal uͤberſehen will, ſo iſt dieſe Erweiterung nothwendig, und alsdann ent- ſtehet auch der Begriff der Groͤße. Nicht die Viel- heit, die aus Wiederholung entſteht, ſondern die, welche auf einmal vorſchwebt, enthaͤlt den Grund berſelben. Einheit, oder einfaches Weſen, an deſ- ſen Theilung man nicht denkt, oder nicht denken kann, mit Vielheit verbunden, iſt hiezu nothwen- dig. Wo mit wenigem viel ausgerichtet wird, da iſt Groͤße. Der Gegenſtand alſo, der eine einzige, unzertrennliche Aeuſſerung der Vorſtellungskraft be- wuͤrkt, wodurch wir vieles zugleich klar faſſen, er- wekt den Begriff der Groͤße, welcher bey der groͤß- ten Menge, der, uns auf einmal klar vorſchweben- den Dinge, nicht entſteht, ſo bald wir die Aufmerk- ſamkeit nur auf eines davon richten. Man ſtelle ſich in Gedanken an einen Ort, wo man einen Garten von ſehr weitem Umfang uͤberſehen koͤnnte; man bilde ſich dieſen Garten in der Phantaſie ſo, daß er aus unzaͤhligen kleinen Blumenbeeten, kleinen Buͤſchen von mannigfaltiger Art, und aus einer Menge kleiner Waſſerbehaͤltniſſe, Canaͤle, Cabinetter, und Gaͤnge beſtehe. Alle dieſe Mannigfaltigkeit der Dinge uͤberſieht man auf ein- mal, und doch entſtehet hier ſchweerlich das Gefuͤhl einer aͤſthetiſchen Groͤße. Es iſt gar nichts da, das uns noͤthigte die Phantaſie zu erweitern; denn wir fuͤhlen uns eher geneigt jeden einzeln Theil fuͤr ſich zu betrachten; wir empfinden um ſo viel weniger Neigung den Gegenſtand im Ganzen zu faſſen, da dieſe einzeln Theile zum Ganzen ſo gar kein merk- bares Verhaͤltniß haben; denn jeder verſchwindet oder wird unmerkbar, ſo bald wir das Ganze faſſen wollen: wir wuͤrden in dieſem Fall etwas von groſ- ſem Umfange ſehen, das uns wenig reizt, weil wir nichts darin unterſcheiden. Wenn aber dieſer große Garten aus großen Parthien beſteht; hier ein groſ- ſer freyer Platz zum Spatzieren, da ein Wald von ho- hen Baͤumen, dort ein großes Waſſerbeken u. ſ. f. ſo faſſen wir alles in eine Hauptvorſtellung zu- ſammen, deren Theile, wegen ihres merklichen Ver- haͤltniſſes zum Ganzen, uns noch immer klar genug bleiben, und daher entſteht eben das Gefuͤhl der Groͤße. Hieraus ziehen wir den Schluß, daß ein ſichtba- rer Gegenſtand den Charakter der Groͤße dadurch bekomme, wenn er aus mannigfaltigen Theilen beſteht, die ein merkliches oder betraͤchtliches Ver- haͤltnis zum Ganzen haben, oder in der eigentlichen Kunſtſprache zu reden, wenn er aus großen, aber eine Mannigfaltigkeit zeigenden, Parthien beſteht, die ſo harmoniſch zuſammen verbunden ſind, daß das Aug immer auf das Ganze gefuͤhrt wird. So hat in Q q q 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/503>, abgerufen am 22.11.2024.