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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hae

Mit demselbigen Geist muß der Künstler vorzüg-
lich durch das Schöne sich den Weg zu den Herzen
öfnen, aber auch das Häßliche brauchen, um dem
Bösen den Eingang in dasselbe zu verschließen.
Jn dieser Absicht hat Milton der Sünde eine so ab-
scheuliche Gestalt gegeben, ein Muster des Häßlichen;
und zu gleichem Zwek hat Bodmer in der Noachide
die scheußlichsten Formen zu Bildern verschiedener
Sünden gewählt. So hat auch Raphael, der fei-
neste Kenner des Schönen in der Form, den ster-
benden Ananias und den Attila häßlich gemacht.

Von den unangenehmen Empfindungen sind Zorn
und Schreken nicht die einzigen, welche der Künstler
(*) S.
Ekel.
zu erweken hat, sondern auch Abscheu und Ekel (*);
dazu ist das Häßliche das eigentliche Mittel.

Man verbietet insbesondere den zeichnenden Kün-
sten den Gebrauch des Häßlichen. Aber so wider-
sinnisch der Mahler handelt, der häßliche Gegen-
stände blos darum wählt, weil sie häßlich sind,
oder um seine Kunst daran zu zeigen, so kann man
ihm dessen Gebrauch nicht schlechterdings verbieten.
Hat er Personen von abscheulichem Charakter vor-
zustellen, warum soll er nicht die Zeichen der Ver-
werfung auch ihrer Form einprägen? Allein des-
wegen wollen wir das Uebertriebene hierin nicht gut
heißen. Es kann einer ein nichtswürdiger Mensch
seyn, ohne wie eine Carrikatur auszusehen: er
kann wolgestaltet seyn, und dennoch durch irgend
etwas Widriges in der Form, das Häßliche seiner
Natur verrathen.

Der Gebrauch des Häßlichen in den Werken der
schönen Künste ist also keinem Zweifel unterworfen.
Dieses aber widerstreitet dem Grundsatz, daß der
Künstler seinen Gegenstand verschönern soll, gar
nicht. Beydes kann sehr wol neben einander be-
stehen, wenn man nur die Begriffe aus der Na-
tur und dem Wesen der schönen Künste genau
bestimmt.

Dieses besteht unstreitig darin, daß sie den Ge-
genstand, durch welchen sie auf die Gemüther wür-
ken wollen, so bearbeiten, daß die Sinnen, oder
die Einbildungskraft ihn lebhaft, mit völliger Klar-
heit und in dem eigentlichen Lichte fassen. Er muß
nothwendig so seyn, daß er die Aufmerksamkeit rei-
zet, und sich der Vorstellungskraft schnell und sicher
gleichsam einverleibet. Darum muß er weder ver-
worren, noch undeutlich, noch widersinnisch seyn,
noch irgend etwas an sich haben, das der Vorstel-
[Spaltenumbruch]

Hal
lungskraft den lebhaften Eindruk, den sie davon ha-
ben soll, schweer macht; weil in diesem Fall der
Zwek verfehlt wird. Jeder Künstler ist als ein
Redner anzusehen, der durch seinen Vortrag in den
Gemüthern eine gewisse Würkung hervorzubringen
hat. Diese mag angenehm oder unangenehm seyn,
so müssen die Vorstellungen, wodurch er seinen
Zwek erreichen will, durch Klarheit, durch Richtig-
keit, durch treffende Kraft, durch Ordnung, tief
in die Vorstellungskraft eindringen. Ein verwor-
rener, undeutlicher, langweiliger Vortrag, unbe-
stimmte und confuse Begriffe, sind allemal dem Zwek
des Redners entgegen; weil das, was darin liegt,
nicht gefaßt wird. Deswegen muß er immer gut,
oder, wenn man will, schön reden, auch da,
wo er wiedrige Empfindungen erweken will. Da-
durch zwinget er uns ihm auch alsdann| zu zuhören,
wann er uns unangenehme Dinge sagt. Mit einem
Wort, er muß auch häßliche Dinge schön sagen,
das ist, auch widrigen Vorstellungen die ästhetische
Vollkommenheit, die man ofte mit dem Namen der
Schönheit belegt, zu geben wissen. So muß jeder
Künstler seinen Gegenstand bearbeiten; er muß so
wol schöne, als widrige, häßliche Dinge so vor
das Aug bringen, daß wir gezwungen werden, sie
lebhaft zu fassen.

Halber Ton.
(Musik.)

So wird das kleineste diatonische Jntervall genennt,
C-Cis, oder E-F u. s. w. Dieses Jntervall ist aber
von zweyerley Größe: der große halbe Ton, E-F,
oder H-C, der der Unterschied ist, zwischen der
reinen großen Terz 4/5 und der reinen Quarte 3/4, und
folglich durch ausgedrukt wird: und der kleine
halbe Ton, der der Unterschied zwischen der gros-
sen und kleinen Terz ist, und durch ausgedrükt
wird. Dieser kleine halbe Ton aber kömmt in un-
srer Tonleiter gar nicht vor. Ueberhaupt ist jede
Stufe, oder jedes Jntervall zwischen den zwey näch-
sten Sayten der heutigen Tonleiter, als C-Cis, Cis-
D
u. s. f., ein halber Ton; und diese sind bald grös-
ser, bald kleiner, wie jederman aus Vergleichung
der Zahlen sehen kann (*). Diejenigen, welche(*) S.
Systent.

den kleinen halben Ton C-Cis annehmen,
bekommen dadurch eine große Terz Cis-F, wel-
che nicht kann gebraucht werden, weil sie um
zu hoch ist.

Halb-
Erster Theil. S s s
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Hae

Mit demſelbigen Geiſt muß der Kuͤnſtler vorzuͤg-
lich durch das Schoͤne ſich den Weg zu den Herzen
oͤfnen, aber auch das Haͤßliche brauchen, um dem
Boͤſen den Eingang in daſſelbe zu verſchließen.
Jn dieſer Abſicht hat Milton der Suͤnde eine ſo ab-
ſcheuliche Geſtalt gegeben, ein Muſter des Haͤßlichen;
und zu gleichem Zwek hat Bodmer in der Noachide
die ſcheußlichſten Formen zu Bildern verſchiedener
Suͤnden gewaͤhlt. So hat auch Raphael, der fei-
neſte Kenner des Schoͤnen in der Form, den ſter-
benden Ananias und den Attila haͤßlich gemacht.

Von den unangenehmen Empfindungen ſind Zorn
und Schreken nicht die einzigen, welche der Kuͤnſtler
(*) S.
Ekel.
zu erweken hat, ſondern auch Abſcheu und Ekel (*);
dazu iſt das Haͤßliche das eigentliche Mittel.

Man verbietet insbeſondere den zeichnenden Kuͤn-
ſten den Gebrauch des Haͤßlichen. Aber ſo wider-
ſinniſch der Mahler handelt, der haͤßliche Gegen-
ſtaͤnde blos darum waͤhlt, weil ſie haͤßlich ſind,
oder um ſeine Kunſt daran zu zeigen, ſo kann man
ihm deſſen Gebrauch nicht ſchlechterdings verbieten.
Hat er Perſonen von abſcheulichem Charakter vor-
zuſtellen, warum ſoll er nicht die Zeichen der Ver-
werfung auch ihrer Form einpraͤgen? Allein des-
wegen wollen wir das Uebertriebene hierin nicht gut
heißen. Es kann einer ein nichtswuͤrdiger Menſch
ſeyn, ohne wie eine Carrikatur auszuſehen: er
kann wolgeſtaltet ſeyn, und dennoch durch irgend
etwas Widriges in der Form, das Haͤßliche ſeiner
Natur verrathen.

Der Gebrauch des Haͤßlichen in den Werken der
ſchoͤnen Kuͤnſte iſt alſo keinem Zweifel unterworfen.
Dieſes aber widerſtreitet dem Grundſatz, daß der
Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand verſchoͤnern ſoll, gar
nicht. Beydes kann ſehr wol neben einander be-
ſtehen, wenn man nur die Begriffe aus der Na-
tur und dem Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte genau
beſtimmt.

Dieſes beſteht unſtreitig darin, daß ſie den Ge-
genſtand, durch welchen ſie auf die Gemuͤther wuͤr-
ken wollen, ſo bearbeiten, daß die Sinnen, oder
die Einbildungskraft ihn lebhaft, mit voͤlliger Klar-
heit und in dem eigentlichen Lichte faſſen. Er muß
nothwendig ſo ſeyn, daß er die Aufmerkſamkeit rei-
zet, und ſich der Vorſtellungskraft ſchnell und ſicher
gleichſam einverleibet. Darum muß er weder ver-
worren, noch undeutlich, noch widerſinniſch ſeyn,
noch irgend etwas an ſich haben, das der Vorſtel-
[Spaltenumbruch]

Hal
lungskraft den lebhaften Eindruk, den ſie davon ha-
ben ſoll, ſchweer macht; weil in dieſem Fall der
Zwek verfehlt wird. Jeder Kuͤnſtler iſt als ein
Redner anzuſehen, der durch ſeinen Vortrag in den
Gemuͤthern eine gewiſſe Wuͤrkung hervorzubringen
hat. Dieſe mag angenehm oder unangenehm ſeyn,
ſo muͤſſen die Vorſtellungen, wodurch er ſeinen
Zwek erreichen will, durch Klarheit, durch Richtig-
keit, durch treffende Kraft, durch Ordnung, tief
in die Vorſtellungskraft eindringen. Ein verwor-
rener, undeutlicher, langweiliger Vortrag, unbe-
ſtimmte und confuſe Begriffe, ſind allemal dem Zwek
des Redners entgegen; weil das, was darin liegt,
nicht gefaßt wird. Deswegen muß er immer gut,
oder, wenn man will, ſchoͤn reden, auch da,
wo er wiedrige Empfindungen erweken will. Da-
durch zwinget er uns ihm auch alsdann| zu zuhoͤren,
wann er uns unangenehme Dinge ſagt. Mit einem
Wort, er muß auch haͤßliche Dinge ſchoͤn ſagen,
das iſt, auch widrigen Vorſtellungen die aͤſthetiſche
Vollkommenheit, die man ofte mit dem Namen der
Schoͤnheit belegt, zu geben wiſſen. So muß jeder
Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand bearbeiten; er muß ſo
wol ſchoͤne, als widrige, haͤßliche Dinge ſo vor
das Aug bringen, daß wir gezwungen werden, ſie
lebhaft zu faſſen.

Halber Ton.
(Muſik.)

So wird das kleineſte diatoniſche Jntervall genennt,
C-Cis, oder E-F u. ſ. w. Dieſes Jntervall iſt aber
von zweyerley Groͤße: der große halbe Ton, E-F,
oder H-C, der der Unterſchied iſt, zwiſchen der
reinen großen Terz ⅘ und der reinen Quarte ¾, und
folglich durch ausgedrukt wird: und der kleine
halbe Ton, der der Unterſchied zwiſchen der groſ-
ſen und kleinen Terz iſt, und durch ausgedruͤkt
wird. Dieſer kleine halbe Ton aber koͤmmt in un-
ſrer Tonleiter gar nicht vor. Ueberhaupt iſt jede
Stufe, oder jedes Jntervall zwiſchen den zwey naͤch-
ſten Sayten der heutigen Tonleiter, als C-Cis, Cis-
D
u. ſ. f., ein halber Ton; und dieſe ſind bald groͤſ-
ſer, bald kleiner, wie jederman aus Vergleichung
der Zahlen ſehen kann (*). Diejenigen, welche(*) S.
Syſtent.

den kleinen halben Ton C-Cis annehmen,
bekommen dadurch eine große Terz Cis-F, wel-
che nicht kann gebraucht werden, weil ſie um
zu hoch iſt.

Halb-
Erſter Theil. S s s
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[505/0517] Hae Hal Mit demſelbigen Geiſt muß der Kuͤnſtler vorzuͤg- lich durch das Schoͤne ſich den Weg zu den Herzen oͤfnen, aber auch das Haͤßliche brauchen, um dem Boͤſen den Eingang in daſſelbe zu verſchließen. Jn dieſer Abſicht hat Milton der Suͤnde eine ſo ab- ſcheuliche Geſtalt gegeben, ein Muſter des Haͤßlichen; und zu gleichem Zwek hat Bodmer in der Noachide die ſcheußlichſten Formen zu Bildern verſchiedener Suͤnden gewaͤhlt. So hat auch Raphael, der fei- neſte Kenner des Schoͤnen in der Form, den ſter- benden Ananias und den Attila haͤßlich gemacht. Von den unangenehmen Empfindungen ſind Zorn und Schreken nicht die einzigen, welche der Kuͤnſtler zu erweken hat, ſondern auch Abſcheu und Ekel (*); dazu iſt das Haͤßliche das eigentliche Mittel. (*) S. Ekel. Man verbietet insbeſondere den zeichnenden Kuͤn- ſten den Gebrauch des Haͤßlichen. Aber ſo wider- ſinniſch der Mahler handelt, der haͤßliche Gegen- ſtaͤnde blos darum waͤhlt, weil ſie haͤßlich ſind, oder um ſeine Kunſt daran zu zeigen, ſo kann man ihm deſſen Gebrauch nicht ſchlechterdings verbieten. Hat er Perſonen von abſcheulichem Charakter vor- zuſtellen, warum ſoll er nicht die Zeichen der Ver- werfung auch ihrer Form einpraͤgen? Allein des- wegen wollen wir das Uebertriebene hierin nicht gut heißen. Es kann einer ein nichtswuͤrdiger Menſch ſeyn, ohne wie eine Carrikatur auszuſehen: er kann wolgeſtaltet ſeyn, und dennoch durch irgend etwas Widriges in der Form, das Haͤßliche ſeiner Natur verrathen. Der Gebrauch des Haͤßlichen in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte iſt alſo keinem Zweifel unterworfen. Dieſes aber widerſtreitet dem Grundſatz, daß der Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand verſchoͤnern ſoll, gar nicht. Beydes kann ſehr wol neben einander be- ſtehen, wenn man nur die Begriffe aus der Na- tur und dem Weſen der ſchoͤnen Kuͤnſte genau beſtimmt. Dieſes beſteht unſtreitig darin, daß ſie den Ge- genſtand, durch welchen ſie auf die Gemuͤther wuͤr- ken wollen, ſo bearbeiten, daß die Sinnen, oder die Einbildungskraft ihn lebhaft, mit voͤlliger Klar- heit und in dem eigentlichen Lichte faſſen. Er muß nothwendig ſo ſeyn, daß er die Aufmerkſamkeit rei- zet, und ſich der Vorſtellungskraft ſchnell und ſicher gleichſam einverleibet. Darum muß er weder ver- worren, noch undeutlich, noch widerſinniſch ſeyn, noch irgend etwas an ſich haben, das der Vorſtel- lungskraft den lebhaften Eindruk, den ſie davon ha- ben ſoll, ſchweer macht; weil in dieſem Fall der Zwek verfehlt wird. Jeder Kuͤnſtler iſt als ein Redner anzuſehen, der durch ſeinen Vortrag in den Gemuͤthern eine gewiſſe Wuͤrkung hervorzubringen hat. Dieſe mag angenehm oder unangenehm ſeyn, ſo muͤſſen die Vorſtellungen, wodurch er ſeinen Zwek erreichen will, durch Klarheit, durch Richtig- keit, durch treffende Kraft, durch Ordnung, tief in die Vorſtellungskraft eindringen. Ein verwor- rener, undeutlicher, langweiliger Vortrag, unbe- ſtimmte und confuſe Begriffe, ſind allemal dem Zwek des Redners entgegen; weil das, was darin liegt, nicht gefaßt wird. Deswegen muß er immer gut, oder, wenn man will, ſchoͤn reden, auch da, wo er wiedrige Empfindungen erweken will. Da- durch zwinget er uns ihm auch alsdann| zu zuhoͤren, wann er uns unangenehme Dinge ſagt. Mit einem Wort, er muß auch haͤßliche Dinge ſchoͤn ſagen, das iſt, auch widrigen Vorſtellungen die aͤſthetiſche Vollkommenheit, die man ofte mit dem Namen der Schoͤnheit belegt, zu geben wiſſen. So muß jeder Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand bearbeiten; er muß ſo wol ſchoͤne, als widrige, haͤßliche Dinge ſo vor das Aug bringen, daß wir gezwungen werden, ſie lebhaft zu faſſen. Halber Ton. (Muſik.) So wird das kleineſte diatoniſche Jntervall genennt, C-Cis, oder E-F u. ſ. w. Dieſes Jntervall iſt aber von zweyerley Groͤße: der große halbe Ton, E-F, oder H-C, der der Unterſchied iſt, zwiſchen der reinen großen Terz ⅘ und der reinen Quarte ¾, und folglich durch [FORMEL] ausgedrukt wird: und der kleine halbe Ton, der der Unterſchied zwiſchen der groſ- ſen und kleinen Terz iſt, und durch [FORMEL] ausgedruͤkt wird. Dieſer kleine halbe Ton aber koͤmmt in un- ſrer Tonleiter gar nicht vor. Ueberhaupt iſt jede Stufe, oder jedes Jntervall zwiſchen den zwey naͤch- ſten Sayten der heutigen Tonleiter, als C-Cis, Cis- D u. ſ. f., ein halber Ton; und dieſe ſind bald groͤſ- ſer, bald kleiner, wie jederman aus Vergleichung der Zahlen ſehen kann (*). Diejenigen, welche den kleinen halben Ton C-Cis [FORMEL] annehmen, bekommen dadurch eine große Terz Cis-F, wel- che nicht kann gebraucht werden, weil ſie um [FORMEL] zu hoch iſt. (*) S. Syſtent. Halb- Erſter Theil. S s s

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/517>, abgerufen am 22.11.2024.