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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hal
Halbschatten.
(Mahlerey.)

Dieses Wort wird in der Mahlerey gebraucht, aber
nicht allemal in dem eigentlichen, ihm zukommen-
den Sinn. Nach seiner wahren Bedeutung muß
es bey der Farbengebung von den Stellen gebraucht
werden, wo die eigenthümliche Farbe der Körper,
aus Mangel des vollen Lichts, etwas dunkeler wird,
als sie da ist, wo das ganze Licht auffällt. Wenn
ein an der Sonne liegender Körper einen Theil
seiner Fläche der Sonne gerade zukehret, daß alle
Strahlen senkrecht, oder beynahe so darauf fallen,
so erscheinet auf dieser Stelle des Körpers seine ei-
genthümliche Farbe in vollem Lichte; die Theile, die
von der Sonne weggekehrt sind, auf die folglich gar
kein Sonnenstrahl fallen kann, sind im völligen
Schatten; die Stellen aber, wo das Licht schief
auffällt, die von demselben nur gestreift werden,
haben ein merklich vermindertes Sonnenlicht, folg-
lich wird die eigenthümliche Farbe weniger hell.
Weil die Farbe weder das volle Licht hat, noch
in vollem Schatten liegt, so giebt man dieser Ver-
minderung der Helligkeit der eigenthümlichen Farbe
den Namen des Halbschattens. Die Verdunklung
der eigenthümlichen Farbe kann durch Beymischung
einer dunkeln Farb in die Helle, und also durch das
Brechen der Farben erhalten werden, deswegen
haben einige das Wort Halbschatten überhaupt
von den gebrochenen Farben gebraucht. Andre
haben überhaupt die Mittelfarben Halbschatten ge-
nennt, weil die Verdunklung der hellen Farbe des
vollen Lichtes auch durch ganze Mittelfarben kann
erhalten werden. Hieraus läßt sich begreifen, wo-
her die Ungewißheit und Verwirrung in Ansehung
der Bedeutung des Worts entstanden ist, über wel-
che der Hr. von Hagedorn, in seinen Betrachtungen
(*) S.
681.
über die Mahlerey, sich beklagt. (*)

Haltung des Körpers.
(Schöne Künste.)

Wir verstehen hier durch dieses Wort das, was
man gemeiniglich durch das französische Wort Main-
tien
ausdrükt, die charakteristische Art, wie ein Mensch
bey den verschiedenen Stellungen und Gebehrden
sich trägt, oder hält. Fast alle Arten des sittlichen
Charakters können, bey jeder Art der Stellung und
Gebehrdung, schon durch die Haltung des Körpers
[Spaltenumbruch]

Hal
ausgedrükt werden; das Aug des Kenners entdekt
darin Unschuld oder Frechheit, Güte der Seele oder
Härtigkeit des Herzens, edles oder niedriges Wesen.
Die Haltung ist gleichsam der Ton der Stellung und
der Gebehrden; denn wie einerley Worte, durch
den Ton in dem sie gesagt werden, von ganz ver-
schiedener Kraft seyn können, so können auch einer-
ley Gebehrden durch die Haltung einen verschiedenen
Charakter bekommen. So unmöglich es auch ist,
das was zur Haltung gehört, zu beschreiben, so
klar und gewiß ist doch ihre Würkung auf den feinen
Kenner. Sie ist eines der Mittel, wodurch die
Seele sichtbar gemacht wird.

Jn den zeichnenden Künsten, im Schauspiel,
im Tanz und auch in dem Vortrag der Rede, ist sie
von der größten Wichtigkeit, weil sie uns ofte Dinge
empfinden läßt, die uns durch kein anderes Mittel
empfindbar könnten gemacht werden. Es war die
Haltung, aus welcher nach Virgils Beobachtung
Aeneas die Venus erkannte: Incessu patuit Dea;
und so kennet man den Apollo im Belvedere für den
Gott des Lichts. Jn Raphaels Geschichte der Psyche
erscheinet diese Braut des Amors mehr als einmal
in einer Haltung, die uns ein höchst naives und lie-
benswürdiges Wesen in ihrem Charakter lebhaft
empfinden läßt. Jn den zeichnenden Künsten ist die
Vollkommenheit der Haltung das Höchste der Kunst,
weil sie den Figuren das Leben giebt, und durch die-
ses Leben die Seele sichtbar macht. Jn den mimi-
schen Künsten ist es die Haltung allein, die uns an-
statt des Schauspielers oder Tänzers die Personen
selbst, die sie vorstellen, vors Gesicht bringt und die
höchste Täuschung bewürkt; in dem Vortrag der
Rede aber könnte sie allein, wenn auch die Worte
unvernehmlich wären, die Ueberzeugung bewürken.

Aber dieser Theil der Kunst liegt ganz außer der
Kunst; nicht der Künstler, sondern der Mensch von
empfindsamer Seele, der jede Aeusserung des un-
sichtbaren Wesens, das den Körper belebt, vermag
zu bemerken und an sich selbst zu empfinden, sieht
den Charakter und den besonderen, aus der Em-
pfindung entstehenden, inneren Zustand des Men-
schen in der Haltung des Leibes. Nicht darum,
weil Phidias ein Bildhauer war, konnten die Grie-
chen etwas von der Majestät der Gottheit in dem
Bilde seines Jupiters fühlen, sondern darum, weil
er seine Seele zur Empfindung der Hoheit des gött-
lichen Wesens erheben konnte. So zeiget ein Gar-

rik
[Spaltenumbruch]
Hal
Halbſchatten.
(Mahlerey.)

Dieſes Wort wird in der Mahlerey gebraucht, aber
nicht allemal in dem eigentlichen, ihm zukommen-
den Sinn. Nach ſeiner wahren Bedeutung muß
es bey der Farbengebung von den Stellen gebraucht
werden, wo die eigenthuͤmliche Farbe der Koͤrper,
aus Mangel des vollen Lichts, etwas dunkeler wird,
als ſie da iſt, wo das ganze Licht auffaͤllt. Wenn
ein an der Sonne liegender Koͤrper einen Theil
ſeiner Flaͤche der Sonne gerade zukehret, daß alle
Strahlen ſenkrecht, oder beynahe ſo darauf fallen,
ſo erſcheinet auf dieſer Stelle des Koͤrpers ſeine ei-
genthuͤmliche Farbe in vollem Lichte; die Theile, die
von der Sonne weggekehrt ſind, auf die folglich gar
kein Sonnenſtrahl fallen kann, ſind im voͤlligen
Schatten; die Stellen aber, wo das Licht ſchief
auffaͤllt, die von demſelben nur geſtreift werden,
haben ein merklich vermindertes Sonnenlicht, folg-
lich wird die eigenthuͤmliche Farbe weniger hell.
Weil die Farbe weder das volle Licht hat, noch
in vollem Schatten liegt, ſo giebt man dieſer Ver-
minderung der Helligkeit der eigenthuͤmlichen Farbe
den Namen des Halbſchattens. Die Verdunklung
der eigenthuͤmlichen Farbe kann durch Beymiſchung
einer dunkeln Farb in die Helle, und alſo durch das
Brechen der Farben erhalten werden, deswegen
haben einige das Wort Halbſchatten uͤberhaupt
von den gebrochenen Farben gebraucht. Andre
haben uͤberhaupt die Mittelfarben Halbſchatten ge-
nennt, weil die Verdunklung der hellen Farbe des
vollen Lichtes auch durch ganze Mittelfarben kann
erhalten werden. Hieraus laͤßt ſich begreifen, wo-
her die Ungewißheit und Verwirrung in Anſehung
der Bedeutung des Worts entſtanden iſt, uͤber wel-
che der Hr. von Hagedorn, in ſeinen Betrachtungen
(*) S.
681.
uͤber die Mahlerey, ſich beklagt. (*)

Haltung des Koͤrpers.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Wir verſtehen hier durch dieſes Wort das, was
man gemeiniglich durch das franzoͤſiſche Wort Main-
tien
ausdruͤkt, die charakteriſtiſche Art, wie ein Menſch
bey den verſchiedenen Stellungen und Gebehrden
ſich traͤgt, oder haͤlt. Faſt alle Arten des ſittlichen
Charakters koͤnnen, bey jeder Art der Stellung und
Gebehrdung, ſchon durch die Haltung des Koͤrpers
[Spaltenumbruch]

Hal
ausgedruͤkt werden; das Aug des Kenners entdekt
darin Unſchuld oder Frechheit, Guͤte der Seele oder
Haͤrtigkeit des Herzens, edles oder niedriges Weſen.
Die Haltung iſt gleichſam der Ton der Stellung und
der Gebehrden; denn wie einerley Worte, durch
den Ton in dem ſie geſagt werden, von ganz ver-
ſchiedener Kraft ſeyn koͤnnen, ſo koͤnnen auch einer-
ley Gebehrden durch die Haltung einen verſchiedenen
Charakter bekommen. So unmoͤglich es auch iſt,
das was zur Haltung gehoͤrt, zu beſchreiben, ſo
klar und gewiß iſt doch ihre Wuͤrkung auf den feinen
Kenner. Sie iſt eines der Mittel, wodurch die
Seele ſichtbar gemacht wird.

Jn den zeichnenden Kuͤnſten, im Schauſpiel,
im Tanz und auch in dem Vortrag der Rede, iſt ſie
von der groͤßten Wichtigkeit, weil ſie uns ofte Dinge
empfinden laͤßt, die uns durch kein anderes Mittel
empfindbar koͤnnten gemacht werden. Es war die
Haltung, aus welcher nach Virgils Beobachtung
Aeneas die Venus erkannte: Inceſſu patuit Dea;
und ſo kennet man den Apollo im Belvedere fuͤr den
Gott des Lichts. Jn Raphaels Geſchichte der Pſyche
erſcheinet dieſe Braut des Amors mehr als einmal
in einer Haltung, die uns ein hoͤchſt naives und lie-
benswuͤrdiges Weſen in ihrem Charakter lebhaft
empfinden laͤßt. Jn den zeichnenden Kuͤnſten iſt die
Vollkommenheit der Haltung das Hoͤchſte der Kunſt,
weil ſie den Figuren das Leben giebt, und durch die-
ſes Leben die Seele ſichtbar macht. Jn den mimi-
ſchen Kuͤnſten iſt es die Haltung allein, die uns an-
ſtatt des Schauſpielers oder Taͤnzers die Perſonen
ſelbſt, die ſie vorſtellen, vors Geſicht bringt und die
hoͤchſte Taͤuſchung bewuͤrkt; in dem Vortrag der
Rede aber koͤnnte ſie allein, wenn auch die Worte
unvernehmlich waͤren, die Ueberzeugung bewuͤrken.

Aber dieſer Theil der Kunſt liegt ganz außer der
Kunſt; nicht der Kuͤnſtler, ſondern der Menſch von
empfindſamer Seele, der jede Aeuſſerung des un-
ſichtbaren Weſens, das den Koͤrper belebt, vermag
zu bemerken und an ſich ſelbſt zu empfinden, ſieht
den Charakter und den beſonderen, aus der Em-
pfindung entſtehenden, inneren Zuſtand des Men-
ſchen in der Haltung des Leibes. Nicht darum,
weil Phidias ein Bildhauer war, konnten die Grie-
chen etwas von der Majeſtaͤt der Gottheit in dem
Bilde ſeines Jupiters fuͤhlen, ſondern darum, weil
er ſeine Seele zur Empfindung der Hoheit des goͤtt-
lichen Weſens erheben konnte. So zeiget ein Gar-

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[506/0518] Hal Hal Halbſchatten. (Mahlerey.) Dieſes Wort wird in der Mahlerey gebraucht, aber nicht allemal in dem eigentlichen, ihm zukommen- den Sinn. Nach ſeiner wahren Bedeutung muß es bey der Farbengebung von den Stellen gebraucht werden, wo die eigenthuͤmliche Farbe der Koͤrper, aus Mangel des vollen Lichts, etwas dunkeler wird, als ſie da iſt, wo das ganze Licht auffaͤllt. Wenn ein an der Sonne liegender Koͤrper einen Theil ſeiner Flaͤche der Sonne gerade zukehret, daß alle Strahlen ſenkrecht, oder beynahe ſo darauf fallen, ſo erſcheinet auf dieſer Stelle des Koͤrpers ſeine ei- genthuͤmliche Farbe in vollem Lichte; die Theile, die von der Sonne weggekehrt ſind, auf die folglich gar kein Sonnenſtrahl fallen kann, ſind im voͤlligen Schatten; die Stellen aber, wo das Licht ſchief auffaͤllt, die von demſelben nur geſtreift werden, haben ein merklich vermindertes Sonnenlicht, folg- lich wird die eigenthuͤmliche Farbe weniger hell. Weil die Farbe weder das volle Licht hat, noch in vollem Schatten liegt, ſo giebt man dieſer Ver- minderung der Helligkeit der eigenthuͤmlichen Farbe den Namen des Halbſchattens. Die Verdunklung der eigenthuͤmlichen Farbe kann durch Beymiſchung einer dunkeln Farb in die Helle, und alſo durch das Brechen der Farben erhalten werden, deswegen haben einige das Wort Halbſchatten uͤberhaupt von den gebrochenen Farben gebraucht. Andre haben uͤberhaupt die Mittelfarben Halbſchatten ge- nennt, weil die Verdunklung der hellen Farbe des vollen Lichtes auch durch ganze Mittelfarben kann erhalten werden. Hieraus laͤßt ſich begreifen, wo- her die Ungewißheit und Verwirrung in Anſehung der Bedeutung des Worts entſtanden iſt, uͤber wel- che der Hr. von Hagedorn, in ſeinen Betrachtungen uͤber die Mahlerey, ſich beklagt. (*) (*) S. 681. Haltung des Koͤrpers. (Schoͤne Kuͤnſte.) Wir verſtehen hier durch dieſes Wort das, was man gemeiniglich durch das franzoͤſiſche Wort Main- tien ausdruͤkt, die charakteriſtiſche Art, wie ein Menſch bey den verſchiedenen Stellungen und Gebehrden ſich traͤgt, oder haͤlt. Faſt alle Arten des ſittlichen Charakters koͤnnen, bey jeder Art der Stellung und Gebehrdung, ſchon durch die Haltung des Koͤrpers ausgedruͤkt werden; das Aug des Kenners entdekt darin Unſchuld oder Frechheit, Guͤte der Seele oder Haͤrtigkeit des Herzens, edles oder niedriges Weſen. Die Haltung iſt gleichſam der Ton der Stellung und der Gebehrden; denn wie einerley Worte, durch den Ton in dem ſie geſagt werden, von ganz ver- ſchiedener Kraft ſeyn koͤnnen, ſo koͤnnen auch einer- ley Gebehrden durch die Haltung einen verſchiedenen Charakter bekommen. So unmoͤglich es auch iſt, das was zur Haltung gehoͤrt, zu beſchreiben, ſo klar und gewiß iſt doch ihre Wuͤrkung auf den feinen Kenner. Sie iſt eines der Mittel, wodurch die Seele ſichtbar gemacht wird. Jn den zeichnenden Kuͤnſten, im Schauſpiel, im Tanz und auch in dem Vortrag der Rede, iſt ſie von der groͤßten Wichtigkeit, weil ſie uns ofte Dinge empfinden laͤßt, die uns durch kein anderes Mittel empfindbar koͤnnten gemacht werden. Es war die Haltung, aus welcher nach Virgils Beobachtung Aeneas die Venus erkannte: Inceſſu patuit Dea; und ſo kennet man den Apollo im Belvedere fuͤr den Gott des Lichts. Jn Raphaels Geſchichte der Pſyche erſcheinet dieſe Braut des Amors mehr als einmal in einer Haltung, die uns ein hoͤchſt naives und lie- benswuͤrdiges Weſen in ihrem Charakter lebhaft empfinden laͤßt. Jn den zeichnenden Kuͤnſten iſt die Vollkommenheit der Haltung das Hoͤchſte der Kunſt, weil ſie den Figuren das Leben giebt, und durch die- ſes Leben die Seele ſichtbar macht. Jn den mimi- ſchen Kuͤnſten iſt es die Haltung allein, die uns an- ſtatt des Schauſpielers oder Taͤnzers die Perſonen ſelbſt, die ſie vorſtellen, vors Geſicht bringt und die hoͤchſte Taͤuſchung bewuͤrkt; in dem Vortrag der Rede aber koͤnnte ſie allein, wenn auch die Worte unvernehmlich waͤren, die Ueberzeugung bewuͤrken. Aber dieſer Theil der Kunſt liegt ganz außer der Kunſt; nicht der Kuͤnſtler, ſondern der Menſch von empfindſamer Seele, der jede Aeuſſerung des un- ſichtbaren Weſens, das den Koͤrper belebt, vermag zu bemerken und an ſich ſelbſt zu empfinden, ſieht den Charakter und den beſonderen, aus der Em- pfindung entſtehenden, inneren Zuſtand des Men- ſchen in der Haltung des Leibes. Nicht darum, weil Phidias ein Bildhauer war, konnten die Grie- chen etwas von der Majeſtaͤt der Gottheit in dem Bilde ſeines Jupiters fuͤhlen, ſondern darum, weil er ſeine Seele zur Empfindung der Hoheit des goͤtt- lichen Weſens erheben konnte. So zeiget ein Gar- rik

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/518>, abgerufen am 22.11.2024.