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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Har
wegen zu wünschen, daß die Art zu studiren, die
ehedem gewöhnlich war, da man die Schüler in al-
len möglichen Künsteleyen der Harmonie übte, nicht
ganz abkommen möge. Durch diesen Weg sind
Händel und Graun groß worden, und durch die
Verabsäumung desselben sind andre, die vielleicht
eben so großes Genie zur Musik gehabt haben, als
diese, weit hinter ihnen zurüke geblieben.

Die Wissenschaft der Harmonie ist lange Zeit,
beynahe wie ehedem die geheimen Lehren einiger phi-
losophischen Schulen, nur durch mündliche Ueber-
lieferungen fortgepflanzt worden. Denn was auch
die besten Harmonisten davon geschrieben haben,
enthält kaum die ersten und leichtesten Anfänge der
Kunst. Es scheinet auch, daß die größten Meister
die harmonischen Regeln mehr empfunden, als durch
deutliche Einsicht erkennt haben; deswegen sie mehr
durch Beyspiele, als durch Vorschriften, unterrichteten.
Man muß dem Rameau die Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen, daß er der erste gewesen, der diese Wis-
senschaft methodisch vorzutragen unternommen hat.
Wenn also gleich in seinem System über die Har-
monie viel willkührliches ist, und sein Gebäude noch
viel schwache Theile hat, so bleibet ihm dennoch
der Ruhm eines Erfinders. Und nun ist nicht zu
zweifeln, daß die Harmonie nicht allmählig eben
so, wie andre Wissenschaften, in einem gründli-
chen und zusammenhängenden System werde vor-
getragen werden.

Harmonie.
(Mahlerey.)

Es ist eine alte Beobachtung, daß die Farben in
mehr als einer Absicht, den Tönen ähnlich sind.
Man hat hohe und tiefe Farben, wie hohe und tiefe
Töne, und so wie mehrere Töne sich in einen Klang
vereinigen können, in welchem keiner besonders her-
vorsticht, so hat dieses auch bey den Farben statt.
Also ist in den Farben die Harmonie, das Consoni-
ren und Dissoniren von eben der Beschaffenheit, wie
in den Tönen: die Töne consoniren nicht, wenn
man jeden besonders hört und unterscheidet, ob sie
gleich zusammen angeschlagen werden; und die
Farben consoniren nicht, wenn jede das Aug be-
sonders auf sich zieht.

Hieraus läßt sich leicht abnehmen, was man
durch die Harmonie der Farben in einem Gemählde
verstehe. Sie macht, daß eine ganze Masse, sie sey
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Har
hell oder dunkel, ob sie gleich aus unzähligen Far-
ben und Tinten zusammengesetzt ist, in Absicht auf
die Farben, als eine einzige unzertrennliche Masse ins
Auge fällt, so daß keine einzele Stelle darin beson-
ders und für sich hervorsticht. Wenn wir eine
Person ganz roth oder ganz grün gekleidet sehen, so
fällt uns nicht ein zu sagen, daß sie ein vielfar-
biges Kleid anhabe, wenn sie gleich in einem Lichte
steht, wovon einige Stellen ein helles und schönes
Grün, andre ein dunkleres haben, und noch andre
so völlig im Schatten sind, daß man die Farbe
gar nicht mehr unterscheiden kann. Wir urtheilen
dieser großen Verschiedenheit der Farben ungeachtet,
daß die Person durchaus mit einem einfärbigen, grü-
nen Gewand bedekt sey. Dieses ist die höchste Har-
monie der Farben. Sie kann nur in den Gemähl-
den erreicht werden, die aus einer Farbe gemahlt
sind, grau in grau, oder roth in roth, welche Art
zu mahlen die Welschen Chiaroscuro nennen. Wo
man schon Gegenstände von vielerley eigeuthümlichen
oder Localfarben mahlt, da hat zwar diese vollkom-
mene Harmonie nicht statt: nichts desto weniger
sieht man ofte, daß solche Massen, der Mannigfal-
tigkeit der Lokalfarben ungeachtet, dem Auge nur
als eine Masse von Farben in die Augen fallen;
weil keine dieser Farben für sich das Aug besonders
rühret, ob man sie gleich, wenn man sie beson-
ders betrachten will, genau von den übrigen un-
terscheidet.

Die mehr oder weniger vollkommene Vereinigung
aller Farben des Gemähldes, in eine einzige Masse,
macht das Maaß der Harmonie der Farben aus.
Die höchste Harmonie ist nur in dem Einfärbi-
gen, das von einem einzigen Licht erleuchtet wird:
und je näher die Empfindung des Vielfarbigen je-
nem Einfärbigen kommt, je vollkommener ist die
Harmonie.

Man muß aber von der Harmonie der Farben
eben das bemerken, was in der Harmonie der Töne
statt hat. Obgleich nur der Unisonus die vollkom-
mene Harmonie hat, (*) so ist er deswegen nicht die(*) S.
Einklang.

angenehmste Consonanz, sondern nur die volleste.
Die Uebereinstimmung des Mannigfaltigen (*) ist(*) Con-
cordia dis-
cors.

allemal angenehmer, als die noch vollkommnere Ue-
bereinstimmung des Gleichartigen. Wenn also bey
der Mannigfaltigkeit der Farben doch nur ein ein-
ziger Hauptbegriff von Farben erwekt wird, so ist
die Harmonie noch reizender. Darin besteht eigent-

lich

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Har
wegen zu wuͤnſchen, daß die Art zu ſtudiren, die
ehedem gewoͤhnlich war, da man die Schuͤler in al-
len moͤglichen Kuͤnſteleyen der Harmonie uͤbte, nicht
ganz abkommen moͤge. Durch dieſen Weg ſind
Haͤndel und Graun groß worden, und durch die
Verabſaͤumung deſſelben ſind andre, die vielleicht
eben ſo großes Genie zur Muſik gehabt haben, als
dieſe, weit hinter ihnen zuruͤke geblieben.

Die Wiſſenſchaft der Harmonie iſt lange Zeit,
beynahe wie ehedem die geheimen Lehren einiger phi-
loſophiſchen Schulen, nur durch muͤndliche Ueber-
lieferungen fortgepflanzt worden. Denn was auch
die beſten Harmoniſten davon geſchrieben haben,
enthaͤlt kaum die erſten und leichteſten Anfaͤnge der
Kunſt. Es ſcheinet auch, daß die groͤßten Meiſter
die harmoniſchen Regeln mehr empfunden, als durch
deutliche Einſicht erkennt haben; deswegen ſie mehr
durch Beyſpiele, als durch Vorſchriften, unterrichteten.
Man muß dem Rameau die Gerechtigkeit widerfah-
ren laſſen, daß er der erſte geweſen, der dieſe Wiſ-
ſenſchaft methodiſch vorzutragen unternommen hat.
Wenn alſo gleich in ſeinem Syſtem uͤber die Har-
monie viel willkuͤhrliches iſt, und ſein Gebaͤude noch
viel ſchwache Theile hat, ſo bleibet ihm dennoch
der Ruhm eines Erfinders. Und nun iſt nicht zu
zweifeln, daß die Harmonie nicht allmaͤhlig eben
ſo, wie andre Wiſſenſchaften, in einem gruͤndli-
chen und zuſammenhaͤngenden Syſtem werde vor-
getragen werden.

Harmonie.
(Mahlerey.)

Es iſt eine alte Beobachtung, daß die Farben in
mehr als einer Abſicht, den Toͤnen aͤhnlich ſind.
Man hat hohe und tiefe Farben, wie hohe und tiefe
Toͤne, und ſo wie mehrere Toͤne ſich in einen Klang
vereinigen koͤnnen, in welchem keiner beſonders her-
vorſticht, ſo hat dieſes auch bey den Farben ſtatt.
Alſo iſt in den Farben die Harmonie, das Conſoni-
ren und Diſſoniren von eben der Beſchaffenheit, wie
in den Toͤnen: die Toͤne conſoniren nicht, wenn
man jeden beſonders hoͤrt und unterſcheidet, ob ſie
gleich zuſammen angeſchlagen werden; und die
Farben conſoniren nicht, wenn jede das Aug be-
ſonders auf ſich zieht.

Hieraus laͤßt ſich leicht abnehmen, was man
durch die Harmonie der Farben in einem Gemaͤhlde
verſtehe. Sie macht, daß eine ganze Maſſe, ſie ſey
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Har
hell oder dunkel, ob ſie gleich aus unzaͤhligen Far-
ben und Tinten zuſammengeſetzt iſt, in Abſicht auf
die Farben, als eine einzige unzertrennliche Maſſe ins
Auge faͤllt, ſo daß keine einzele Stelle darin beſon-
ders und fuͤr ſich hervorſticht. Wenn wir eine
Perſon ganz roth oder ganz gruͤn gekleidet ſehen, ſo
faͤllt uns nicht ein zu ſagen, daß ſie ein vielfar-
biges Kleid anhabe, wenn ſie gleich in einem Lichte
ſteht, wovon einige Stellen ein helles und ſchoͤnes
Gruͤn, andre ein dunkleres haben, und noch andre
ſo voͤllig im Schatten ſind, daß man die Farbe
gar nicht mehr unterſcheiden kann. Wir urtheilen
dieſer großen Verſchiedenheit der Farben ungeachtet,
daß die Perſon durchaus mit einem einfaͤrbigen, gruͤ-
nen Gewand bedekt ſey. Dieſes iſt die hoͤchſte Har-
monie der Farben. Sie kann nur in den Gemaͤhl-
den erreicht werden, die aus einer Farbe gemahlt
ſind, grau in grau, oder roth in roth, welche Art
zu mahlen die Welſchen Chiaroſcuro nennen. Wo
man ſchon Gegenſtaͤnde von vielerley eigeuthuͤmlichen
oder Localfarben mahlt, da hat zwar dieſe vollkom-
mene Harmonie nicht ſtatt: nichts deſto weniger
ſieht man ofte, daß ſolche Maſſen, der Mannigfal-
tigkeit der Lokalfarben ungeachtet, dem Auge nur
als eine Maſſe von Farben in die Augen fallen;
weil keine dieſer Farben fuͤr ſich das Aug beſonders
ruͤhret, ob man ſie gleich, wenn man ſie beſon-
ders betrachten will, genau von den uͤbrigen un-
terſcheidet.

Die mehr oder weniger vollkommene Vereinigung
aller Farben des Gemaͤhldes, in eine einzige Maſſe,
macht das Maaß der Harmonie der Farben aus.
Die hoͤchſte Harmonie iſt nur in dem Einfaͤrbi-
gen, das von einem einzigen Licht erleuchtet wird:
und je naͤher die Empfindung des Vielfarbigen je-
nem Einfaͤrbigen kommt, je vollkommener iſt die
Harmonie.

Man muß aber von der Harmonie der Farben
eben das bemerken, was in der Harmonie der Toͤne
ſtatt hat. Obgleich nur der Uniſonus die vollkom-
mene Harmonie hat, (*) ſo iſt er deswegen nicht die(*) S.
Einklang.

angenehmſte Conſonanz, ſondern nur die volleſte.
Die Uebereinſtimmung des Mannigfaltigen (*) iſt(*) Con-
cordia dis-
cors.

allemal angenehmer, als die noch vollkommnere Ue-
bereinſtimmung des Gleichartigen. Wenn alſo bey
der Mannigfaltigkeit der Farben doch nur ein ein-
ziger Hauptbegriff von Farben erwekt wird, ſo iſt
die Harmonie noch reizender. Darin beſteht eigent-

lich
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[516/0528] Har Har wegen zu wuͤnſchen, daß die Art zu ſtudiren, die ehedem gewoͤhnlich war, da man die Schuͤler in al- len moͤglichen Kuͤnſteleyen der Harmonie uͤbte, nicht ganz abkommen moͤge. Durch dieſen Weg ſind Haͤndel und Graun groß worden, und durch die Verabſaͤumung deſſelben ſind andre, die vielleicht eben ſo großes Genie zur Muſik gehabt haben, als dieſe, weit hinter ihnen zuruͤke geblieben. Die Wiſſenſchaft der Harmonie iſt lange Zeit, beynahe wie ehedem die geheimen Lehren einiger phi- loſophiſchen Schulen, nur durch muͤndliche Ueber- lieferungen fortgepflanzt worden. Denn was auch die beſten Harmoniſten davon geſchrieben haben, enthaͤlt kaum die erſten und leichteſten Anfaͤnge der Kunſt. Es ſcheinet auch, daß die groͤßten Meiſter die harmoniſchen Regeln mehr empfunden, als durch deutliche Einſicht erkennt haben; deswegen ſie mehr durch Beyſpiele, als durch Vorſchriften, unterrichteten. Man muß dem Rameau die Gerechtigkeit widerfah- ren laſſen, daß er der erſte geweſen, der dieſe Wiſ- ſenſchaft methodiſch vorzutragen unternommen hat. Wenn alſo gleich in ſeinem Syſtem uͤber die Har- monie viel willkuͤhrliches iſt, und ſein Gebaͤude noch viel ſchwache Theile hat, ſo bleibet ihm dennoch der Ruhm eines Erfinders. Und nun iſt nicht zu zweifeln, daß die Harmonie nicht allmaͤhlig eben ſo, wie andre Wiſſenſchaften, in einem gruͤndli- chen und zuſammenhaͤngenden Syſtem werde vor- getragen werden. Harmonie. (Mahlerey.) Es iſt eine alte Beobachtung, daß die Farben in mehr als einer Abſicht, den Toͤnen aͤhnlich ſind. Man hat hohe und tiefe Farben, wie hohe und tiefe Toͤne, und ſo wie mehrere Toͤne ſich in einen Klang vereinigen koͤnnen, in welchem keiner beſonders her- vorſticht, ſo hat dieſes auch bey den Farben ſtatt. Alſo iſt in den Farben die Harmonie, das Conſoni- ren und Diſſoniren von eben der Beſchaffenheit, wie in den Toͤnen: die Toͤne conſoniren nicht, wenn man jeden beſonders hoͤrt und unterſcheidet, ob ſie gleich zuſammen angeſchlagen werden; und die Farben conſoniren nicht, wenn jede das Aug be- ſonders auf ſich zieht. Hieraus laͤßt ſich leicht abnehmen, was man durch die Harmonie der Farben in einem Gemaͤhlde verſtehe. Sie macht, daß eine ganze Maſſe, ſie ſey hell oder dunkel, ob ſie gleich aus unzaͤhligen Far- ben und Tinten zuſammengeſetzt iſt, in Abſicht auf die Farben, als eine einzige unzertrennliche Maſſe ins Auge faͤllt, ſo daß keine einzele Stelle darin beſon- ders und fuͤr ſich hervorſticht. Wenn wir eine Perſon ganz roth oder ganz gruͤn gekleidet ſehen, ſo faͤllt uns nicht ein zu ſagen, daß ſie ein vielfar- biges Kleid anhabe, wenn ſie gleich in einem Lichte ſteht, wovon einige Stellen ein helles und ſchoͤnes Gruͤn, andre ein dunkleres haben, und noch andre ſo voͤllig im Schatten ſind, daß man die Farbe gar nicht mehr unterſcheiden kann. Wir urtheilen dieſer großen Verſchiedenheit der Farben ungeachtet, daß die Perſon durchaus mit einem einfaͤrbigen, gruͤ- nen Gewand bedekt ſey. Dieſes iſt die hoͤchſte Har- monie der Farben. Sie kann nur in den Gemaͤhl- den erreicht werden, die aus einer Farbe gemahlt ſind, grau in grau, oder roth in roth, welche Art zu mahlen die Welſchen Chiaroſcuro nennen. Wo man ſchon Gegenſtaͤnde von vielerley eigeuthuͤmlichen oder Localfarben mahlt, da hat zwar dieſe vollkom- mene Harmonie nicht ſtatt: nichts deſto weniger ſieht man ofte, daß ſolche Maſſen, der Mannigfal- tigkeit der Lokalfarben ungeachtet, dem Auge nur als eine Maſſe von Farben in die Augen fallen; weil keine dieſer Farben fuͤr ſich das Aug beſonders ruͤhret, ob man ſie gleich, wenn man ſie beſon- ders betrachten will, genau von den uͤbrigen un- terſcheidet. Die mehr oder weniger vollkommene Vereinigung aller Farben des Gemaͤhldes, in eine einzige Maſſe, macht das Maaß der Harmonie der Farben aus. Die hoͤchſte Harmonie iſt nur in dem Einfaͤrbi- gen, das von einem einzigen Licht erleuchtet wird: und je naͤher die Empfindung des Vielfarbigen je- nem Einfaͤrbigen kommt, je vollkommener iſt die Harmonie. Man muß aber von der Harmonie der Farben eben das bemerken, was in der Harmonie der Toͤne ſtatt hat. Obgleich nur der Uniſonus die vollkom- mene Harmonie hat, (*) ſo iſt er deswegen nicht die angenehmſte Conſonanz, ſondern nur die volleſte. Die Uebereinſtimmung des Mannigfaltigen (*) iſt allemal angenehmer, als die noch vollkommnere Ue- bereinſtimmung des Gleichartigen. Wenn alſo bey der Mannigfaltigkeit der Farben doch nur ein ein- ziger Hauptbegriff von Farben erwekt wird, ſo iſt die Harmonie noch reizender. Darin beſteht eigent- lich (*) S. Einklang. (*) Con- cordia dis- cors.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/528>, abgerufen am 22.11.2024.