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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Har
den und seine Umrisse schlängelnd gemacht habe, und
daß dieses vom Gefühl der Harmonie hergekommen sey.
Jn den meisten antiken Formen zeiget sich dieses
ebenfalls. Aber es ist nicht so zu verstehen, als
wenn jeder Umriß den höchsten Grad des sanften
und weichen haben müßte; denn dieses würde ofte
dem Ganzen die Kraft benehmen. Der Grad des
Harmonischen in den Umrissen muß dem Charakter
der Gegenstände selbst angemessen seyn. Die weib-
liche Gestalt erfodert eine vollkommnere Harmonie,
als die männliche, und einen ähnlichen Unterschied
muß der Zeichner in jeder Art der Formen zu beob-
achten wissen.

Noch ist eine andre Harmonie der Zeichnung so
nothwendig, daß sie nie kann übertrieben werden,
weil sie allezeit den höchsten Grad haben sollte. Die-
ses ist die Harmonie der Theile, in so fern sie zum
Charakter der Dinge gehören. Was dieses sagen
wolle, kann am deutlichsten am Portrait erklärt
werden. Der Charakter einer Person zeiget sich
nicht blos im Gesichte, sondern auch in der ganzen
Haltung und Bewegung des Körpers; und im Ge-
sichte zeiget er sich in allen Theilen zugleich. Der
Mund lacht nicht allein, sondern auch die Augen,
die Stirn und die Rase lachen; jeder Theil nach
seiner Art. Die Uebereinstimmung oder Harmonie
der Theile zum Ausdruk ein und eben desselben Cha-
rakters ist ein höchst wichtiger Theil der Zeichnung.
Der Portraitmahler würde ein seltsames Werk ma-
chen, wenn er bey einem Sitzen die Augen, bey
einem andern die Nase, und bey einem dritten den
Mund mahlen wollte, die Person aber, die er mahlt
bey jedem Sitzen in einem besondern Gemüthszu-
stand wäre; da würde die Harmonie der Zeichnung
ganz wegfallen und das Werk müßte nothwendig
schlecht werden.

Aus einem ähnlichen Grunde muß es der Harmo-
nie der Zeichnung schädlich seyn, wenn der Künst-
ler sein Werk nicht in einerley Gemüthsverfassung
zeichnet. Wenn er einmal verdrießlich und ein an-
dermal fröhlich ist, so wird er auch in beyden Fäl-
len seinem Werk einen Anstrich seiner Laune geben.
Also dienet es sehr zur Harmonie der Zeichnung,
wenn sie in einem Feuer und in einer Gemüths-
fassung durchaus vollendet wird.

Die Harmonie der Rede wird im Artikel Wol-
klang in Betrachtung gezogen werden.

[Spaltenumbruch]
Har
Harmonik.
(Musik.)

Sie ist der Theil der theoretischen Musik, der die
brauchbaren Töne und ihr Verhältnis gegen einan-
der fest setzet. Wenn die Harmonik vollständig ab-
gehandelt werden soll, so muß sie folgende Theile
enthalten. Erstlich die Theorie des Klanges über-
haupt, worüber der Artikel Klang nach zu sehen
ist. Zweytens die Festsetzung des Systems, oder
der Reyhe der Töne, die man in der Musik brau-
chet; wovon in den Artikeln, System und Tempera-
tur, gesprochen wird. Drittens muß sie aus dem
gegebenen System die verschiedenen Töne und Ton-
arten
bestimmen, auch die Jntervalle, die in jeder
Tonart vorkommen, genau anzeigen. Viertens
müssen alle brauchbaren Accorde jeder Tonart ange-
zeiget, und der Grad des Consonirens oder Dissoni-
rens derselben richtig angegeben werden. Fünftens
muß sie den Gebrauch und die Behandlung der
Dissonanzen lehren; und endlich sechstens das, was
bey der Modulation nothwendig zu beobachten ist,
vortragen.

Es ist zu beklagen, daß dieser Theil der Theorie bis
itzt noch so unvollkommen vorgetragen ist. Man sieht
aus den Werken der besten Tonsetzer, daß sie alles, was
zur Harmonik gehört, sehr gut gewußt haben: aber
sie begnügen sich insgemein ihre Wissenschaft blos
in der Anwendung zu zeigen, und scheinen ein
Vergnügen daran zu haben, andern die mühsame
Arbeit zu machen, die Wissenschaft der Harmonie
aus ihren Tonstüken heraus zu ziehen. Dadurch
wird das Studium der Harmonik erstaunlich mühe-
sam, das itzt sehr leicht seyn würde, wenn Män-
ner wie Händel, Bach oder Graun, so eyfrig wie
Rameau und einige andre seiner Landsleute gewe-
sen wären, die Wissenschaft der Harmonie metho-
disch vorzutragen. Jn Deutschland fehlet es mehr,
als irgendwo, an guten Werken über diesen Theil
der Theorie.

Harmonische Theilung.
(Musik.)

Es ist schon anderswo (*) erinnert worden, daß(*) Art.
Arithmeti-
sche Thei-
lung.

man in der Musik die größern Jntervalle auf zweyer-
ley Weise in kleinere theilen könne, entweder durch
die arithmetische, oder durch die harmonische Theilung.
Jene ist an ihrem Ort erklärt worden. Die Regel

der

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Har
den und ſeine Umriſſe ſchlaͤngelnd gemacht habe, und
daß dieſes vom Gefuͤhl der Harmonie hergekommen ſey.
Jn den meiſten antiken Formen zeiget ſich dieſes
ebenfalls. Aber es iſt nicht ſo zu verſtehen, als
wenn jeder Umriß den hoͤchſten Grad des ſanften
und weichen haben muͤßte; denn dieſes wuͤrde ofte
dem Ganzen die Kraft benehmen. Der Grad des
Harmoniſchen in den Umriſſen muß dem Charakter
der Gegenſtaͤnde ſelbſt angemeſſen ſeyn. Die weib-
liche Geſtalt erfodert eine vollkommnere Harmonie,
als die maͤnnliche, und einen aͤhnlichen Unterſchied
muß der Zeichner in jeder Art der Formen zu beob-
achten wiſſen.

Noch iſt eine andre Harmonie der Zeichnung ſo
nothwendig, daß ſie nie kann uͤbertrieben werden,
weil ſie allezeit den hoͤchſten Grad haben ſollte. Die-
ſes iſt die Harmonie der Theile, in ſo fern ſie zum
Charakter der Dinge gehoͤren. Was dieſes ſagen
wolle, kann am deutlichſten am Portrait erklaͤrt
werden. Der Charakter einer Perſon zeiget ſich
nicht blos im Geſichte, ſondern auch in der ganzen
Haltung und Bewegung des Koͤrpers; und im Ge-
ſichte zeiget er ſich in allen Theilen zugleich. Der
Mund lacht nicht allein, ſondern auch die Augen,
die Stirn und die Raſe lachen; jeder Theil nach
ſeiner Art. Die Uebereinſtimmung oder Harmonie
der Theile zum Ausdruk ein und eben deſſelben Cha-
rakters iſt ein hoͤchſt wichtiger Theil der Zeichnung.
Der Portraitmahler wuͤrde ein ſeltſames Werk ma-
chen, wenn er bey einem Sitzen die Augen, bey
einem andern die Naſe, und bey einem dritten den
Mund mahlen wollte, die Perſon aber, die er mahlt
bey jedem Sitzen in einem beſondern Gemuͤthszu-
ſtand waͤre; da wuͤrde die Harmonie der Zeichnung
ganz wegfallen und das Werk muͤßte nothwendig
ſchlecht werden.

Aus einem aͤhnlichen Grunde muß es der Harmo-
nie der Zeichnung ſchaͤdlich ſeyn, wenn der Kuͤnſt-
ler ſein Werk nicht in einerley Gemuͤthsverfaſſung
zeichnet. Wenn er einmal verdrießlich und ein an-
dermal froͤhlich iſt, ſo wird er auch in beyden Faͤl-
len ſeinem Werk einen Anſtrich ſeiner Laune geben.
Alſo dienet es ſehr zur Harmonie der Zeichnung,
wenn ſie in einem Feuer und in einer Gemuͤths-
faſſung durchaus vollendet wird.

Die Harmonie der Rede wird im Artikel Wol-
klang in Betrachtung gezogen werden.

[Spaltenumbruch]
Har
Harmonik.
(Muſik.)

Sie iſt der Theil der theoretiſchen Muſik, der die
brauchbaren Toͤne und ihr Verhaͤltnis gegen einan-
der feſt ſetzet. Wenn die Harmonik vollſtaͤndig ab-
gehandelt werden ſoll, ſo muß ſie folgende Theile
enthalten. Erſtlich die Theorie des Klanges uͤber-
haupt, woruͤber der Artikel Klang nach zu ſehen
iſt. Zweytens die Feſtſetzung des Syſtems, oder
der Reyhe der Toͤne, die man in der Muſik brau-
chet; wovon in den Artikeln, Syſtem und Tempera-
tur, geſprochen wird. Drittens muß ſie aus dem
gegebenen Syſtem die verſchiedenen Toͤne und Ton-
arten
beſtimmen, auch die Jntervalle, die in jeder
Tonart vorkommen, genau anzeigen. Viertens
muͤſſen alle brauchbaren Accorde jeder Tonart ange-
zeiget, und der Grad des Conſonirens oder Diſſoni-
rens derſelben richtig angegeben werden. Fuͤnftens
muß ſie den Gebrauch und die Behandlung der
Diſſonanzen lehren; und endlich ſechſtens das, was
bey der Modulation nothwendig zu beobachten iſt,
vortragen.

Es iſt zu beklagen, daß dieſer Theil der Theorie bis
itzt noch ſo unvollkommen vorgetragen iſt. Man ſieht
aus den Werken der beſten Tonſetzer, daß ſie alles, was
zur Harmonik gehoͤrt, ſehr gut gewußt haben: aber
ſie begnuͤgen ſich insgemein ihre Wiſſenſchaft blos
in der Anwendung zu zeigen, und ſcheinen ein
Vergnuͤgen daran zu haben, andern die muͤhſame
Arbeit zu machen, die Wiſſenſchaft der Harmonie
aus ihren Tonſtuͤken heraus zu ziehen. Dadurch
wird das Studium der Harmonik erſtaunlich muͤhe-
ſam, das itzt ſehr leicht ſeyn wuͤrde, wenn Maͤn-
ner wie Haͤndel, Bach oder Graun, ſo eyfrig wie
Rameau und einige andre ſeiner Landsleute gewe-
ſen waͤren, die Wiſſenſchaft der Harmonie metho-
diſch vorzutragen. Jn Deutſchland fehlet es mehr,
als irgendwo, an guten Werken uͤber dieſen Theil
der Theorie.

Harmoniſche Theilung.
(Muſik.)

Es iſt ſchon anderswo (*) erinnert worden, daß(*) Art.
Arithmeti-
ſche Thei-
lung.

man in der Muſik die groͤßern Jntervalle auf zweyer-
ley Weiſe in kleinere theilen koͤnne, entweder durch
die arithmetiſche, oder durch die harmoniſche Theilung.
Jene iſt an ihrem Ort erklaͤrt worden. Die Regel

der
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[518/0530] Har Har den und ſeine Umriſſe ſchlaͤngelnd gemacht habe, und daß dieſes vom Gefuͤhl der Harmonie hergekommen ſey. Jn den meiſten antiken Formen zeiget ſich dieſes ebenfalls. Aber es iſt nicht ſo zu verſtehen, als wenn jeder Umriß den hoͤchſten Grad des ſanften und weichen haben muͤßte; denn dieſes wuͤrde ofte dem Ganzen die Kraft benehmen. Der Grad des Harmoniſchen in den Umriſſen muß dem Charakter der Gegenſtaͤnde ſelbſt angemeſſen ſeyn. Die weib- liche Geſtalt erfodert eine vollkommnere Harmonie, als die maͤnnliche, und einen aͤhnlichen Unterſchied muß der Zeichner in jeder Art der Formen zu beob- achten wiſſen. Noch iſt eine andre Harmonie der Zeichnung ſo nothwendig, daß ſie nie kann uͤbertrieben werden, weil ſie allezeit den hoͤchſten Grad haben ſollte. Die- ſes iſt die Harmonie der Theile, in ſo fern ſie zum Charakter der Dinge gehoͤren. Was dieſes ſagen wolle, kann am deutlichſten am Portrait erklaͤrt werden. Der Charakter einer Perſon zeiget ſich nicht blos im Geſichte, ſondern auch in der ganzen Haltung und Bewegung des Koͤrpers; und im Ge- ſichte zeiget er ſich in allen Theilen zugleich. Der Mund lacht nicht allein, ſondern auch die Augen, die Stirn und die Raſe lachen; jeder Theil nach ſeiner Art. Die Uebereinſtimmung oder Harmonie der Theile zum Ausdruk ein und eben deſſelben Cha- rakters iſt ein hoͤchſt wichtiger Theil der Zeichnung. Der Portraitmahler wuͤrde ein ſeltſames Werk ma- chen, wenn er bey einem Sitzen die Augen, bey einem andern die Naſe, und bey einem dritten den Mund mahlen wollte, die Perſon aber, die er mahlt bey jedem Sitzen in einem beſondern Gemuͤthszu- ſtand waͤre; da wuͤrde die Harmonie der Zeichnung ganz wegfallen und das Werk muͤßte nothwendig ſchlecht werden. Aus einem aͤhnlichen Grunde muß es der Harmo- nie der Zeichnung ſchaͤdlich ſeyn, wenn der Kuͤnſt- ler ſein Werk nicht in einerley Gemuͤthsverfaſſung zeichnet. Wenn er einmal verdrießlich und ein an- dermal froͤhlich iſt, ſo wird er auch in beyden Faͤl- len ſeinem Werk einen Anſtrich ſeiner Laune geben. Alſo dienet es ſehr zur Harmonie der Zeichnung, wenn ſie in einem Feuer und in einer Gemuͤths- faſſung durchaus vollendet wird. Die Harmonie der Rede wird im Artikel Wol- klang in Betrachtung gezogen werden. Harmonik. (Muſik.) Sie iſt der Theil der theoretiſchen Muſik, der die brauchbaren Toͤne und ihr Verhaͤltnis gegen einan- der feſt ſetzet. Wenn die Harmonik vollſtaͤndig ab- gehandelt werden ſoll, ſo muß ſie folgende Theile enthalten. Erſtlich die Theorie des Klanges uͤber- haupt, woruͤber der Artikel Klang nach zu ſehen iſt. Zweytens die Feſtſetzung des Syſtems, oder der Reyhe der Toͤne, die man in der Muſik brau- chet; wovon in den Artikeln, Syſtem und Tempera- tur, geſprochen wird. Drittens muß ſie aus dem gegebenen Syſtem die verſchiedenen Toͤne und Ton- arten beſtimmen, auch die Jntervalle, die in jeder Tonart vorkommen, genau anzeigen. Viertens muͤſſen alle brauchbaren Accorde jeder Tonart ange- zeiget, und der Grad des Conſonirens oder Diſſoni- rens derſelben richtig angegeben werden. Fuͤnftens muß ſie den Gebrauch und die Behandlung der Diſſonanzen lehren; und endlich ſechſtens das, was bey der Modulation nothwendig zu beobachten iſt, vortragen. Es iſt zu beklagen, daß dieſer Theil der Theorie bis itzt noch ſo unvollkommen vorgetragen iſt. Man ſieht aus den Werken der beſten Tonſetzer, daß ſie alles, was zur Harmonik gehoͤrt, ſehr gut gewußt haben: aber ſie begnuͤgen ſich insgemein ihre Wiſſenſchaft blos in der Anwendung zu zeigen, und ſcheinen ein Vergnuͤgen daran zu haben, andern die muͤhſame Arbeit zu machen, die Wiſſenſchaft der Harmonie aus ihren Tonſtuͤken heraus zu ziehen. Dadurch wird das Studium der Harmonik erſtaunlich muͤhe- ſam, das itzt ſehr leicht ſeyn wuͤrde, wenn Maͤn- ner wie Haͤndel, Bach oder Graun, ſo eyfrig wie Rameau und einige andre ſeiner Landsleute gewe- ſen waͤren, die Wiſſenſchaft der Harmonie metho- diſch vorzutragen. Jn Deutſchland fehlet es mehr, als irgendwo, an guten Werken uͤber dieſen Theil der Theorie. Harmoniſche Theilung. (Muſik.) Es iſt ſchon anderswo (*) erinnert worden, daß man in der Muſik die groͤßern Jntervalle auf zweyer- ley Weiſe in kleinere theilen koͤnne, entweder durch die arithmetiſche, oder durch die harmoniſche Theilung. Jene iſt an ihrem Ort erklaͤrt worden. Die Regel der (*) Art. Arithmeti- ſche Thei- lung.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/530>, abgerufen am 22.11.2024.