Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Hau
sehr vielerley Fälle vor, wozu eine feine Beurthei-
lung nöthig ist. Darüber kann der Begleiter in
Hr. Bachs zweyten Theil der Anleitung zur wahren
Kunst das Clavier zu spielen den besten Unterricht
finden.

Hauptsatz.
(Musik.)

Jst in einem Tonstük eine Periode, welche den Aus-
druk und das ganze Wesen der Melodie in sich be-
greift, und nicht nur gleich anfangs vorkömmt, son-
dern durch das ganze Tonstük ofte, in verschiedenen
Tönen, und mit verschiedenen Veränderungen, wie-
derholt wird. Der Hauptsatz wird insgemein das
Thema genennt; und Mattheson vergleicht ihn nicht
ganz unrecht mit dem Text einer Predigt, der in
wenig Worten das enthalten muß, was in der Ab-
handlung ausführlicher entwikelt wird.

Die Musik ist eigentlich die Sprache der Empfin-
dung, deren Ausdruk allezeit kurz ist, weil die Em-
pfindung an sich selbst etwas einfaches ist, das sich
durch wenig Aeusserungen an den Tag leget. Des-
wegen kann ein sehr kurzer melodischer Satz, von
zwey, drey oder vier Takten eine Empfindung so be-
stimmt und richtig ausdruken, daß der Zuhörer ganz
genau den Gemüthszustand der singenden Person
daraus erkennt. Wenn also ein Tonstük nichts an-
deres zur Absicht hätte, als eine Empfindung be-
stimmt an den Tag zu legen, so wär ein solcher kur-
zer Satz, wenn er glüklich ausgedacht wäre, dazu
hinlänglich. Aber dieses ist nicht die Absicht der
Musik; sie soll dienen den Zuhörer eine Zeitlang in
demselben Gemüthszustande zu unterhalten. Dieses
kann durch bloße Wiederholung desselben Satzes, so
fürtreflich er sonst ist, nicht geschehen; weil die Wie-
derholung derselben Sache langweilig ist und die
Aufmerksamkeit gleich zu Boden schlägt. Also mußte
man eine Art des Gesanges erfinden, in welchem ein
und eben dieselbe Empfindung, mit gehöriger Ab-
wechslung und in verschiedenen Modificationen, so
ofte konnte wiederholt werden, bis sie den gehörigen
Eindruk gemacht haben würde.

Daher ist die Form der meisten in der heutigen
Musik üblichen Tonstüke entstanden, der Concerte,
der Symphonien, Arien, Duette, Trio, Fugen
u. a. Sie kommen alle darin überein, daß in einem
Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Em-
pfindung angemessene Periode, als der Hauptsatz
[Spaltenumbruch]

Hau
zum Grund gelegt wird; daß dieser Hauptsatz durch
kleinere Zwischengedanken die sich zu ihm schiken, un-
terstützt, oder auch unterbrochen wird; daß der
Hauptsatz mit diesen Zwischengedanken in verschiede-
nen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen
melodischen Verändrungen, die dem Hauptausdruk
angemessen sind, so ofte wiederholt wird, bis das
Gemüth des Zuhörers hinlänglich von der Empfin-
dung eingenommen ist, und dieselbe gleichsam von
allen Seiten her empfunden hat.

Bey allen diesen Stüken macht der Hauptsatz
immer das Wesentlichste der ganzen Sach aus: seine
Erfindung ist das Werk des Genies; die Ausführung
aber ein Werk des Geschmaks und der Kunst. Jst
der Tonsetzer in dem Hauptsatz nicht glüklich gewe-
sen, so kann er, wenn er sonst die Kunst wol ver-
steht, ein sehr regelmäßiges und sehr künstliches,
auch vollkommen wolklingendes Stük machen; aber
es wird ihm an der wahren Kraft, dauerhafte Em-
pfindungen zu erweken, fehlen.

Die vornehmste Eigenschaft des Hauptsatzes ist
eine hinlängliche Deutlichkeit oder Verständlichkeit
des Ausdruks, so daß der, welcher den Hauptsatz
gehört hat, ohne Ungewißheit so gleich diese Sprache
des Herzens verstehe, oder sich in die Empfindung
dessen, der singet, setzen könne. Jst die Empfindung
nicht völlig bestimmt und verständlich, so kann das
Stük nie ein ganz vollkommenes Tonstük werden,
wenn es auch von dem ersten Tonsetzer der Welt
ausgeführt würde. Diese Verständlichkeit hängt
so wol von dem Gesang oder der melodischen Fort-
schreitung, als von der Bewegung und dem Takt
ab, und ist, wie gesagt, gänzlich das Werk des Ge-
nies, zu dessen Erfindung keine Regel kann gege-
ben werden.

Jndessen ist das Genie allein nicht hinreichend
dem Hauptsatz alle Vollkommenheit zu geben, auch
die Kunst muß das Jhrige dabey thun; denn alle Ei-
genschaften, die nicht unmittelbar zum Verstand
des Ausdruks gehören, hangen eigentlich von der
Kunst ab. Der Hauptsatz muß eine gewisse Länge
haben: ist er zu kurz, so verträgt er die nöthigen
Veränderungen und die zu den Wiederholungen er-
foderliche Mannigfaltigkeit der Wendungen nicht;
ist er zu lang, so bleibet er im Ganzen nicht deut-
lich genug im Gedächtnis. Er kann also in ge-
schwinder Bewegung nicht wol unter zwey, und in
langsamer Bewegung nicht wol über vier Takte

seyn.

[Spaltenumbruch]

Hau
ſehr vielerley Faͤlle vor, wozu eine feine Beurthei-
lung noͤthig iſt. Daruͤber kann der Begleiter in
Hr. Bachs zweyten Theil der Anleitung zur wahren
Kunſt das Clavier zu ſpielen den beſten Unterricht
finden.

Hauptſatz.
(Muſik.)

Jſt in einem Tonſtuͤk eine Periode, welche den Aus-
druk und das ganze Weſen der Melodie in ſich be-
greift, und nicht nur gleich anfangs vorkoͤmmt, ſon-
dern durch das ganze Tonſtuͤk ofte, in verſchiedenen
Toͤnen, und mit verſchiedenen Veraͤnderungen, wie-
derholt wird. Der Hauptſatz wird insgemein das
Thema genennt; und Mattheſon vergleicht ihn nicht
ganz unrecht mit dem Text einer Predigt, der in
wenig Worten das enthalten muß, was in der Ab-
handlung ausfuͤhrlicher entwikelt wird.

Die Muſik iſt eigentlich die Sprache der Empfin-
dung, deren Ausdruk allezeit kurz iſt, weil die Em-
pfindung an ſich ſelbſt etwas einfaches iſt, das ſich
durch wenig Aeuſſerungen an den Tag leget. Des-
wegen kann ein ſehr kurzer melodiſcher Satz, von
zwey, drey oder vier Takten eine Empfindung ſo be-
ſtimmt und richtig ausdruken, daß der Zuhoͤrer ganz
genau den Gemuͤthszuſtand der ſingenden Perſon
daraus erkennt. Wenn alſo ein Tonſtuͤk nichts an-
deres zur Abſicht haͤtte, als eine Empfindung be-
ſtimmt an den Tag zu legen, ſo waͤr ein ſolcher kur-
zer Satz, wenn er gluͤklich ausgedacht waͤre, dazu
hinlaͤnglich. Aber dieſes iſt nicht die Abſicht der
Muſik; ſie ſoll dienen den Zuhoͤrer eine Zeitlang in
demſelben Gemuͤthszuſtande zu unterhalten. Dieſes
kann durch bloße Wiederholung deſſelben Satzes, ſo
fuͤrtreflich er ſonſt iſt, nicht geſchehen; weil die Wie-
derholung derſelben Sache langweilig iſt und die
Aufmerkſamkeit gleich zu Boden ſchlaͤgt. Alſo mußte
man eine Art des Geſanges erfinden, in welchem ein
und eben dieſelbe Empfindung, mit gehoͤriger Ab-
wechslung und in verſchiedenen Modificationen, ſo
ofte konnte wiederholt werden, bis ſie den gehoͤrigen
Eindruk gemacht haben wuͤrde.

Daher iſt die Form der meiſten in der heutigen
Muſik uͤblichen Tonſtuͤke entſtanden, der Concerte,
der Symphonien, Arien, Duette, Trio, Fugen
u. a. Sie kommen alle darin uͤberein, daß in einem
Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Em-
pfindung angemeſſene Periode, als der Hauptſatz
[Spaltenumbruch]

Hau
zum Grund gelegt wird; daß dieſer Hauptſatz durch
kleinere Zwiſchengedanken die ſich zu ihm ſchiken, un-
terſtuͤtzt, oder auch unterbrochen wird; daß der
Hauptſatz mit dieſen Zwiſchengedanken in verſchiede-
nen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen
melodiſchen Veraͤndrungen, die dem Hauptausdruk
angemeſſen ſind, ſo ofte wiederholt wird, bis das
Gemuͤth des Zuhoͤrers hinlaͤnglich von der Empfin-
dung eingenommen iſt, und dieſelbe gleichſam von
allen Seiten her empfunden hat.

Bey allen dieſen Stuͤken macht der Hauptſatz
immer das Weſentlichſte der ganzen Sach aus: ſeine
Erfindung iſt das Werk des Genies; die Ausfuͤhrung
aber ein Werk des Geſchmaks und der Kunſt. Jſt
der Tonſetzer in dem Hauptſatz nicht gluͤklich gewe-
ſen, ſo kann er, wenn er ſonſt die Kunſt wol ver-
ſteht, ein ſehr regelmaͤßiges und ſehr kuͤnſtliches,
auch vollkommen wolklingendes Stuͤk machen; aber
es wird ihm an der wahren Kraft, dauerhafte Em-
pfindungen zu erweken, fehlen.

Die vornehmſte Eigenſchaft des Hauptſatzes iſt
eine hinlaͤngliche Deutlichkeit oder Verſtaͤndlichkeit
des Ausdruks, ſo daß der, welcher den Hauptſatz
gehoͤrt hat, ohne Ungewißheit ſo gleich dieſe Sprache
des Herzens verſtehe, oder ſich in die Empfindung
deſſen, der ſinget, ſetzen koͤnne. Jſt die Empfindung
nicht voͤllig beſtimmt und verſtaͤndlich, ſo kann das
Stuͤk nie ein ganz vollkommenes Tonſtuͤk werden,
wenn es auch von dem erſten Tonſetzer der Welt
ausgefuͤhrt wuͤrde. Dieſe Verſtaͤndlichkeit haͤngt
ſo wol von dem Geſang oder der melodiſchen Fort-
ſchreitung, als von der Bewegung und dem Takt
ab, und iſt, wie geſagt, gaͤnzlich das Werk des Ge-
nies, zu deſſen Erfindung keine Regel kann gege-
ben werden.

Jndeſſen iſt das Genie allein nicht hinreichend
dem Hauptſatz alle Vollkommenheit zu geben, auch
die Kunſt muß das Jhrige dabey thun; denn alle Ei-
genſchaften, die nicht unmittelbar zum Verſtand
des Ausdruks gehoͤren, hangen eigentlich von der
Kunſt ab. Der Hauptſatz muß eine gewiſſe Laͤnge
haben: iſt er zu kurz, ſo vertraͤgt er die noͤthigen
Veraͤnderungen und die zu den Wiederholungen er-
foderliche Mannigfaltigkeit der Wendungen nicht;
iſt er zu lang, ſo bleibet er im Ganzen nicht deut-
lich genug im Gedaͤchtnis. Er kann alſo in ge-
ſchwinder Bewegung nicht wol unter zwey, und in
langſamer Bewegung nicht wol uͤber vier Takte

ſeyn.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0534" n="522"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hau</hi></fw><lb/>
&#x017F;ehr vielerley Fa&#x0364;lle vor, wozu eine feine Beurthei-<lb/>
lung no&#x0364;thig i&#x017F;t. Daru&#x0364;ber kann der Begleiter in<lb/>
Hr. Bachs zweyten Theil der Anleitung zur wahren<lb/>
Kun&#x017F;t das Clavier zu &#x017F;pielen den be&#x017F;ten Unterricht<lb/>
finden.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Haupt&#x017F;atz.</hi><lb/>
(Mu&#x017F;ik.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>&#x017F;t in einem Ton&#x017F;tu&#x0364;k eine Periode, welche den Aus-<lb/>
druk und das ganze We&#x017F;en der Melodie in &#x017F;ich be-<lb/>
greift, und nicht nur gleich anfangs vorko&#x0364;mmt, &#x017F;on-<lb/>
dern durch das ganze Ton&#x017F;tu&#x0364;k ofte, in ver&#x017F;chiedenen<lb/>
To&#x0364;nen, und mit ver&#x017F;chiedenen Vera&#x0364;nderungen, wie-<lb/>
derholt wird. Der Haupt&#x017F;atz wird insgemein das<lb/><hi rendition="#fr">Thema</hi> genennt; und Matthe&#x017F;on vergleicht ihn nicht<lb/>
ganz unrecht mit dem Text einer Predigt, der in<lb/>
wenig Worten das enthalten muß, was in der Ab-<lb/>
handlung ausfu&#x0364;hrlicher entwikelt wird.</p><lb/>
          <p>Die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t eigentlich die Sprache der Empfin-<lb/>
dung, deren Ausdruk allezeit kurz i&#x017F;t, weil die Em-<lb/>
pfindung an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t etwas einfaches i&#x017F;t, das &#x017F;ich<lb/>
durch wenig Aeu&#x017F;&#x017F;erungen an den Tag leget. Des-<lb/>
wegen kann ein &#x017F;ehr kurzer melodi&#x017F;cher Satz, von<lb/>
zwey, drey oder vier Takten eine Empfindung &#x017F;o be-<lb/>
&#x017F;timmt und richtig ausdruken, daß der Zuho&#x0364;rer ganz<lb/>
genau den Gemu&#x0364;thszu&#x017F;tand der &#x017F;ingenden Per&#x017F;on<lb/>
daraus erkennt. Wenn al&#x017F;o ein Ton&#x017F;tu&#x0364;k nichts an-<lb/>
deres zur Ab&#x017F;icht ha&#x0364;tte, als eine Empfindung be-<lb/>
&#x017F;timmt an den Tag zu legen, &#x017F;o wa&#x0364;r ein &#x017F;olcher kur-<lb/>
zer Satz, wenn er glu&#x0364;klich ausgedacht wa&#x0364;re, dazu<lb/>
hinla&#x0364;nglich. Aber die&#x017F;es i&#x017F;t nicht die Ab&#x017F;icht der<lb/>
Mu&#x017F;ik; &#x017F;ie &#x017F;oll dienen den Zuho&#x0364;rer eine Zeitlang in<lb/>
dem&#x017F;elben Gemu&#x0364;thszu&#x017F;tande zu unterhalten. Die&#x017F;es<lb/>
kann durch bloße Wiederholung de&#x017F;&#x017F;elben Satzes, &#x017F;o<lb/>
fu&#x0364;rtreflich er &#x017F;on&#x017F;t i&#x017F;t, nicht ge&#x017F;chehen; weil die Wie-<lb/>
derholung der&#x017F;elben Sache langweilig i&#x017F;t und die<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit gleich zu Boden &#x017F;chla&#x0364;gt. Al&#x017F;o mußte<lb/>
man eine Art des Ge&#x017F;anges erfinden, in welchem ein<lb/>
und eben die&#x017F;elbe Empfindung, mit geho&#x0364;riger Ab-<lb/>
wechslung und in ver&#x017F;chiedenen Modificationen, &#x017F;o<lb/>
ofte konnte wiederholt werden, bis &#x017F;ie den geho&#x0364;rigen<lb/>
Eindruk gemacht haben wu&#x0364;rde.</p><lb/>
          <p>Daher i&#x017F;t die Form der mei&#x017F;ten in der heutigen<lb/>
Mu&#x017F;ik u&#x0364;blichen Ton&#x017F;tu&#x0364;ke ent&#x017F;tanden, der Concerte,<lb/>
der Symphonien, Arien, Duette, Trio, Fugen<lb/>
u. a. Sie kommen alle darin u&#x0364;berein, daß in einem<lb/>
Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Em-<lb/>
pfindung angeme&#x017F;&#x017F;ene Periode, als der Haupt&#x017F;atz<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hau</hi></fw><lb/>
zum Grund gelegt wird; daß die&#x017F;er Haupt&#x017F;atz durch<lb/>
kleinere Zwi&#x017F;chengedanken die &#x017F;ich zu ihm &#x017F;chiken, un-<lb/>
ter&#x017F;tu&#x0364;tzt, oder auch unterbrochen wird; daß der<lb/>
Haupt&#x017F;atz mit die&#x017F;en Zwi&#x017F;chengedanken in ver&#x017F;chiede-<lb/>
nen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen<lb/>
melodi&#x017F;chen Vera&#x0364;ndrungen, die dem Hauptausdruk<lb/>
angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind, &#x017F;o ofte wiederholt wird, bis das<lb/>
Gemu&#x0364;th des Zuho&#x0364;rers hinla&#x0364;nglich von der Empfin-<lb/>
dung eingenommen i&#x017F;t, und die&#x017F;elbe gleich&#x017F;am von<lb/>
allen Seiten her empfunden hat.</p><lb/>
          <p>Bey allen die&#x017F;en Stu&#x0364;ken macht der Haupt&#x017F;atz<lb/>
immer das We&#x017F;entlich&#x017F;te der ganzen Sach aus: &#x017F;eine<lb/>
Erfindung i&#x017F;t das Werk des Genies; die Ausfu&#x0364;hrung<lb/>
aber ein Werk des Ge&#x017F;chmaks und der Kun&#x017F;t. J&#x017F;t<lb/>
der Ton&#x017F;etzer in dem Haupt&#x017F;atz nicht glu&#x0364;klich gewe-<lb/>
&#x017F;en, &#x017F;o kann er, wenn er &#x017F;on&#x017F;t die Kun&#x017F;t wol ver-<lb/>
&#x017F;teht, ein &#x017F;ehr regelma&#x0364;ßiges und &#x017F;ehr ku&#x0364;n&#x017F;tliches,<lb/>
auch vollkommen wolklingendes Stu&#x0364;k machen; aber<lb/>
es wird ihm an der wahren Kraft, dauerhafte Em-<lb/>
pfindungen zu erweken, fehlen.</p><lb/>
          <p>Die vornehm&#x017F;te Eigen&#x017F;chaft des Haupt&#x017F;atzes i&#x017F;t<lb/>
eine hinla&#x0364;ngliche Deutlichkeit oder Ver&#x017F;ta&#x0364;ndlichkeit<lb/>
des Ausdruks, &#x017F;o daß der, welcher den Haupt&#x017F;atz<lb/>
geho&#x0364;rt hat, ohne Ungewißheit &#x017F;o gleich die&#x017F;e Sprache<lb/>
des Herzens ver&#x017F;tehe, oder &#x017F;ich in die Empfindung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en, der &#x017F;inget, &#x017F;etzen ko&#x0364;nne. J&#x017F;t die Empfindung<lb/>
nicht vo&#x0364;llig be&#x017F;timmt und ver&#x017F;ta&#x0364;ndlich, &#x017F;o kann das<lb/>
Stu&#x0364;k nie ein ganz vollkommenes Ton&#x017F;tu&#x0364;k werden,<lb/>
wenn es auch von dem er&#x017F;ten Ton&#x017F;etzer der Welt<lb/>
ausgefu&#x0364;hrt wu&#x0364;rde. Die&#x017F;e Ver&#x017F;ta&#x0364;ndlichkeit ha&#x0364;ngt<lb/>
&#x017F;o wol von dem Ge&#x017F;ang oder der melodi&#x017F;chen Fort-<lb/>
&#x017F;chreitung, als von der Bewegung und dem Takt<lb/>
ab, und i&#x017F;t, wie ge&#x017F;agt, ga&#x0364;nzlich das Werk des Ge-<lb/>
nies, zu de&#x017F;&#x017F;en Erfindung keine Regel kann gege-<lb/>
ben werden.</p><lb/>
          <p>Jnde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t das Genie allein nicht hinreichend<lb/>
dem Haupt&#x017F;atz alle Vollkommenheit zu geben, auch<lb/>
die Kun&#x017F;t muß das Jhrige dabey thun; denn alle Ei-<lb/>
gen&#x017F;chaften, die nicht unmittelbar zum Ver&#x017F;tand<lb/>
des Ausdruks geho&#x0364;ren, hangen eigentlich von der<lb/>
Kun&#x017F;t ab. Der Haupt&#x017F;atz muß eine gewi&#x017F;&#x017F;e La&#x0364;nge<lb/>
haben: i&#x017F;t er zu kurz, &#x017F;o vertra&#x0364;gt er die no&#x0364;thigen<lb/>
Vera&#x0364;nderungen und die zu den Wiederholungen er-<lb/>
foderliche Mannigfaltigkeit der Wendungen nicht;<lb/>
i&#x017F;t er zu lang, &#x017F;o bleibet er im Ganzen nicht deut-<lb/>
lich genug im Geda&#x0364;chtnis. Er kann al&#x017F;o in ge-<lb/>
&#x017F;chwinder Bewegung nicht wol unter zwey, und in<lb/>
lang&#x017F;amer Bewegung nicht wol u&#x0364;ber vier Takte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;eyn.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[522/0534] Hau Hau ſehr vielerley Faͤlle vor, wozu eine feine Beurthei- lung noͤthig iſt. Daruͤber kann der Begleiter in Hr. Bachs zweyten Theil der Anleitung zur wahren Kunſt das Clavier zu ſpielen den beſten Unterricht finden. Hauptſatz. (Muſik.) Jſt in einem Tonſtuͤk eine Periode, welche den Aus- druk und das ganze Weſen der Melodie in ſich be- greift, und nicht nur gleich anfangs vorkoͤmmt, ſon- dern durch das ganze Tonſtuͤk ofte, in verſchiedenen Toͤnen, und mit verſchiedenen Veraͤnderungen, wie- derholt wird. Der Hauptſatz wird insgemein das Thema genennt; und Mattheſon vergleicht ihn nicht ganz unrecht mit dem Text einer Predigt, der in wenig Worten das enthalten muß, was in der Ab- handlung ausfuͤhrlicher entwikelt wird. Die Muſik iſt eigentlich die Sprache der Empfin- dung, deren Ausdruk allezeit kurz iſt, weil die Em- pfindung an ſich ſelbſt etwas einfaches iſt, das ſich durch wenig Aeuſſerungen an den Tag leget. Des- wegen kann ein ſehr kurzer melodiſcher Satz, von zwey, drey oder vier Takten eine Empfindung ſo be- ſtimmt und richtig ausdruken, daß der Zuhoͤrer ganz genau den Gemuͤthszuſtand der ſingenden Perſon daraus erkennt. Wenn alſo ein Tonſtuͤk nichts an- deres zur Abſicht haͤtte, als eine Empfindung be- ſtimmt an den Tag zu legen, ſo waͤr ein ſolcher kur- zer Satz, wenn er gluͤklich ausgedacht waͤre, dazu hinlaͤnglich. Aber dieſes iſt nicht die Abſicht der Muſik; ſie ſoll dienen den Zuhoͤrer eine Zeitlang in demſelben Gemuͤthszuſtande zu unterhalten. Dieſes kann durch bloße Wiederholung deſſelben Satzes, ſo fuͤrtreflich er ſonſt iſt, nicht geſchehen; weil die Wie- derholung derſelben Sache langweilig iſt und die Aufmerkſamkeit gleich zu Boden ſchlaͤgt. Alſo mußte man eine Art des Geſanges erfinden, in welchem ein und eben dieſelbe Empfindung, mit gehoͤriger Ab- wechslung und in verſchiedenen Modificationen, ſo ofte konnte wiederholt werden, bis ſie den gehoͤrigen Eindruk gemacht haben wuͤrde. Daher iſt die Form der meiſten in der heutigen Muſik uͤblichen Tonſtuͤke entſtanden, der Concerte, der Symphonien, Arien, Duette, Trio, Fugen u. a. Sie kommen alle darin uͤberein, daß in einem Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Em- pfindung angemeſſene Periode, als der Hauptſatz zum Grund gelegt wird; daß dieſer Hauptſatz durch kleinere Zwiſchengedanken die ſich zu ihm ſchiken, un- terſtuͤtzt, oder auch unterbrochen wird; daß der Hauptſatz mit dieſen Zwiſchengedanken in verſchiede- nen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen melodiſchen Veraͤndrungen, die dem Hauptausdruk angemeſſen ſind, ſo ofte wiederholt wird, bis das Gemuͤth des Zuhoͤrers hinlaͤnglich von der Empfin- dung eingenommen iſt, und dieſelbe gleichſam von allen Seiten her empfunden hat. Bey allen dieſen Stuͤken macht der Hauptſatz immer das Weſentlichſte der ganzen Sach aus: ſeine Erfindung iſt das Werk des Genies; die Ausfuͤhrung aber ein Werk des Geſchmaks und der Kunſt. Jſt der Tonſetzer in dem Hauptſatz nicht gluͤklich gewe- ſen, ſo kann er, wenn er ſonſt die Kunſt wol ver- ſteht, ein ſehr regelmaͤßiges und ſehr kuͤnſtliches, auch vollkommen wolklingendes Stuͤk machen; aber es wird ihm an der wahren Kraft, dauerhafte Em- pfindungen zu erweken, fehlen. Die vornehmſte Eigenſchaft des Hauptſatzes iſt eine hinlaͤngliche Deutlichkeit oder Verſtaͤndlichkeit des Ausdruks, ſo daß der, welcher den Hauptſatz gehoͤrt hat, ohne Ungewißheit ſo gleich dieſe Sprache des Herzens verſtehe, oder ſich in die Empfindung deſſen, der ſinget, ſetzen koͤnne. Jſt die Empfindung nicht voͤllig beſtimmt und verſtaͤndlich, ſo kann das Stuͤk nie ein ganz vollkommenes Tonſtuͤk werden, wenn es auch von dem erſten Tonſetzer der Welt ausgefuͤhrt wuͤrde. Dieſe Verſtaͤndlichkeit haͤngt ſo wol von dem Geſang oder der melodiſchen Fort- ſchreitung, als von der Bewegung und dem Takt ab, und iſt, wie geſagt, gaͤnzlich das Werk des Ge- nies, zu deſſen Erfindung keine Regel kann gege- ben werden. Jndeſſen iſt das Genie allein nicht hinreichend dem Hauptſatz alle Vollkommenheit zu geben, auch die Kunſt muß das Jhrige dabey thun; denn alle Ei- genſchaften, die nicht unmittelbar zum Verſtand des Ausdruks gehoͤren, hangen eigentlich von der Kunſt ab. Der Hauptſatz muß eine gewiſſe Laͤnge haben: iſt er zu kurz, ſo vertraͤgt er die noͤthigen Veraͤnderungen und die zu den Wiederholungen er- foderliche Mannigfaltigkeit der Wendungen nicht; iſt er zu lang, ſo bleibet er im Ganzen nicht deut- lich genug im Gedaͤchtnis. Er kann alſo in ge- ſchwinder Bewegung nicht wol unter zwey, und in langſamer Bewegung nicht wol uͤber vier Takte ſeyn.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/534
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/534>, abgerufen am 15.05.2024.