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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Zeit, und in der Menge der Geschäfte. Eine Hand-
lung von einem einzigen Tag, kann größer seyn,
als eine von vielen Jahren. Es kömmt darauf
an, daß vielerley Menschen auf eine intressante Weise
ihre Kräfte und ihr Genie dabey üben, und so ent-
wikeln können, daß sie sich uns in ihrem vollen
Lichte zeigen.

Die epische Behandlung des Stoffs, in so fern
sie von der historischen verschieden ist, verdienet be-
sonders in Betrachtung gezogen zu werden. Die
Absicht des Geschichtschreibers ist zu unterrichten:
darum verfährt er so, als wenn die, für welche er
schreibt, noch nichts von der Sache wüßten. Der
Dichter kann aber schon voraussetzen, daß seinem Le-
ser die Geschichte der Handlung bekannt sey. Sein
Endzwek ist nur, das, wovon wir bereits historisch
unterrichtet sind, uns so vorzuzeichnen, wie es uns
am lebhaftesten rühret. Darum kann er ohne Vor-
bereitung mitten in seine Materie hereintreten.
Wir wissen überhaupt schon, daß die Sachen, die er
uns erzählt, geschehen sind; die Hauptumstände sind
uns bereits bekannt: er sorget also nur dafür, daß
wir alles in dem Gesichtspunkt, in der Ordnung
und in dem Lichte sehen, wie der lebhafteste Eindruk
es erfodert. Darum schildert er alles weit umständ-
licher und lebhafter, als der Geschichtschreiber. Er
berichtet uns nicht überhaupt, und in seiner Sprach,
oder in seinem eigenen Ausdruk, wer die Personen sind,
und was sie geredet und gethan haben, als wenn
die Sachen nun schon lange vorbey wären; sondern
er führet uns jede vor Augen, daß wir uns ein-
bilden sie zu sehen; er läßt sie vor unsern Augen
handeln, daß wir jede Bewegung zu sehen und ihre
Reden selbst zu hören glauben. Bey intressanten
Gegenständen ordnet er, ehe er noch die Perso-
nen handeln läßt, den Ort der Scene, und alles
sichtbare, so an, daß wir nun, ohne die Einbil-
dungskraft weiter anzustrengen, alle Aufmerksamkeit
auf das richten, was geschieht. Hat er uns etwas
zu beschreiben, so wählet er die lebhaftesten Farben,
und wo es nöthig ist, braucht er Gleichnisse über
Gleichnisse, um alles in völligem Leben darstellen.
Das epische Gedicht liegt in der Mitte zwischen der
historischen Erzählung und dem Drama.

Hiezu gehört insbesonder die hervorstechende Schil-
derung der Hauptpersonen und der Hauptsachen,
wodurch der epische Dichter sich vornehmlich unter-
scheidet. Seine vornehmste Absicht ist, uns mit ganz
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Hel
merkwürdigen Personen vollkommen bekannt zu ma-
chen, ihre Sinnesart, ihre Handlungen und Tha-
ten uns ganz in der Nähe sehen zu lassen, und folg-
lich auch die Gegenstände, die auf sie würken, nahe
vor unser Gesicht zu bringen. Nähme man diese
genauen Schilderungen weg, so würde man das
epische Gedicht beynahe zur historischen Erzählung
machen. Sie sind also ein ganz wesentlicher Theil
dieser Dichtungsart; und darin zeiget sich der Dich-
ter fürnehmlich als einen Mann von Genie und
als ein Kenner der Menschen, daß er jede Haupt-
person nach ihrem eigenthümlichen Charakter und
besonderer Gemüthsart, nach ihrem Temperament
und ihren eigenen Grundsätzen handeln läßt. Wir
lernen die Personen nicht durch Beschreibungen ihrer
Gemüthsart, sondern durch ihre Handlungen und
Reden kennen. So sind die Schilderungen der Hel-
den, die Homer aufführet. Jeder hat seinen beson-
dern persönlichen Charakter und sein von allen an-
dern ausgezeichnetes Genie, die sich bey jeder Ge-
legenheit, es sey durch Reden, oder Handlungen, auf
das deutlichste zeigen. Jeder bleibet durch die ganze
Handlung, und bey so vielfältigen Geiegenheiten, sich
so vollkommen gleich, daß man ihn so gleich er-
kennt; weil man alles, was er spricht und thut, kei-
nem andern, als ihm selbst zuschreiben könnte.

Es ist unnöthig zu erinnern, daß ausnehmende
und seltene Beurtheilungskraft, Kenntnis des Men-
schen, und ein Genie, das sich nach jeder Form bil-
den kann, hiezu erfodert werden. Der Dichter muß
aus eigener Erfahrung die verschiedene Gemüthsar-
ten, Grundsätze und Maximen der Menschen kennen;
dann muß er jeder den natürlichsten Anstrich des
Nationalcharakters, des Zeitalters und der Sitten,
dahin er seine Personen versetzt, zu geben wissen.
Er muß also, wenn er seine Handlung in entfernte
Zeiten oder Länder setzet, mit verflossenen Weltal-
tern, mit fremden, oder nicht mehr vorhandenen
Sitten, eben so genau bekannt seyn, als mit de-
nen, die er vor sich sieht. Und damit jeder Cha-
rakter sich hinlänglich entwikle, muß er die Hand-
lung selbst so einzurichten wissen, daß jede Haupt-
person in mannigfaltige Situationen komme; daß
sie wichtigere und geringere Geschäfte habe; itzt
ihre eigenen Entwürfe ausführe; dann andre unter-
stütze oder hindere.

Hiezu kömmt noch, daß alle diese Personen nicht
nach dem gemeinen Maaße der menschlichen Natur,

son-

[Spaltenumbruch]

Hel
Zeit, und in der Menge der Geſchaͤfte. Eine Hand-
lung von einem einzigen Tag, kann groͤßer ſeyn,
als eine von vielen Jahren. Es koͤmmt darauf
an, daß vielerley Menſchen auf eine intreſſante Weiſe
ihre Kraͤfte und ihr Genie dabey uͤben, und ſo ent-
wikeln koͤnnen, daß ſie ſich uns in ihrem vollen
Lichte zeigen.

Die epiſche Behandlung des Stoffs, in ſo fern
ſie von der hiſtoriſchen verſchieden iſt, verdienet be-
ſonders in Betrachtung gezogen zu werden. Die
Abſicht des Geſchichtſchreibers iſt zu unterrichten:
darum verfaͤhrt er ſo, als wenn die, fuͤr welche er
ſchreibt, noch nichts von der Sache wuͤßten. Der
Dichter kann aber ſchon vorausſetzen, daß ſeinem Le-
ſer die Geſchichte der Handlung bekannt ſey. Sein
Endzwek iſt nur, das, wovon wir bereits hiſtoriſch
unterrichtet ſind, uns ſo vorzuzeichnen, wie es uns
am lebhafteſten ruͤhret. Darum kann er ohne Vor-
bereitung mitten in ſeine Materie hereintreten.
Wir wiſſen uͤberhaupt ſchon, daß die Sachen, die er
uns erzaͤhlt, geſchehen ſind; die Hauptumſtaͤnde ſind
uns bereits bekannt: er ſorget alſo nur dafuͤr, daß
wir alles in dem Geſichtspunkt, in der Ordnung
und in dem Lichte ſehen, wie der lebhafteſte Eindruk
es erfodert. Darum ſchildert er alles weit umſtaͤnd-
licher und lebhafter, als der Geſchichtſchreiber. Er
berichtet uns nicht uͤberhaupt, und in ſeiner Sprach,
oder in ſeinem eigenen Ausdruk, wer die Perſonen ſind,
und was ſie geredet und gethan haben, als wenn
die Sachen nun ſchon lange vorbey waͤren; ſondern
er fuͤhret uns jede vor Augen, daß wir uns ein-
bilden ſie zu ſehen; er laͤßt ſie vor unſern Augen
handeln, daß wir jede Bewegung zu ſehen und ihre
Reden ſelbſt zu hoͤren glauben. Bey intreſſanten
Gegenſtaͤnden ordnet er, ehe er noch die Perſo-
nen handeln laͤßt, den Ort der Scene, und alles
ſichtbare, ſo an, daß wir nun, ohne die Einbil-
dungskraft weiter anzuſtrengen, alle Aufmerkſamkeit
auf das richten, was geſchieht. Hat er uns etwas
zu beſchreiben, ſo waͤhlet er die lebhafteſten Farben,
und wo es noͤthig iſt, braucht er Gleichniſſe uͤber
Gleichniſſe, um alles in voͤlligem Leben darſtellen.
Das epiſche Gedicht liegt in der Mitte zwiſchen der
hiſtoriſchen Erzaͤhlung und dem Drama.

Hiezu gehoͤrt insbeſonder die hervorſtechende Schil-
derung der Hauptperſonen und der Hauptſachen,
wodurch der epiſche Dichter ſich vornehmlich unter-
ſcheidet. Seine vornehmſte Abſicht iſt, uns mit ganz
[Spaltenumbruch]

Hel
merkwuͤrdigen Perſonen vollkommen bekannt zu ma-
chen, ihre Sinnesart, ihre Handlungen und Tha-
ten uns ganz in der Naͤhe ſehen zu laſſen, und folg-
lich auch die Gegenſtaͤnde, die auf ſie wuͤrken, nahe
vor unſer Geſicht zu bringen. Naͤhme man dieſe
genauen Schilderungen weg, ſo wuͤrde man das
epiſche Gedicht beynahe zur hiſtoriſchen Erzaͤhlung
machen. Sie ſind alſo ein ganz weſentlicher Theil
dieſer Dichtungsart; und darin zeiget ſich der Dich-
ter fuͤrnehmlich als einen Mann von Genie und
als ein Kenner der Menſchen, daß er jede Haupt-
perſon nach ihrem eigenthuͤmlichen Charakter und
beſonderer Gemuͤthsart, nach ihrem Temperament
und ihren eigenen Grundſaͤtzen handeln laͤßt. Wir
lernen die Perſonen nicht durch Beſchreibungen ihrer
Gemuͤthsart, ſondern durch ihre Handlungen und
Reden kennen. So ſind die Schilderungen der Hel-
den, die Homer auffuͤhret. Jeder hat ſeinen beſon-
dern perſoͤnlichen Charakter und ſein von allen an-
dern ausgezeichnetes Genie, die ſich bey jeder Ge-
legenheit, es ſey durch Reden, oder Handlungen, auf
das deutlichſte zeigen. Jeder bleibet durch die ganze
Handlung, und bey ſo vielfaͤltigen Geiegenheiten, ſich
ſo vollkommen gleich, daß man ihn ſo gleich er-
kennt; weil man alles, was er ſpricht und thut, kei-
nem andern, als ihm ſelbſt zuſchreiben koͤnnte.

Es iſt unnoͤthig zu erinnern, daß ausnehmende
und ſeltene Beurtheilungskraft, Kenntnis des Men-
ſchen, und ein Genie, das ſich nach jeder Form bil-
den kann, hiezu erfodert werden. Der Dichter muß
aus eigener Erfahrung die verſchiedene Gemuͤthsar-
ten, Grundſaͤtze und Maximen der Menſchen kennen;
dann muß er jeder den natuͤrlichſten Anſtrich des
Nationalcharakters, des Zeitalters und der Sitten,
dahin er ſeine Perſonen verſetzt, zu geben wiſſen.
Er muß alſo, wenn er ſeine Handlung in entfernte
Zeiten oder Laͤnder ſetzet, mit verfloſſenen Weltal-
tern, mit fremden, oder nicht mehr vorhandenen
Sitten, eben ſo genau bekannt ſeyn, als mit de-
nen, die er vor ſich ſieht. Und damit jeder Cha-
rakter ſich hinlaͤnglich entwikle, muß er die Hand-
lung ſelbſt ſo einzurichten wiſſen, daß jede Haupt-
perſon in mannigfaltige Situationen komme; daß
ſie wichtigere und geringere Geſchaͤfte habe; itzt
ihre eigenen Entwuͤrfe ausfuͤhre; dann andre unter-
ſtuͤtze oder hindere.

Hiezu koͤmmt noch, daß alle dieſe Perſonen nicht
nach dem gemeinen Maaße der menſchlichen Natur,

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[530/0542] Hel Hel Zeit, und in der Menge der Geſchaͤfte. Eine Hand- lung von einem einzigen Tag, kann groͤßer ſeyn, als eine von vielen Jahren. Es koͤmmt darauf an, daß vielerley Menſchen auf eine intreſſante Weiſe ihre Kraͤfte und ihr Genie dabey uͤben, und ſo ent- wikeln koͤnnen, daß ſie ſich uns in ihrem vollen Lichte zeigen. Die epiſche Behandlung des Stoffs, in ſo fern ſie von der hiſtoriſchen verſchieden iſt, verdienet be- ſonders in Betrachtung gezogen zu werden. Die Abſicht des Geſchichtſchreibers iſt zu unterrichten: darum verfaͤhrt er ſo, als wenn die, fuͤr welche er ſchreibt, noch nichts von der Sache wuͤßten. Der Dichter kann aber ſchon vorausſetzen, daß ſeinem Le- ſer die Geſchichte der Handlung bekannt ſey. Sein Endzwek iſt nur, das, wovon wir bereits hiſtoriſch unterrichtet ſind, uns ſo vorzuzeichnen, wie es uns am lebhafteſten ruͤhret. Darum kann er ohne Vor- bereitung mitten in ſeine Materie hereintreten. Wir wiſſen uͤberhaupt ſchon, daß die Sachen, die er uns erzaͤhlt, geſchehen ſind; die Hauptumſtaͤnde ſind uns bereits bekannt: er ſorget alſo nur dafuͤr, daß wir alles in dem Geſichtspunkt, in der Ordnung und in dem Lichte ſehen, wie der lebhafteſte Eindruk es erfodert. Darum ſchildert er alles weit umſtaͤnd- licher und lebhafter, als der Geſchichtſchreiber. Er berichtet uns nicht uͤberhaupt, und in ſeiner Sprach, oder in ſeinem eigenen Ausdruk, wer die Perſonen ſind, und was ſie geredet und gethan haben, als wenn die Sachen nun ſchon lange vorbey waͤren; ſondern er fuͤhret uns jede vor Augen, daß wir uns ein- bilden ſie zu ſehen; er laͤßt ſie vor unſern Augen handeln, daß wir jede Bewegung zu ſehen und ihre Reden ſelbſt zu hoͤren glauben. Bey intreſſanten Gegenſtaͤnden ordnet er, ehe er noch die Perſo- nen handeln laͤßt, den Ort der Scene, und alles ſichtbare, ſo an, daß wir nun, ohne die Einbil- dungskraft weiter anzuſtrengen, alle Aufmerkſamkeit auf das richten, was geſchieht. Hat er uns etwas zu beſchreiben, ſo waͤhlet er die lebhafteſten Farben, und wo es noͤthig iſt, braucht er Gleichniſſe uͤber Gleichniſſe, um alles in voͤlligem Leben darſtellen. Das epiſche Gedicht liegt in der Mitte zwiſchen der hiſtoriſchen Erzaͤhlung und dem Drama. Hiezu gehoͤrt insbeſonder die hervorſtechende Schil- derung der Hauptperſonen und der Hauptſachen, wodurch der epiſche Dichter ſich vornehmlich unter- ſcheidet. Seine vornehmſte Abſicht iſt, uns mit ganz merkwuͤrdigen Perſonen vollkommen bekannt zu ma- chen, ihre Sinnesart, ihre Handlungen und Tha- ten uns ganz in der Naͤhe ſehen zu laſſen, und folg- lich auch die Gegenſtaͤnde, die auf ſie wuͤrken, nahe vor unſer Geſicht zu bringen. Naͤhme man dieſe genauen Schilderungen weg, ſo wuͤrde man das epiſche Gedicht beynahe zur hiſtoriſchen Erzaͤhlung machen. Sie ſind alſo ein ganz weſentlicher Theil dieſer Dichtungsart; und darin zeiget ſich der Dich- ter fuͤrnehmlich als einen Mann von Genie und als ein Kenner der Menſchen, daß er jede Haupt- perſon nach ihrem eigenthuͤmlichen Charakter und beſonderer Gemuͤthsart, nach ihrem Temperament und ihren eigenen Grundſaͤtzen handeln laͤßt. Wir lernen die Perſonen nicht durch Beſchreibungen ihrer Gemuͤthsart, ſondern durch ihre Handlungen und Reden kennen. So ſind die Schilderungen der Hel- den, die Homer auffuͤhret. Jeder hat ſeinen beſon- dern perſoͤnlichen Charakter und ſein von allen an- dern ausgezeichnetes Genie, die ſich bey jeder Ge- legenheit, es ſey durch Reden, oder Handlungen, auf das deutlichſte zeigen. Jeder bleibet durch die ganze Handlung, und bey ſo vielfaͤltigen Geiegenheiten, ſich ſo vollkommen gleich, daß man ihn ſo gleich er- kennt; weil man alles, was er ſpricht und thut, kei- nem andern, als ihm ſelbſt zuſchreiben koͤnnte. Es iſt unnoͤthig zu erinnern, daß ausnehmende und ſeltene Beurtheilungskraft, Kenntnis des Men- ſchen, und ein Genie, das ſich nach jeder Form bil- den kann, hiezu erfodert werden. Der Dichter muß aus eigener Erfahrung die verſchiedene Gemuͤthsar- ten, Grundſaͤtze und Maximen der Menſchen kennen; dann muß er jeder den natuͤrlichſten Anſtrich des Nationalcharakters, des Zeitalters und der Sitten, dahin er ſeine Perſonen verſetzt, zu geben wiſſen. Er muß alſo, wenn er ſeine Handlung in entfernte Zeiten oder Laͤnder ſetzet, mit verfloſſenen Weltal- tern, mit fremden, oder nicht mehr vorhandenen Sitten, eben ſo genau bekannt ſeyn, als mit de- nen, die er vor ſich ſieht. Und damit jeder Cha- rakter ſich hinlaͤnglich entwikle, muß er die Hand- lung ſelbſt ſo einzurichten wiſſen, daß jede Haupt- perſon in mannigfaltige Situationen komme; daß ſie wichtigere und geringere Geſchaͤfte habe; itzt ihre eigenen Entwuͤrfe ausfuͤhre; dann andre unter- ſtuͤtze oder hindere. Hiezu koͤmmt noch, daß alle dieſe Perſonen nicht nach dem gemeinen Maaße der menſchlichen Natur, ſon-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/542>, abgerufen am 22.11.2024.